5%-Hürde bei Europawahl verfassungswidrig

Das Bundesverfassungsgericht hat über die 5%-Hürde entschieden. Bei der Europawahl. Und dort hat es die 5%-Hürde für verfassungswidrig erklärt. Die LINKE hatte bereits einen Gesetzentwurf zum Wahlrecht vorgelegt, in welchem die 5%-Hürde abgeschafft werden sollte, er wurde – Überraschung 😉 – nicht von der Mehrheit des Bundestages beschlossen. Die Forderung nach Abschaffung der 5%-Hürde auch bei der Bundestagswahl bleibt aber natürlich richtig.

Das spannende am Urteil des Bundesverfassungsgerichtes sind nicht die bekannten Ausführungen zur Wahlrechtsgleichheit und auch weniger die zur Verletzung selbiger durch die 5%-Hürde. Spannender sind die Ausführungen WARUM das Bundesverfassungsgericht einen Unterschied zwischen Bundestag und Europäischem Parlament meint machen zu müssen. Spannend an dem Urteil ist, ob sich nicht aus den Argumenten gegen die 5%-Hürde bei der Europawahl aufgrund der Arbeitsweise des Europäischen Parlaments auch Anregungen für die Arbeit des Bundestages und damit einer Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie ergeben könnten.

Zunächst werden in dem Urteil die bekannten Ausführungen zur Wahlrechtsgleichheit wiederholt ( jede Stimme soll grundsätzlich gleichen Zählwert und gleiche Erfolgschance haben, jede Stimme soll gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung der zu wählenden Vertretung haben). Danach erfolgt der Hinweis darauf (auch das ist nicht neu), dass die 5%-Hürde eine Ungleichgewichtung der Wähler/innen-Stimmen bewirkt und die Chancengleichheit beeinträchtigt wird. Im weiteren wird darauf hingewiesen, dass die Wahlrechtsgleichheit nicht absolut gilt und auf Grund eines „sachlich legitimierten `zwingenden` Grundes eine Einschränkung erfolgen kann. Ein solcher zwingender Grund ist  -nach ständiger Rechtsprechung-  „die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Eine große Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen.“ Diese Standardargumentation gegen die 5%-Sperrklausel wird auch in politischen Debatten um ihre Abschaffung vorgetragen.

Diese Standardargumentation geht aber aus meiner Sicht fehl. Im Normalfall wird dieser Argumentation damit begegnet, dass sie mit einer These arbeitet, die nicht bewiesen ist. Es gibt nicht wirklich einen Beweis dafür, dass mehr Parteien in Parlamenten die Parlamente handlungsunfähig machen.

Interessant an dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ist, dass es –vermutlich unfreiwillig- den Argumentationsspielraum gegen eine 5%-Sperrklausel noch erweitert. Im Hinblick auf das Europaparlament hat das Bundesverfassungsgericht wie folgt geurteilt:Faktisch kann der Wegfall von Sperrklauseln und äquivalenter Regelungen zwar eine spürbare Zunahme von Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament bewirken (a). Jedoch fehlt es an greifbaren Anhaltspunkten dafür, dass damit strukturelle Veränderungen innerhalb des Parlaments einhergehen, die eine Beeinträchtigung seiner Funktionsfähigkeit hinreichend wahrscheinlich erwarten lassen (b). Durch die europäischen Verträge sind die Aufgaben des Europäischen Parlaments so ausgestaltet, dass es an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln einzugreifen, fehlt (c).“

Das besagt zunächst noch nicht viel, weswegen die weiteren Ausführungen zu beachten sind. Das Bundesverfassungsgericht schreibt: „Es ist nicht erkennbar, dass durch die Zunahme von Parteien mit einem oder zwei Abgeordneten im Europäischen Parlament dessen Funktionsfähigkeit mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit beeinträchtigt würde. […] Zentrale Arbeitseinheiten des Europäischen Parlaments sind die Fraktionen […] Der Umstand, dass das Europäische Parlament, anders als die nationalen Volksvertretungen, nicht durch den Gegensatz zwischen (Regierungs-)Mehrheit und Opposition gekennzeichnet ist, erlaubt den Fraktionen einerseits eine gewisse Offenheit gegenüber den in ihnen gebundenen Abgeordneten, andererseits kommt ihnen dadurch in einem erhöhten Umfang die Aufgabe zu, von Fall zu Fall ihre Mitglieder zu gemeinsamem Vorgehen zu bewegen. […] Die Fraktionen haben es über die Jahre hinweg vermocht […] hinzutretende Parteien zu integrieren. Nach diesen Erfahrungen […] ist jedenfalls grundsätzlich davon auszugehen, dass auch weitere Kleinparteien, die beim Fortfall der Sperrklauseln im Parlament vertreten wären, sich den bestehenden Fraktionen anschließen können. Eine Folge der Aufnahme einer Vielzahl von nationalen Parteien und Abgeordneten unterschiedlicher Herkunft und Tradition ist allerdings, dass die einzelnen Fraktionen im Europäischen Parlament eine große Bandbreite verschiedener politischer Strömungen in sich vereinen. […] Da keine der im Europäischen Parlament vertretenen Parteien oder der dort gebildeten Fraktionen über eine Mehrheit der Abgeordneten verfügt und eine solche Mehrheit auch nicht zu erwarten ist, müssen die Fraktionen zur Mehrheitsgewinnung Absprachen treffen und Bündnisse eingehen. […] Von sachverständiger Seite wurde hervorgehoben, dass es zwischen Fraktionen im Europäischen Parlament keinen Koalitionsvertrag gebe und daher bei jeder Sach- und Personalfrage eine Einigung gefunden werden müsse, […].

Sofort stellen sich ja mehrere Fragen: Muss zwingend der Parlamentarismus in Bund und Land vom Gegensatz zwischen (Regierungs-)Mehrheit und Opposition gekennzeichnet sein? Liegt es nicht an der politischen Kultur in Deutschland, dass es nicht von Fall zu Fall zu gemeinsamem Vorgehen über Fraktionsgrenzen hinaus kommt?  Warum fangen wir (also die Abgeordneten) nicht einfach an, mit dieser Kultur zu brechen? Warum nutzen wir die Ausschüsse und das Parlament nicht als Ort, wo Argumente abgewogen und gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird? Am Ende steht entweder eine Mehrheit der Abgeordneten oder nicht, aber es gibt nicht mehr den Automatismus „kommt von der Opposition, also ablehnen“. Warum soll es nicht möglich sein für jede Sach- und Personalfrage eine Mehrheit zu finden, jenseits von Koalitionsverträgen und der Einordnung in Mehrheits- oder Minderheitsfraktion? Und was ist eigentliche gegen eine größere Bandbreite verschiedener Strömungen in einer Fraktion einzuwenden?

Ob sich das Bundesverfassungsgericht die Fragen gestellt hat, kann ich nicht beantworten. Es scheint jedoch davon auszugehen, dass die –leider- herrschende politische Kultur in deutschen Parlamenten noch 100 Jahre bestehen bleiben wird, wenn es formuliert: „Die Fünf-Prozent-Sperrklausel findet bei der Wahl zum Deutschen Bundestag ihre Rechtfertigung im Wesentlichen darin, dass die Bildung einer stabilen Mehrheit für die Wahl einer handlungsfähigen Regierung und deren fortlaufende Unterstützung  nötig ist […]. Eine vergleichbare Interessenlage besteht auf europäischer Ebene nach den europäischen Verträgen nicht. Das Europäische Parlament wählt keine Unionsregierung, die auf seine fortlaufende Unterstützung angewiesen wäre. Ebenso wenig ist die Gesetzgebung der Union von einer gleichbleibenden Mehrheit im Europäischen Parlament abhängig, die von einer stabilen Koalition bestimmter Fraktionen gebildet würde und der eine Opposition gegenüberstünde.“ Zumindest letzteres Problem könnte man auf der Ebene des Bundestages lösen, wenn einmal darüber nachgedacht werden könnte, dass auf Grund der erzielten Mehrheitsverhältnisse die Regierungsämter besetzt werden und dann eben für jeden Vorschlag eine Mehrheit aus der Mitte des Parlaments gefunden werden muss. Ist natürlich nicht von heute auf morgen zu machen und sicherlich auch ein streitbarer Vorschlag. Eine Debatte darüber mit pro und contra jedoch hätte Charme und es ist ja nicht ausgeschlossen, dass es gute Argumente dagegen gibt.

9 Replies to “5%-Hürde bei Europawahl verfassungswidrig”

  1. Die Abschaffung der 5 %-Hürde kann man begrüßen- allerdings bringt aus linker Sicht das Ergebnis einen einen >trade offwir zahlen nicht für Eure (griechische, irische, portugiesche…) Krise!situatives Regieren<, wie Du es vorstellst; Regieren in einem Nationalstaat ist nun mal etwas Anderes als in einer Mehrebenenstruktur wie der EU, in der mitunter andere Fragen auf dem Spiel stehen.
    Wo ich Dir zustimme: Auch Minderheitsregierungen sollten auch in Deutschland endlich als Normalitt akzeptiert werden- hier in NRW haben ja auch nicht die Kühe aufgehört Milch zu geben, nachdem mit Hanni Kraft vorne dran eine solche Regierung ins Amt gekommen ist.
    Aber: auch bei einer nicht durch Koalitionsvertrag an die zu Hilfe kommenden Oppositionsparteien gebundenen Minderheitsregierung gibt's einen trade off: Denn so musst Du zwar nicht bei jedem Unsinn mitstimmen, kannst aber auch nicht verhindern, dass die Regierung nicht mal mit wem anders unter die Decke kriecht- wie jetzt Rot-Grün mit der CDU, um das gegliederte Schulsystem auf ewig in unsere Landesverfassung zu schreiben…

  2. Warum gehen Sie nicht auf die Frage ein, ob das BVerfG nicht die Sitzneuverteilung oder Neuwahlen hätte anordnen müssen wie ich dies beantragt hatte? M.E. ist die Begründung diesbzgl. extrem dünn und wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass es ein 5:3 Urteil war.

  3. ich sehe ja den unterschied zum regieren im nationalstaat. aber ich finde wir sollten einfach mal einen moment über unsere parlamentarische (un)kultur nachdenken… was spräche denn dagegen (und ich bin wirklich an gegenargumenten interessiert) zu sagen: die ministerposten werden nach dem wahlergebnis vergeben (die stärksten stellen den/die kanzler/in, die zweitstärksten den/die vizekanzler/in) und für jedes konkrete vorhaben sind im parlament die mehrheiten zu suchen… die können dann halt auch wechseln… das wäre doch mal spannend…

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  5. „Es gibt nicht wirklich einen Beweis dafür, dass mehr Parteien in Parlamenten die Parlamente handlungsunfähig machen.“

    Was ist mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik?

    „Muss zwingend der Parlamentarismus in Bund und Land vom Gegensatz zwischen (Regierungs-)Mehrheit und Opposition gekennzeichnet sein?“

    Ja, denn genau das macht die Demokratie aus. Eine von der stärksten Fraktion oder Koalition gewählte Regierung wird durch die Oppositon kontrolliert.

    „Warum nutzen wir die Ausschüsse und das Parlament nicht als Ort, wo Argumente abgewogen und gemeinsam an Lösungen gearbeitet wird?“

    Die Abgeordneten tun dies nicht aus Pflichtvergessenheit. Denn es war und ist sogar die Aufgabe von Abgeordenten genau das zu tun, Argumente abzuwägen und nach dem eigenen Gewissen zu entscheiden. Sie jedoch beugen sich selbst in vorauseilendem oder durch die Fraktion und schlimmer noch durch die Partei erzwungenem Gehorsam und brechen damit das Grundgesetz. Und die Abgeordneten nehmen ihre Aufgabe als Abgeordnete nicht wahr, indem sie sich selbst als den verlängerten Arm der Regierung ansehen und nicht als das, was sie wirklich sind: Die Gesetzgeber. Ihnen mangelt es also an richtigem Rechtsempfinden, der richtigen Rechtsauffassung sowie an der Kenntnis und Funktion der Gewaltenteilung.

    Art 38 GG
    (1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.

  6. Gegen Proporzregierungen spricht vorallem, dass das reinigende Element von Regierungswechseln wegfällt und das System deshalb eine Neigung zur Pfründewirtschaft bekommt. Außerdem gibt es in einer Regierung nie richtigen Proporz, weil die Ämter nicht gleichwertig sind. In Wien ist das z.B. praktisch dahin entartet, dass die Opposition stets Regierungsämter ohne Geschäftsbereich bekommt und damit völlig machtlos bleibt.

    Alternative sind Konkordanzregierungen nach Schweizer Muster, wo die Regierungsämter Verhandlungssache sind und jeder Partei der Weg in die Opposition freisteht, aber generell Konsens und breite Beteiligung angestrebt wird. Ganz ohne Zwang funktioniert sowas aber wohl kaum, weil der Machttrieb derer, die auch allein entscheiden könnten, schnell stärker sein wird. In der Schweiz ist die Motivation vorallem, dass eine starke Minderheit ihre Anliegen oft auch per direkter Demokratie durchsetzen kann und deshalb ohnehin nicht ganz ausgeschaltet werden kann. Ist aber auch eine Frage der politischen Kultur (die sich nie von heute auf morgen völlig verändern wird).

    Wenn Konsens eine stärkere Rolle spielt, wird das System nicht nur durch die fehlenden radikalen Regierungswechsel konservativer (im eigentlichen Sinn von „beständig“), sondern auch dadurch, dass das Verhalten der Parteien damit weniger konkurrenzorientiert ist. Konkurrenz belebt das Geschäft und fördert Innovationen. Hat aber beides Vor- und Nachteile; irgendwo muss man da einen Mittelweg finden.

    Ich bin insgesamt schon für Regierungen mit breiterer Basis, wechselnde Mehrheiten und insgesamt mehr Suche nach Lösungen, die nicht nur für eine knappe (womöglich nur parlamentarische) Mehrheit akzeptabel sind, aber Nachteile hat sowas schon auch.

  7. Die Verankerung der Rolle der Parteien im Grundgesetz ist der Hemmschuh der Demokratie, nicht die Wahlgesetze mit der Sperrklausel. Es muss also an der Rolle der Parteien im Grundgesetz etwas geändert werden, nämlich die „staatstragende“ Rolle, die sich die Parteien selbst anmaßen, muss aus dem Grundgesetz entfernt werden.

    Das in Art. 21 Abs. 3 GG vorgesehene Gesetz über die politischen Parteien kam erst 1967 zustande.

    Art 21
    (1) Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. Ihre innere Ordnung muß demokratischen Grundsätzen entsprechen. Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben.
    (2) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungswidrigkeit entscheidet das Bundesverfassungsgericht.
    (3) Das Nähere regeln Bundesgesetze.

    Mittels dieses Gesetzes kaperten und kapern die Parteien die Demokratie und den Staat. Sogar mit der Anmaßung und dem Rechtsbruch (Art 38 Abs.1 GG), über das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten bestimmen zu wollen (Fraktionszwang).

    Auf kommunaler Ebene haben die gewählte Bürger ja die Funktion von Wahlbeamten der Exekutive (Stadt-, Kreis- und Landräte,) sie sind keine Gesetzgeber wie auf Landes- und Bundesebene. Das ist ein maßgeblicher Unterschied. Zusammen mit der Erfahrung der Weimarer Republik ergibt dies die Notwendigkeit, extremistische Bewegungen am Einzug ins Landes- oder Bundesparlament zu hindern. Ähnlich sieht es mit der Funktion der EU-Parlamentarier aus, wobei hier einfach die Größe des Parlamentes extremistische Gruppen neutralisiert, wenn auch leider nicht vollständig.

    Mag sein, dass auch den sogenannten Volksparteien der Arsch auf Grundeis geht und sie deshalb ein Interesse am Fallen der 5% Hürde haben könnten. Andererseits ist z.B. der Einfluß der rabiaten Marktradikalen trotz ihrer zahlenmäßigen Bedeutungslosigkeit noch immens. Ein Grund mehr, diese marktgläubigen Extremisten aus dem Parlament rauszuhalten. Das haben auch viele Bürger erkannt und die Feudalistische Deutsche Partei = FDP fliegt reihenweise aus den Landtagen und hoffentlich auch aus dem Bundestag. Das allein spricht schon für die Beibehaltung der 5% Sperrklausel in den Landtagen und im Bundestag.

    Nur Abgeordnete der Parteien, die stabil bleiben und sich demokratisch bewähren, sollen auch gesetzgeberische Macht erhalten.

    Es sind die Parteien, die stören, nicht die Wahlgesetze.

  8. Pingback: Blog von Halina Wawzyniak, MdB, DIE LINKE

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