Die soziale Frage

Historisch entstand die soziale Frage wohl vor allem mit der Industriellen Revolution und der Entstehung der Arbeiterparteien (hier ist an den ADAV und die SDAP zu denken). Statt kleinerer Betriebe (Manufakturen) entstanden durch die Erfindung von Maschinen große Fabriken, in denen das Proletariat schuftete (ja, diese Darstellung ist verkürzt, das soll hier aber auch kein Geschichtsseminar werden). Diejenigen, die schufteten, waren rechtlos im wahrsten Sinne des Wortes. Kein Wahlrecht, keine Absicherung gegen Risiken des Lebens und unmenschliche Arbeitsbedingungen.

Im Kommunistischen Manifest wird der Zustand so beschrieben:

„Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt.  Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“

Zu Recht umfasste die soziale Frage zum damaligen Zeitpunkt also den Kampf gegen die Verarmung und Verelendung des Proletariats. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass zumindest das Gothaer Programm der SAPD auch eines mit nicht unerheblichen demokratischen Forderungen war.

Mit den Bismarckschen Sozialgesetzen änderte sich das. Es wurde die Kranken- und Unfallversicherung, später auch die Renten- und Arbeitslosenversicherung eingeführt. Und nein, Bismarck war weder Sozialist noch Freund der Arbeiterbewegung oder des Proletariats. Er war Machtpolitiker.

Wenn heute von der sozialen Frage gesprochen wird, dann muss aus meiner Sicht zuerst gefragt werden, ob nicht auch heute gilt, dass die Gesellschaft „neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten“ gesetzt hat. Es gilt zu fragen, ob es immer noch so ist, dass die „Klassengegensätze vereinfacht“ sind. Oder anders gesagt: Heute die soziale Frage zu stellen heißt zu fragen, wer aus dem System herausfällt, nicht von ihm profitiert und deshalb unterstützt werden muss. Diese Betrachtung kann dann eben nicht nur im nationalstaatlichen, sondern muss im globalen Rahmen stattfinden.

Für mich sind die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen durch Digitalisierung durchaus vergleichbar mit den gesellschaftlichen Veränderungen durch Industrialisierung. Wenn dann noch berücksichtigt wird, dass Globalisierung und Umweltzerstörung ebenso zentrale Auseinandersetzungsfelder politischer Arbeit sind, dann muss aus meiner Sicht die soziale Frage neu gestellt werden. Gerade die Digitalisierung wird m.E. die Gesellschaft grundlegend verändern. Erwerbsarbeit wird weniger oder zumindest grundlegend anders werden. Funktioniert dann noch das Bismarcksche System? Ich denke, nein. Auch deshalb bin ich für ein emanzipatorisches bedingungsloses Grundeinkommen und die Steuerfinanzierung von Solidarsystemen. Auch die soziale Frage bekommt unter dem Gesichtspunkt der Digitalisierung eine neue Bedeutung. Die Ausgrenzung von Menschen beginnt dann möglicherweise weit vor der Frage nach klassischen sozialen Sicherungsmechanismen. Nämlich dann, wenn die gesammelten Daten einen Score ergeben, der zum Ausschluss hier und zum Ausschluss da führt. Der Ruf nach Datensparsamkeit hilft da m.E. nicht mehr weiter. Sinnvoll wäre hier über verbindliche  Regelungen zur Antidiskriminierung nachzudenken, also einen Datenschutz, der an der Nutzung, Verwendung und Weiterverwendung von Daten ansetzt. Dann sind eben auch Fragen des Urheber- und des Patentrechtes oder Fragen des Zugangs zu Wissen soziale Fragen.

Und dann sind wir bei der Frage, wer heute aus dem System herausgeschleudert wird und deshalb der Unterstützung – und der Ansprache linker Politik- bedarf. Aus dem System herausgeschleudert werden die Menschen des globalen Südens, denen ihre Lebensgrundlagen entzogen werden. Wenn ein Teil von ihnen in den globalen Norden kommt, erhalten sie materiell weniger als die schon länger hier lebenden Menschen. Das geht hinein bis in die Gesundheitsversorgung. Aus dem System herausgeschleudert werden die Erwerbslosen, die einer Gängelung („fordern„) ausgesetzt werden und denen auf der anderen Seite ständig vermittelt wird, sie seien Versager*innen. Das wiederum führt zu Vereinsamung, Scham und Entmutigung. Aus dem System herausgeschleudert sind große Teile der Soloselbständigen, deren Einnahmen kaum reichen um sich um die Altersvorsorge, teilweise sogar um die Krankenversicherung, zu kümmern.  Zu denjenigen, die herausfallen oder herauszufallen drohen -Stichwort Score-  gehören Frauen und Menschen mit Einschränkungen. Die soziale Frage zu stellen, müsste aus meiner Sicht bedeuten, sich genau mit den eben aufgezählten Personenkreisen um Alternativen zum Kapitalismus zu bemühen.

Die soziale Frage so gestellt bedeutet nicht, die Menschen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, zu vernachlässigen. Auch sie haben ein Anrecht auf anständige Bezahlung ihrer Tätigkeit und  anständige Bedingungen für diese. Die soziale Frage so wie eben beschrieben zu stellen, heißt aber auch denjenigen, die einer Erwerbsarbeit nachgehen, deutlich zu machen, sie sind im Vergleich zu den anderen Gruppen privilegiert. Dass sie diese Privilegien verteidigen wollen, ist nachvollziehbar. Eine Verteidigung dieser Privilegien ist aber nur möglich, wenn sie ausgeweitet und modernisiert werden. Das wird nicht gelingen, wenn die Verteidigung auf Kosten der weniger Privilegierten stattfindet. Eine Verteidigung der Privilegien, deren Ausweitung und Modernisierung wird nur gelingen, wenn all diejenigen, die nicht vom System profitieren sich verbünden. Weltweit. Gegen die Strukturen, die das Profitieren ermöglichen.

Die soziale Frage heute zu stellen ist dann eben mehr als die soziale Frage zu stellen, wie sie bisher gestellt wurde. Die soziale Frage heute zu stellen heißt global denken. Die soziale Frage stellen heißt für gerechten Welthandel einzutreten, den Ländern des globalen Südens eine eigene Entwicklung zu ermöglichen (und ihnen somit auch die Lebensgrundlagen zu belassen) und der Umweltzerstörung einen Riegel vorzuschieben. Die soziale Frage zu stellen heißt, allen ein Leben in materieller Sicherheit zu ermöglichen und gleichzeitig die Möglichkeit Kultur und Bildung zu genießen. Die soziale Frage zu stellen heißt, Menschen die demokratische Teilhabe in einer pluralistischen und offenen Gesellschaft zu ermöglichen. Und die soziale Frage zu stellen heißt eben auch Einkommen und Vermögen umzuverteilen. Es gibt nicht umsonst im Grundgesetz den Artikel 14 mit den Absätzen 2 und 3.

Debatten darüber, dass die einen vom System nicht Profitierenden den anderen nicht vom System Profitierenden etwas wegnehmen, sind Debatten von denen die Profiteure des Systems profitieren. Genau deshalb gehören diese Debatten umgedreht. Es geht darum zu benennen, welche gesellschaftlichen und rechtlichen Strukturen bzw. Regeln dazu führen, dass es Profiteure und Nichtprofiteure gibt. Aufklärung um Veränderung zu schaffen, das wäre eine notwendige Aufgabe.

2 Replies to “Die soziale Frage”

  1. Pingback: Jahresrückblick 2017 – Blog von Halina Wawzyniak

  2. Die Soziale Frage ist so alt wie der Mensch Geld (in früheren Zeiten Edelmetallgeld) benutzt. Und solange niemand wusste, wie die aus der Geldbenutzung resultierende, systemische Ungerechtigkeit der Zinsumverteilung von der Arbeit zum Besitz zu überwinden ist, musste diese „Mutter aller Zivilisationsprobleme“ aus dem Begriffsvermögen des arbeitenden Volkes ausgeblendet werden, damit das, was sich heute „moderne Zivilisation“ nennt, überhaupt entstehen konnte.

    Das – und nichts anderes – war (und ist noch) der eigentliche Zweck der Religion, die vom Wahnsinn mit Methode zum Wahnsinn ohne Methode (Cargo-Kult um die Heilige Schrift) mutierte:

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2018/01/religion-oder-leben.html

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