Ein uneingelöster Verfassungsauftrag

Der Artikel 140 Grundgesetz macht die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 zum Bestandteil des Grundgesetzes. Der Artikel 138 Abs. 1 Weimarer Reichsverfassung (WRV) wiederum formuliert: „Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“  Dieser Verfassungsauftrag wird in vier Jahren 100 Jahre alt. Eigentlich wäre es an der Zeit, dass er eingelöst wird. Doch viele Jahre schien er in Vergessenheit geraten zu sein.

Unter Federführung des damaligen Bundestagsabgeordneten Raju Sharma wurde in der vergangenen Legislaturperiode ein Gesetzentwurf über Grundsätze zur Ablösung der Staatsleistungen in den Bundestag eingebracht und dort auch debattiert (S.28005-28010 und 78175-78178).

Worum geht es eigentlich? Für enteignete kirchliche Besitztümer werden seit über 200 Jahren Staatsleistungen als Zahlungsverpflichtungen des Staates an die Kirchen erbracht. Die Entschädigungszahlungen des Staates an die Kirchen dienen dem Ausgleich für Enteignung von kirchlichem Eigentum im Rahmen der Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts (hauptsächlich enteignete Kirchengüter während der staatlichen Säkularisation als Folge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803). Sie werden in allen Bundesländern, mit Ausnahme von Hamburg und Bremen, an die beiden großen Amtskirchen (die katholische Kirche und die evangelischen Landeskirchen) geleistet und sollen jährlich 480 Mio. EUR betragen. Eigentlich seit 1919 stellt sich die Frage, „ob und inwieweit diese Zahlungsverpflichtungen heute noch angemessen beziehungsweise zeitgemäß sind„. Dies um so mehr, als -ich habe darauf verwiesen- ein Verfassungsauftrag zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen besteht.

Ich habe mich in dieser Legislaturperiode des Themas angenommen und die Fraktion DIE LINKE hat nunmehr diesen Antrag in den Bundestag eingebracht. Zuvor hatte ich eine Kleine Anfrage formuliert und mich über die Antwort bereits hier aufgeregt. Aber da aufregen ja keinen Sinn macht, versuche ich es jetzt mit einem Antrag.

Nun könnte natürlich jemand sagen, dieser Antrag wird im parlamentarischen Verfahren keine Mehrheit finden. Das mag sein. Nur, manchmal bin ich Optimistin. Und nachdem ich mir die Debatte zur 1. Lesung aus der 17. Wahlperiode des Bundestages noch einmal zu Gemüte geführt habe, bin ich der festen Überzeugung, der Antrag bekommt eine breite Mehrheit im Bundestag. In den Redebeiträgen wird zwar viel Unsinn zum vorgelegten Gesetzentwurf erzählt, aber alle Fraktionen vertraten die Auffassung, es muss geredet und verhandelt werden. Der Abgeordnete Dieter Wiefelspütz (SPD) erklärte beispielsweise: „Ich bin also sehr dafür, (…) dass wir in Deutschland einen Diskussionsprozess organisieren – nicht nur hier im Parlament, sondern auch mit den Kirchen –, um darüber zu reden, wie das geht.“  Der Kollege Rolf Schwanitz von der SPD erklärte in einer Zwischenfrage: „Herr Kollege Sharma, Sie haben aus meiner Sicht einen sehr guten und längst überfälligen Gesetzentwurf vorgelegt.“ Der Abgeordnete Stefan Ruppert (FDP) meinte in der damaligen Debatte: „Vielmehr geht es darum, mit den Kirchen konsensuale Gespräche zu führen und darüber nachzudenken, wie man in nicht allzu ferner Zukunft einen Kompromiss finden kann.“ Die Abgeordnete Flachsbarth (CDU/CSU) erklärte: „Gesprächen, die eine solche Ablösung im freundschaftlichen Einvernehmen intendieren würden, würden wir uns nicht entziehen.“ Und selbst Norbert Geis (CDU/CSU) erklärte: „Dazu sind Verhandlungen notwendig mit dem Ziel, eine einvernehmliche Regelung zu finden.“ Und Josef Winkler erklärte für Bündnis 90/Die Grünen: „Wir sollten die Auseinandersetzung über Sinn und Zweck der Staatsleistungen und die rechtlichen Möglichkeiten ihrer Ablösung führen.“ Bei soviel Übereinstimmung in der Sache dürfte es doch eigentlich überhaupt keine Probleme geben, dem vorgelegten Antrag zuzustimmen. Denn es spricht überhaupt nichts dagegen, „eine Expertenkommission beim Bundesministerium der Finanzen einzurichten, die den Umfang der enteigneten Kircheneigentümer und der bisher geleisteten Entschädigungszahlungen evaluiert und prüft„.  Dies um so mehr, als die Kommissioin sich „aus Expertinnen und Experten wie (Kirchen-)Historikerinnen und (Kirchen- )Historikern, Kirchen- und/oder Verfassungsrechtlerinnen und –rechtlern, Ökonominnen und Ökonomen sowie Vertreterinnen und Vertretern der  Bundesländer sowie der beiden großen Amtskirchen“ zusammensetzen soll.  Wenn in dem Antrag formuliert wird, dass die „Kommission Vorschläge (…) unterbreiten (soll), welche Konsequenzen der Gesetzgeber in Hinblick auf den zukünftigen Umgang mit der Zahlung von Staatsleistungen aus der Evaluierung ziehen sollte„, dann ist das genau der ergebnisoffene Prozess, der in der Debatte in der 17. Wahlperiode eingefordert wurde.

Aus meiner Sicht wird es Zeit, den Verfassungsauftrag aus dem Jahr 1919 umzusetzen. Aus meiner Sicht hätte auch einfach der Gesetzentwurf der 17. Wahlperiode beschlossen werden können. Da dies nicht mehrheitsfähig war, gibt es nun den Antrag, dem sich aus sachlichen Gründen eigentlich niemand verschließen kann, der den Verfassungsauftrag ernst nimmt. Vielleicht ist ja der Antrag einen Beitrag dazu, dass sich Politik, Kirchen und zivilgesellschaftliche Gruppen bzw. Vereine zusammensetzen um dafür zu sorgen, dass der Verfassungsauftrag erledigt wird, bevor er 100 Jahre alt wird. Ich finde, ein ausgesprochen lohnenswertes Ziel.

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  1. Pingback: Staatsleistung vs. Staatsvertrag – Blog von Halina Wawzyniak

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