Eine Winterlochdebatte

Christoph Degenhart ist zumindest Jura-Studierenden kein unbekannter Jurist. Sein Staatsorganisationsrecht: Staatsrecht I hat wohl fast jede/r Studierende schon einmal in der Hand gehabt.

Nun ist Christoph Degenhart noch ein wenig bekannter geworden. Durch einen Handelsblatt-Artikel in welchem er mit der Aussage zitiert wird: „Auch wenn es weder im Grundgesetz noch im Parteiengesetz oder im Abgeordnetengesetz eine Bestimmung gibt, die Mitgliederbefragungen explizit verbietet, halte ich sie in diesem Fall für verfassungsrechtlich nicht legitim“. Weiter wird er zititiert: „Auch wenn natürlich das Ergebnis der Mitgliederbefragung für die Abgeordneten bei der Stimmabgabe nicht formell verbindlich ist, kommt die Befragung aus meiner Sicht jenen Aufträgen und Weisungen nahe, die nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeschlossen sind“. Degenhart meint, dass die Mitgliederbefragung „Elemente eines imperativen Mandats (habe), das es nach dem Grundgesetz nicht geben darf“. Das Degenhart falsch zitiert worden ist, ist nahezu ausgeschlossen. Auf seiner Website verweist er explizit auf diesen Artikel.

Bei genauerem Hinsehen gibt es hinsichtlich der Argumentation von Degenhart zwei Interpretationsmöglichkeiten. Entweder Degenhart argumentiert -wenn auch mit Brüchen- streng formal und jenseits der Praxis politischen Geschehens oder aber er will das politische System komplett umkrempeln.

Fangen wir mal mit der ersten Interpretationsmöglichkeit an. Richtig ist, dass Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG formuliert, dass Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen sind.  In der juristischen Literatur ist weitgehend unumstritten, dass das freie Mandat und damit die Ungebundenheit an Aufträge und Weisungen jedes imperative Mandat und damit auch jedes rahmengebundene Mandat (zum Beispiel an das Grundsatzprogramm einer Partei) ausschließt (so beispielsweise Beck OK, Art. 38, Rdn. 94). Im Beck OK, Art. 38, Rdn. 94 heißt es: „Die Abgeordneten haben nicht Instruktionen der Vertretenen oder Parteien zu befolgen, sondern allein das zu tun, was ihrer persönlichen Überzeugung nach dem Wohl von Volk und Staat am besten dient.“ Das scheint zunächst die These von Degenhart zu stützen. Allerdings vernachlässigt Degenhart folgendes: „Andererseits hat der Verfassungsgeber im Grundgesetz auch nicht den Idealtypus einer Repräsentativverfassung iSd 19. Jahrhunderts geschaffen. Vielmehr ist die politische Einbindung der Abgeordneten in ihre Parteien und Fraktionen verfassungsrechtlich erlaubt und gewollt (…). Hinsichtlich der parteilichen Einbindung würde ansonsten Art 21 Abs 1 GG, der den Parteien eine besondere Funktion bei der politischen Willensbildung und bei der Kanalisierung und Organisation politischer Prozesse zuweist, vollständig überspielt, und hinsichtlich der Fraktionsbildung würde missachtet, dass die von Abgeordneten in Ausübung ihres freien Mandats gebildeten Fraktionen (…) für die parlamentarische Arbeit unverzichtbar sind.“ (Beck OK, Art. 38, Rdn. 100).  Aus praktischer Erfahrung kann ich einfach nur sagen, dass es durchaus sinnvoll ist in einer Fraktion arbeitsteilig zu arbeiten soweit -und das ist bei der LINKEN im Bundestag kein Problem- es möglich ist, auch abweichend von der Fraktion abzustimmen. Der logische Bruch in der Argumentation von Degenhart besteht nun aber darin, dass er zu Recht eine formelle Verbindlichkeit der Beschlüsse der Mitgliederbefragung verneint. Wenn es aber eine formelle Verbindlichkeit nicht gibt, dann bleiben die Abgeordneten ihrem Gewissen verpflichtet und eine verfassungsrechtliche Illegitimität kann gar nicht vorhanden sein. Degenhart muss sich aber auch fragen lassen, wieso er eine verfassungsrechtliche Illegitimität in einem Mitgliederentscheid sieht, nicht aber in Beschlussfassungen zu Koalitionsfragen von Parteitagen oder Vorständen.

Die zweite Interpretationsmöglichkeit für die Aussagen Degenharts geht weit über eine juristische Debatte hinaus. Denn wenn Degenhart jeglichen Einfluss von Parteien (siehe dazu weiter oben) in Frage stellt, bedeutet dies auch, dass Artikel 21 GG in Frage gestellt wird. Dann müsste konsequenterweise Degenhart auch jegliche Vereinbarung über gemeinsames Abstimmungsverhalten, wie sie derzeit in allen Koalitionsverträgen die ich kenne vereinbart sind, in Frage stellen. Dann müsste Degenhart in Frage stellen, dass Koalitionsverträge von Parteitagen oder Vorständen beschlossen werden und Abgeordnete sich ihren Wahlprogrammen verpflichtet fühlen. Konsequenterweise müsste Degenhart dann aber auch ein Wahlrecht befürworten, in dem nicht die Parteien bei Listen das Nominierungsmonopol haben und Bürger/innen von Veränderungen der ihnen von den Parteien vorgegebenen Listen ausgeschlossen sind. Soweit will Degenhart dann wohl aber doch nicht gehen.  Das ich festgezurtte Korsette schwierig finde, habe ich schon geschrieben. Das ich ein anderes Wahlrecht möchte (Einstimmenwahlrecht bei Verhältniswahl mit Veränderungsmöglichkeit der Listen) habe ich auch häufig erklärt.

Degenhart kritisiert lediglich  den Mitgliederentscheid. Glaubt mensch der „Welt“ verweist Degenhart nun darauf, dass mehr Direkte Demokratie statt Mitgliederentscheid angebracht wäre. Das stellt nun das ganze völlig auf den Kopf. Ich habe nichts gegen Direkte Demokratie, im Gegenteil. DIE LINKE hat in der letzten Legislaturperiode einen Gesetzentwurf für mehr Direkte Demokratie eingebracht. Aber hier werden zwei Sachen gegeneinander ausgespielt, die nicht gegeneinander ausgespielt gehören. Es gibt genügend Kritikpunkte am Koalitionsvertrag zwischen SPD und Union. Wenn eine Partei sich aber entscheidet ihre Mitglieder in grundlegende Entscheidungen einzubinden ist dies nicht zu kritisieren. Der Vorschlag von Degenhart würde im übrigen bedeuten, dass auch alle diejenigen, die nie im Leben der SPD ihre Stimme bei einer Wahl geben würden mitentscheiden könnten, mit wem diese Partei koaliert. In meinen Augen ist das nicht demokratisch. Im übrigen würde sich auch an dieser Stelle die Frage stellen, wie das eigentlich mit dem freien Mandat ist? Sind die Abgeordneten der SPD oder gar alle Abgeordneten an das Ergebnis einer solchen Volksabstimmung zu Koalitionsfragen gebunden?

Mit scheint die Debatte um die Frage der Verfassungswidrigkeit eines Mitgliederentscheides ist eine Winterlochdebatte. Sinnvoll wäre aus meiner Sicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Koalitionsvertrag zu führen, das Wahlrecht grundlegend zu ändern (natürlich nach meinem Vorschlag ;-)) und endlich mehr Direkte Demokratie im Grundgesetz zu verankern. Aber das fehlt zum Beispiel im Koalitionsvertrag.

3 Replies to “Eine Winterlochdebatte”

  1. Ich halte den #GroKo-Vertrag für mögliche Richtlinien der Politik für einen möglichen Kanzler. Die bestimmt der Kanzler und nicht die Abgeordneten. Neben den Parteien dürfen auch Petenten an der Politikfindung teilnehmen. Die einseitige Betrachtung des Art 38 hilft da nicht und wird ja auch nicht vom Bundesverfassungsgericht getragen. Siehe auch
    http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/spd-koalitionsvertrag-mitgliederentscheid-verfassungsmaessigkeit/

    Ansonsten volle Zustimmung zum Winterloch. Die 38er-Debatte lenkt nur von den Scheiss-Inhalten des #Groko-Vertrages ab (z.B. maastrichtfeindliche Höherverschuldung mindestens bis 2015, Abschaffung der Energiewende zugunsten von Kohle und Atom mit rechtswidrigen Höchstsubventionen für Dreckstechnologien von Altmaier und Kraft, Blendwerk zur Netzwerkpolitik).

  2. Hallo Wolfgang Ksoll,
    die „maastrichtfeindliche Höherverschuldung“ ist nicht das Problem, sondern das Maastrichter Schuldenverbotsdogma der Neolib-Taliban.

  3. Pingback: Auf den Hund gekommen – Blog von Halina Wawzyniak

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