Unendliche Geschichte: Luftsicherheitsgesetz und BVerfG

Das Bundesverfassungsgericht scheint diesen Sommer zu genießen. Von einer bahnbrechenden Entscheidung zur nächsten. So kann vielleicht dieser Bundesverfassungsgerichtssommer beschrieben werden. Doch so sehr das Bundesverfassungsgericht für seine Entscheidungen zum Asylbewerberleistungsgesetz und zum Wahlrecht gelobt wurde, so sehr die Entscheidungen zur Rechtsangleichung gleichgeschlechtlicher Lebensweisen begrüßt wurden, so groß ist jetzt das Entsetzen über die veröffentlichte Plenarentscheidung zum Einsatz der Streitkräfte im Inneren (Luftsicherheitsgesetz).

Bevor ich zur Entscheidung des Verfassungsgerichtes komme, will ich zumindest nur kurz daran erinnern, warum das Bundesverfassungsgericht überhaupt entscheiden musste. Das Luftsicherheitsgesetz wurde im Jahr Januar 2005 vom Bundestag beschlossen. Zu diesem Zeitpunkt regierten in Deutschland SPD und Bündnis 90/Die Grünen (letztere ließen übrigens Ströbele das Gesetz begründen).  Bestandteil des Luftsicherheitsgesetzes war § 13. Dessen Absatz 1 lautete: „Liegen auf Grund eines erheblichen Luftzwischenfalls Tatsachen vor, die im Rahmen der Gefahrenabwehr die Annahme begründen, dass ein besonders schwerer Unglücksfall nach Artikel 35 Abs. 2 Satz 2 oder Abs. 3 des Grundgesetzes bevorsteht, können die Streitkräfte, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, zur Unterstützung der Polizeikräfte der Länder im Luftraum zur Verhinderung dieses Unglücksfalles eingesetzt werden.“ Konkreter wurde es in § 14 Abs. 1: Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben. und Abs. 3: Die unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist.“ Unter anderem Gerhart Baum und Burkhard Hirsch legten Verfassungsbeschwerde ein und bekamen Recht.

Das Bundesvefassungsgericht hielt den Artikel 14 Abs. 3 des Gesetzes für nicht mit dem Grundgesetz vereinbar und sah in Artikel 35 GG keine Grundlage die Bundeswehr zurBekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“. Die Bayrische und die Hessische Staatsregierung hatten eine abstrakte Normenkontrolle gegen das Luftsicherheitsgesetz eingereicht. Der zuständige zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes wollte von der zitierten Entscheidung des ersten Senates abweichen, weshalb eine Plenarentscheidung notwendig wurde.

Das Bundesverfassungsgericht hat nunmehr zunächst entschieden, dass die Regelungskompetenz u.a. für die §§ 13 und 14 Luftsicherheitsgesetz sich aus Artikel 73 GG ergibt und nicht aus Artikel 35. Artikel 35 wiederum schließe „die Verwendung spezifisch militärischer Waffen bei Einsätzen der Streitkräfte nach diesen Vorschriften nicht grundsätzlich aus, lassen sie aber nur unter engen Voraussetzungen zu, die insbesondere sicherstellen, dass nicht die strikten Begrenzungen unterlaufen werden, die einem bewaffneten Einsatz der Streitkräfte im Inneren durch Art. 87 a Abs. 4 GG gesetzt sind.“ Bei genauerem Hinsehen wird deutlich: Die Differenz zwischen der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes und der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes liegt allein in der Frage, ob „spezifische militärische Waffen“ eingesetzt werden dürfen. 

Artikel 35 Abs. 2 und 3 Grundgesetz lauten wie folgt: „(2) Zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung kann ein Land in Fällen von besonderer Bedeutung Kräfte und Einrichtungen des Bundesgrenzschutzes zur Unterstützung seiner Polizei anfordern, wenn die Polizei ohne diese Unterstützung eine Aufgabe nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten erfüllen könnte. Zur Hilfe bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall kann ein Land Polizeikräfte anderer Länder, Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen sowie des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte anfordern. (3) Gefährdet die Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erforderlich ist, den Landesregierungen die Weisung erteilen, Polizeikräfte anderen Ländern zur Verfügung zu stellen, sowie Einheiten des Bundesgrenzschutzes und der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte einsetzen. Maßnahmen der Bundesregierung nach Satz 1 sind jederzeit auf Verlangen des Bundesrates, im übrigen unverzüglich nach Beseitigung der Gefahr aufzuheben.“

Aus Artikel 35 ergibt sich unzweifelhaft, dass in Fällen einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalls der Einsatz der Streitkräfte angefordert werden kann. Naturkatastrophe ist in diesem Zusammenhang noch leicht zu untersetzen und tatsächlich wurden die Streitkräfte beispielsweise beim Oder-Hochwasser ohne größere Debatten eingesetzt. Spannend ist also eher, was unter „besonders schwerer Unglücksfall“ zu verstehen ist und ob darunter die Regelungen des Luftsicherheitsgesetzes zu fassen sind. Bereits die erste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat dazu umfangreiche Ausführungen gemacht. Dort heißt es dazu: „Unter einem besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG – und damit auch im Sinne der §§ 13 bis 15 LuftSiG – wird im Allgemeinen ein Schadensereignis von großem Ausmaß verstanden, das – wie ein schweres Flugzeug- oder Eisenbahnunglück, ein Stromausfall mit Auswirkungen auf lebenswichtige Bereiche der Daseinsvorsorge oder der Unfall in einem Kernkraftwerk – wegen seiner Bedeutung in besonderer Weise die Öffentlichkeit berührt und auf menschliches Fehlverhalten oder technische Unzulänglichkeiten zurückgeht (in diesem Sinne schon Abschnitt A Nr. 3 der Richtlinie des Bundesministers der Verteidigung über Hilfeleistungen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen und im Rahmen der dringenden Nothilfe vom 8. November 1988, VMBl S. 279). Von diesem Begriffsverständnis, das verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, werden auch Ereignisse umfasst, wie sie hier in Rede stehen. Dass der Absturz des Luftfahrzeugs, gegen das sich die Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG richtet, absichtlich herbeigeführt werden soll, steht der Anwendung des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG nicht entgegen. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch kann unter einem Unglücksfall unschwer auch ein Ereignis verstanden werden, dessen Eintritt auf den Vorsatz von Menschen zurückgeht. Anhaltspunkte dafür, dass Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, davon abweichend, auf unwillentlich ausgelöste oder fahrlässig herbeigeführte Unglücksfälle beschränkt bleiben, auf Vorsatz beruhende Vorfälle also nicht erfassen soll, sind weder dem Wortlaut der Norm noch den Gesetzesmaterialien (vgl. BTDrucks V/1879, S. 22 ff.; V/2873, S. 9 f.) zu entnehmen. Sinn und Zweck des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG, durch den Einsatz auch der Streitkräfte einen wirksamen Katastrophenschutz zu ermöglichen (vgl. BTDrucks V/1879, S. 23 f.), sprechen ebenfalls dafür, den Begriff des Unglücksfalls weit auszulegen. Die Staatspraxis geht deshalb zu Recht seit langem davon aus, dass als besonders schwere Unglücksfälle auch Schadensereignisse anzusehen sind, die von Dritten absichtlich herbeigeführt werden (vgl. jeweils die Nr. 3 des Erlasses des Bundesministers der Verteidigung über Hilfeleistungen der Bundeswehr bei Naturkatastrophen bzw. besonders schweren Unglücksfällen und dringende Nothilfe vom 22. Mai 1973, VMBl S. 313, und der entsprechenden Richtlinie vom 17. Dezember 1977, VMBl 1978 S. 86).“ Eine ziemlich weite Auslegung des Begriffes „Unglücksfall“ für meinen Geschmack. 

Konsequent setzt sich die nunmehr vom Bundesverfassungsgericht getroffene Entscheidung gar nicht mehr mit dem Aspekt des „besonders schweren Unglücksfalls“ auseinander. Das Bundesverfassungsgericht argumentiert: Es ist jedoch weder durch den Wortlaut des Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG noch die Systematik des Grundgesetzes zwingend vorgegeben, dass der Streitkräfteeinsatz nach diesen Bestimmungen auf diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefahrenabwehrrecht des Einsatzlandes der Polizei zur Verfügung stehen oder verfügbar gemacht werden dürften.“ Das erscheint mir nur ein wenig unlogisch. Wenn das Bundesverfassungsgericht erkennt, dass die Streitkräfte hier im Rahmen der Gefahrenabwehr tätig werden, ist nicht ganz einsichtig, weshalb ihnen mehr Mittel und Möglichkeiten zugesprochen werden sollen, als für die Gefahrenabwehr grundsätzlich erlaubt. Zumindest müsste dann doch hinterfragt werden, warum keine explizite Ermächtigungsgrundlage im Grundgesetz genannt wird.

Das Bundesverfassungsgericht scheint es, ist selbst nicht ganz zufrieden und versucht, nachdem es das Tor zum Einsatz „spezieller militärischer Waffen“ geöffnet hat, dieses wieder zu schließen. Nicht anders ist zu erklären, dass es weiter schreibt: „So stellen namentlich Gefahren für Menschen und Sachen, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, keinen besonders schweren Unglücksfall im Sinne des Art. 35 GG dar. … Schließlich muss der Unglücksfall bereits vorliegen. Dies setzt zwar nicht notwendigerweise einen bereits eingetretenen Schaden voraus. Der Unglücksverlauf muss aber bereits begonnen haben und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehen. Der Einsatz der Streitkräfte wie der Einsatz spezifisch militärischer Abwehrmittel ist zudem auch in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig.“  Weiterhin versucht das Bundesverfassungsgericht das von ihm geöffnete Tor wieder etwas zu schließen, indem es darauf verweist, dass die Grenzen des Artikel 87a Abs. 4 nicht unterlaufen werden dürfen. Der Artikel 87a Abs. 4 lautet: “ Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundesgrenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist einzustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen.“

Sicherlich ist Richter Gaier zuzustimmen, wenn er in seinem abweichenden Votum schreibt:Das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung schließt den Kampfeinsatz der Streitkräfte im Inneren mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen des regionalen (Art. 35 Abs. 2 Satz 2 GG) wie in Fällen des überregionalen (Art. 35 Abs. 3 Satz 1 GG) Katastrophennotstandes aus. (…) Insoweit hat der Plenarbeschluss im Ergebnis die Wirkungen einer Verfassungsänderung.“ Aber darauf darf und kann sich Politik nicht zurückziehen. Konsequent wäre es also, wenn mindestens den Artikel 87a Abs. 4 GG gestrichen werden würde und in Artikel 35 eine Beschränkung auf die Naturkatastrophen sowie eine Klarstellung hinsichtlich des alleinigen Einsatzes von Mitteln der Gefahrenabwehr erfolgt.

Abschließend dennoch etwas, was nicht untergehen sollte. Der gezielte Abschuss von Passagierflugzeugen (aus meiner Sicht das Kernstück des Luftsicherheitsgesetztes von Rot-Grün) bleibt auch glücklicherweise auch weiterhin verboten. Verfassungsrichter Gaier dazu: „Zwar mag es danach nunmehr zulässig sein, dass Kampfflugzeuge unter den Voraussetzungen des § 14 Abs. 1 LuftSiG `Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben`. Die erfolgreiche Gefahrenabwehr durch solche Maßnahmen wird allerdings insbesondere in „Renegade“-Fällen deshalb wenig wahrscheinlich sein, weil der Abschuss von Flugzeugen, in denen sich Passagiere und Besatzungsmitglieder befinden, mit dem Grundrecht auf Leben in Verbindung mit der Garantie der Menschenwürde unvereinbar ist und unzulässig bleibt.“

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