Unüberbrückbare Differenzen

Es ist gerade in den sozialen Netzwerken viel über eine Doppelinterview geredet worden. Da es dankenswerter Weise transkribiert wurde, lohnt sich ein Blick in selbiges. Immer die Originalquelle für eine Auseinandersetzung in der Sache zu suchen – das war, ist und bleibt richtig.

Das Interview fängt mit der Frage nach dem Satz mit dem verwirkten Gastrecht bei Missbrauch des Gastrechtes an. Es ist gut, wenn dieser Satz von Sahra Wagenknecht nicht mehr benutzt wird. Denn wo kein Gastrecht, da auch kein Missbrauch und keine Verwirkung. Es gibt humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtungen. Und genau diese sind es, die zur völlig vernünftigen und berechtigten Aufnahme von Geflüchteten im vergangenen und diesem Jahr geführt haben, nicht „Merkels Politik im vorigen Herbst„. Die Ursachen dafür, dass so viele Menschen nach Deutschland kommen, liegen in Kriegen, Umweltzerstörung und Ausbeutung. Alles im Übrigen mit Beteiligung Deutschlands und des globalen Nordens.

Es lohnt jedoch sich mit den Aussagen von Frau Petry auseinanderzusetzen. Weil diese Aussagen immer wieder harten Widerspruch verlangen.

Da ist von „Rechtsbeugung von Regierungsseite“ die Rede. Welche Rechtsbeugung bitte? Das ist von „Ausnutzung des Asylrechts durch Armutsmigranten“ die Rede, was zu einem „Konkurrenzkampf unter sozial Schwachen führe„. Wie bitte? Frau Petry tut so, als seien die Geflüchteten des letzten Jahres vor allem Armutsmigranten*innen. Sind sie nicht. Aber selbst wenn sie es wären – das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, sollte universell gelten. Und diese Geflüchteten führen zu einem Konkurrenzkampf unter sozial Benachteiligten? Der Konkurrenzkampf ist Bestandteil des Kapitalismus. Dieser braucht konsequent die Ausgrenzung von sozial Benachteiligten (schon der Begriff „Schwache“ ist eine stigmatisierende Zuschreibung). Er trägt die Verantwortung dafür, dass es nicht genügend soziale Sicherung, genügend Wohnraum und genügend Erwerbsarbeit gibt (wenn schon unbedingt am Erwerbsarbeitsfetischismus festgehalten werden muss).

Da ist in Bezug auf die Einwanderung oder Migration nach Deutschland davon die Rede, dass es „falsche Anreize des Sozialstaats“ gäbe. Dass diese Argumentation eine ist, welche die CDU seit Jahren von sich gibt, macht sie nicht richtig. Eine solche Argumentation scheint die Realität nicht zu kennen. Es gibt nämlich immer noch das Asylbewerberleistungsgesetz. Ein Blick in dieses würde helfen. Bei Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung gibt es neben Leistungen zur Deckung des Bedarfs an Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheitspflege und Gebrauchs- und Verbrauchsgütern des Haushalts (notwendiger Bedarf) in Form von Sachleistungen noch Geld für den persönlichen Bedarf von 135 EUR bei Erwachsenen. Bei einer Unterbringung außerhalb einer Aufnahmeeinrichtung sind es 216 EUR. Die medizinische Versorgung ist weitgehend auf die „Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ beschränkt. Wollen wir wirklich noch mal über „falsche Anreize des Sozialstaates“ reden?
Es geht im Weiteren um die Spaltung in Arm und Reich. Und was ist die Antwort? „Anstatt auf mehr Umverteilung setzen wir daher auf mehr Bildung und die Befähigung des Bürgers den Staat zu kontrollieren und zu kritisieren.“ Wie soll bitte der Staat kontrolliert werden, wenn ständig alles privatisiert wird? Wie soll der Staat kontrolliert und kritisiert werden, wenn zuerst einmal das eigene Überleben gesichert werden muss? Wie sollen sozial benachteiligte Menschen dazu ermutigt werden, wenn ihnen zunächst erst einmal signalisiert wird, sie gehören nicht richtig dazu. Auch politisches Engagement kostet nämlich nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Wie soll Bildung gewährleistet  werden, wenn es keine Umverteilung gibt und die erforderlichen Gelder dafür nicht ausreichend vorhanden sind? Woher sollen denn die Gelder kommen, wenn nicht durch Umverteilung? Und ja, wer Umverteilung will, muss den Reichen nehmen und den Armen geben.
Die Fragesteller wollen wissen, warum bei den jüngsten Wahlen so viele Wähler*innen von der LINKEN zur AfD gewechselt sind. Da wäre schon ein wenig Differenzierung angesagt gewesen. Denn in Berlin hat DIE LINKE überall an absoluten Wähler*innen dazu gewonnen und deutlich weniger Wähler*innen an die AfD abgegeben als die anderen Parteien. Nur mal so zum Vergleich: Die AfD hat in Berlin ihre Stimmen vor allem aus dem Bereich der vormaligen Nichtwähler*innen (69.000), sonstigen Wähler*innen, ehemaligen CDU-Wähler*innen (39.000) und ehemaligen SPD-Wähler*innen (24.000) erhalten. DIE LINKE verlor 12.000 Wähler*innen und die Grünen 4.000 Wähler*innen. Und in Mecklenburg-Vorpommern sieht es wie folgt aus: 56.000 vormalige Nichtwähler*innen, 23.000 vormalige CDU-Wähler*innen, 23.000 vormalige sonstige Wähler*innen, 16.000 vormalige SPD-Wähler*innen, 3.000 vormalige Grünen-Wähler*innen und 18.000 vormalige LINKE-Wähler*innen wechselten zur AfD. Der Wechsel von LINKE-Wähler*innen zur AfD ist nicht schön, aber es ist eben auch kein Alleinstellungsmerkmal der LINKEN. Dass auch DIE LINKE mit ihrem vor allem als PDS in den 1990iger Jahren postulierten Protestgestus die reine Protestkultur akzeptabel gemacht hat, wäre eine gesonderte Debatte wert. Ebenso der auch in der LINKEN vorhandene Autoritarismus. Im Übrigen war DIE LINKE aber zu Recht seit mehr als 25 Jahren stolz darauf, in bestimmten Positionen auch der Minderheit eine Stimme gegeben zu haben. Das gehört nämlich auch zu einer Demokratie. Neben den überzeugten fremdenfeindlichen und rassistischen Wähler*innen de AfD gibt es auch jede Menge Menschen, die sich von den immer schneller sich vollziehenden Veränderungen der Gesellschaft überfordert fühlen. Sie wollen „bewahren“ statt gestalten. Und offensichtlich haben alle im Bundestag vertretenen Parteien auf dieses Phänomen noch keine Antwort. Das wäre aber eine wirkliche Herausforderung für LINKE Politik. Ideen für die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft entwickeln, Hoffnung statt Angst auszustrahlen.
LINKER Politik geht es um eine gerechte Welt und nicht um Wohlstand in einem Land. Wer die Position „offene Grenzen für Alle“ in Bezug zum Funktionieren des Sozialstaates kritisiert, vernachlässigt zum wiederholten Mal, dass dieser eben nur funktionieren kann, weil anderswo -vornehmlich im globalen Süden- bitterste Armut und Ausbeutung existieren. Das hat Frau Petry nicht begriffen. Oder will es nicht begreifen. Der alte Spruch ist immer noch wahr: Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten. Wer „offene Grenzen für Alle“ kritisiert und meint, so könne Hilfe für sozial Schwache nicht funktionieren, ignoriert die Tatsache, dass 2015 weltweit 60.000.000 Menschen auf der Flucht waren. Beim UNHCR heißt es:
„Weltweit gab es im letzten Jahr insgesamt 19,5 Millionen Flüchtlinge (2013: 16,7 Millionen), 38,2 Millionen Binnenvertriebene (2013: 33,3 Millionen) und 1,8 Millionen Asylsuchende, die noch auf den Ausgang ihres Asylverfahrens warteten (2013: 1,2 Millionen).“ 
Ernsthaft. Unser Sozialstaat funktioniert nicht, wenn es offen Grenzen für Alle gibt? Offene Grenzen verhindern, dass Hilfe für sozial Benachteiligte funktioniert? Das kann nur sagen, wer im Hinblick auf sozial Benachteiligte in Staatsbürgerschaftskategorien denkt. Die wirklich sozial Benachteiligten sind nämlich diese 60.000.000 Menschen auf der Flucht.
Die Reduktion der AfD und von Frau Petry auf die Frage des Umgangs mit Geflüchteten, auf die Frage, ob es eine ethnisch-kulturell homogene Gesellschaft gibt, greift aber zu kurz. Da wird mal schnell behauptet, die „Euro-Einführung (habe) in Deutschland zu massiven Kapitalabfluss“ geführt. Und das habe dazu geführt, dass die „die jahrzehntelang erfolgreiche Strategie, hoch investiv und innovativ zu produzieren, nicht mehr aufrechterhalten werden“ konnte. Das habe dann auch zur Agenda 2010 geführt. Ist es nicht vielleicht so, dass Deutschland durch nationalstaatlichen Egoismus eher profitiert hat als vom Euro? Deutschland ließ billig im Süden Europas produzieren, die Gewinne aber hier in Deutschland abschöpfen. Es wäre ja auch denkbar gewesen, in Portugal, Griechenland, Spanien etc. in Standorte zu investieren, dort die Löhne anzuheben und die Produkte dort zu verkaufen. Das hätte aber bedeutet, auch dort Steuern zu bezahlen und auf lange Sicht hätten sich die Länder möglicherweise nievaumäßig auch angeglichen. Warum wird nicht offensiv über eine Transferunion nachgedacht? Wer gleiche Lebensverhältnisse in der EU will, der muss doch auch über sowas nachdenken. Es ist am Ende nicht der Euro, der Europa spaltet, sondern der politische Unwillen die EU gemeinsam solidarisch zu gestalten. Die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ist eine gute Idee – sie muss politisch gestaltet werden. Darauf kommt es an.
Die These, dass Demokratie und Transparenz  in kleinen Verbünden besser als in großen funktioniert, wiederum ist eine völlig unbelegte These. Frau Petry umschreibt dies mit der Aussage  „weil nur dann der Bürger weiß, warum welche Entscheidung getroffen wird, weil es in seiner Lebenswelt passiert„. Wie groß ist denn die Lebenswelt? Ist die Lebenswelt in Mecklenburg-Vorpommern dieselbe wie im Saarland? Von welcher Entscheidung weiß der/die Bürger*in denn? Und wie soll in einer globalisierten Welt, im Kampf gegen Klimawandel und im Zeitalter der Digitalisierung eine demokratische und transparente Kontrolle oder gar Gestaltung aussehen, wenn diese nur in kleinen Verbünden stattfindet? Genau eine solche Reduktion ist es dann, die zu diversen Abkommen führt, die gerade nicht demokratisch und transparent zustande kommen. Es gilt doch sich Gedanken zu machen, wie gerade in größeren Verbünden Demokratie und Transparenz gesichert werden können. Im Übrigen insbesondere dann, wenn so gern gegen Konzerne geschimpft wird, die Monopolstellungen haben. Die können mit nationalstaatlichen Mitteln nur noch begrenzt in die Schranken gewiesen werden.
Und wozu bitte soll ein „gesundes Verhältnis zum eigenen Staat“ nötig sein? Wozu Patriotismus? Geht es nicht eher darum, dass alle Menschen in sozialer Sicherheit ein Leben in Freiheit führen können? Ist nicht das „gesunde Verhältnis zum eigenen Staat“ etwas, was auf Ausgrenzung anderer setzt. Ist der Nationalstaat nicht etwas künstlich geschaffenes, ein Herrschaftsinstrument um zu verhindern, dass die globale Machtfrage gestellt wird? Warum sollte jemand stolz auf ein Land sein? Ich kann stolz sein auf Dinge, die ich selbst erreicht habe, nicht aber auf Zufälle. Und es ist nun einmal Zufall, dass ich in diesem Land geboren wurde.
Und was ist mit CETA und TTIP? Das Problem liegt doch in allererster Linie in den Kompetenzen des Gemischten CETA-Ausschusses, von dem am Ende gar nicht klar ist, wie dieser sich -was die europäische Seite angeht- zusammensetzt. Es geht um die Schiedsgerichte und den Zugang zu diesen.
Was bleibt am Ende? Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen LINKE und AfD, es gibt nur unüberbrückbare Differenzen. Die erlauben nicht einmal eine Zusammenarbeit in Sachfragen.

6 Replies to “Unüberbrückbare Differenzen”

  1. „das Recht, seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, sollte universell gelten.“
    Welches Recht? Ein solches Recht existiert nicht! Es gibt Staatsbürger und andere. Anderen darf man helfen, in einer Demoratie dann, wenn man dafür Mehrheiten organisiert. Das zu versuchen, ist ein gutes Recht. Aber es gibt keine Verpflichtung dazu, und kein Recht, das gegen den Widerstand der Bürger von oben zu dekretieren.
    Erstaunlich, was hier für „Rechte“ aus dem Hut gezaubert werden. Vielleicht sollten Sie mal darüber nachdenken, dass es genau solche Zaubereien sind, die Deutschland international isolieren:
    https://hintermbusch.wordpress.com/2016/09/25/wolfgang-streeck-europa-in-die-luft-gejagt/

    „Geht es nicht eher darum, dass alle Menschen in sozialer Sicherheit ein Leben in Freiheit führen können?“
    Das ist ein schöner Traum, gegen den nichts einzuwenden ist. Aber wie kommt man da hin?
    Es ist offensichtlich, dass der Frieden und die Sicherheit im vergangenen Jahr in Deutschland massiv abgenommen haben. Das Land ist zutiefst gespalten, die Fronten unversöhnlich. Offensichtlich bewegen wir uns nicht auf den schönen Traum zu, sondern von ihm weg. Verantwortliche Politik kann sich also nicht nur an Idealen orientieren, sondern muss mit den Randbedingungen kalkulieren, wie sie nun einmal sind. Wer das nicht tut, handelt verantwortungslos im Sinne von Max Weber.

  2. das, wie sie sagen frieden und sicherheit in diesem land gefährdet sind, liegt -wenn frau sich ihrer these annimmt- daran, dass geflüchtete fast täglich angegriffen werden. offensichtlich will ein teil der gesellschaft eine ethnisch und kulturell homogene. ich will das nicht und deshalb halte ich es für grundfalsch solchen ansinnen nachzugeben.
    im übrigen bin ich der auffassung, politik sollte sich von idealen leiten lassen. wovon denn sonst. es ist doch gerade aufgabe von politik andere von idealen überzeugen zu wollen und vor diesem hintergrund radikale realpolitik zu machen.
    im übrigen steht im blog, dass das recht seinen aufrnthaltsort frei zu wählen universell gelten sollte. das impliziert, dass es noch nicht gilt. und schon sind wir wieder bei den idealen.

  3. Offene Grenzen für alle und überall ? Moralisch hätte Europa diese Pflicht, mindestens mit Blick auf die ehemaligen Kolonien, für deren Elend es (haupt-) verantwortlich ist. Aber wäre das realistisch? Deutschland öffnet, als einziges Land der Welt, seine Grenzen für jeden? Was wäre dann hier los? Wollen Sie mit ernsthaft mit dieser Forderung in den Wahlkampf gehen?
    Gerade das fds brüstet sich doch i.d.R. damit, realistische, pragmatische und eben keine unrealistischen Maximalforderungen zu stellen. Nur hier wird offenbar eine Ausnahme gemacht, und dem Weltkommunismus, an dessen Kommen sowieso niemand mehr glaubt, mal eben vorgegriffen.
    Der Blogbeitrag zum -Doppel-interview ist aber noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert: Er beschäftigt sich praktisch nur mit Petrys Aussagen. Auf Frau Wagenknecht wird kurz mit einem Seitenhieb im ersten Absatz eingegangen. Sie existiert anscheinend nicht. Deutlicher kann man seine Mißachtung nicht zum Ausdruck bringen.
    Als Wähler muss man sich schon fragen, wie wählbar eigentlich eine Partei ist, in der die Gegensätze zwischen den Flügeln so unversöhnlich sind, dass sie in offene Verachtung umschlagen. Ich sehe bei keiner anderen Partei, weder bei SPD noch bei CDU/CSU oder FDP auch nur annähernd Vergleichbares.
    Zum Begriff „Gastrecht“: Er stammt eben nicht von W., sondern wurde schon vorher von einer gewissen, vom rechten Flügel der LINKEN für ihre Flüchtlingspolitik gelobten Frau Merkel in die Debatte geworfen. s hier: https://www.tagesschau.de/inland/ausweisung-101.html .
    Was die Konsequenzen von etwaigen Straftaten für Personen mit Flüchtlingsstatus angeht, so bieten die Art. 2 und 32 der GFK Aufschluss.

  4. Was die Euro-Krise und die „zu niedrigen Löhne“ in Spanien, Portugal oder Griechenland angeht, so würde ich doch dringend empfehlen, den Analysen der verfemten Frau Wagenknecht mal zu lauschen oder sich eine ältere Rede von Dr. Gysi zum Thema anzuhören. Die haben verstanden, wo das ökonomische Problem liegt.

  5. da wo ich frau wagenknecht zu kritisieren hatte, habe ich es getan. der blogbeitrag sollte der auseinandersetzung mit frau petry dienen. einfach den text nehmen und nicht hineininterpretieren.
    die forderung nach offenen grenzen ist im übrigen programmlage. und wie das zitat von amnesty international im blogbeitrag zeigt, kommen die wenigsten geflüchteten überhaupt nach europa.

  6. ich höre mir gern die reden der beiden an. würde sie aber bitten. im übrigen ist frau wagenknecht nicht verfemt sondern meine fraktionsvorsitzende.

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