Rhetorik vs. Handeln – Ausgangsbeschränkungen sind Verstoß gegen § 28a Abs. 2 IfSG

Vorbemerkung: Ich halte es für zentral wichtig, die physischen Kontakte von Mensch zu Mensch zu reduzieren. Im Übrigen seit März/April 2020.

Nach dem Scheitern des sog. Lockdown-Light befinden wir uns gerade in einem Überbietungswettbewerb der härtesten Einschränkungsvorschläge zur Bekämpfung des Corona-Virus. Erneut drohen dabei Grund- und Freiheitsrechte missachtet zu werden, obwohl sich die Voraussetzungen für ihre Einschränkung erst kürzlich umfassend verändert haben. Erneut wird mangelnde Daseinsvorsorge mit der Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten bezahlt, auch weil der Mut fehlt von Verordnungsermächtigungen Gebrauch zu machen, die da ansetzen, wo im Kapitalismus das Geld gemacht wird. Das Frühjahr 2020 wiederholt sich: dramatischer, schneller, umfassender.

Es ist eine juristische Binsensweisheit, dass die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte in praktische Konkordanz mit dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gebracht werden muss. Dies meint, das bei gleichrangigen Verfassungsnormen die miteinander konkurrieren, die eine Verfassungsnorm nicht hinter die andere zurücktreten soll, sondern ein möglichst schonender Ausgleich zwischen diesen hergestellt wird. Anders als vielfach vermutet ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit kein Supergrundrecht.

Die „Lage an der Covid 19-Front“ ist äußerst besorgniserregend. Nach dem RKI-Lagebericht vom Freitag gab es einen Tageshöchstwert an Neuinfektionen von fast 30.000 und starben an einem Tag 598 Menschen. Nach dem Berliner Lagebericht vom Freitag liegt die 7-Tages-Inzidenz bei fast 200, die Veränderung der 7-Tages-Inzidenz bei +8% und ist die Intensivbetten-Ampel mit 27,8% auf rot. Aus den Fallzahlen ergibt sich, dass in Berlin der Altersdurchschnitt der Hospitalisierten bei 67 Jahren liegt und der Altersdurchschnitt der Verstorbenen bei 83 Jahren. Aus meiner Sicht ist klar, es muss gehandelt werden. Die Frage ist nur wie.

I. Priorität muss der Schutz hochaltriger Menschen haben

Die Zahlen sind eindeutig. Es muss prioritäre Aufgabe sein, hochaltrige Menschen zu schützen – ohne sie zu diskriminieren – und damit für die notwendige Entlastung des Gesundheitswesens zu sorgen. Was könnte da getan werden?

Denkbar wäre aus meiner Sicht, dass in den Senioren:innen-Heimen und -Residenzen, in der ambulanten und stationären Pflege für die betroffenen Personen und das medizinische und pflegerische Personal täglich (also wirklich täglich!) ein Schnelltest zur Verfügung steht und dieser auch gemacht wird. Besuche sollten nur stattfinden, wenn ein Schnelltestergebnis vorliegt. Es sollte für pflegendes und medizinisches Personal, ebenso wie für die hochaltrigen Menschen kostenlose FFP2-Masken geben – auch das täglich. Schließlich sollte bei Verdachtsfällen nicht nur schnell eine Abklärung stattfinden, sondern auch schnell eine räumliche Trennung ermöglicht werden.

Jetzt wäre der klassische Einwand, dass aber weder ausreichend FFP2-Masken, noch ausreichend Testst zur Verfügung stehen. Im Übrigen würde das auch richtig teuer sein. Beide Argumente sind keine Argumente und zumindest das erste Argument macht mich regelmäßig wütend.

Von Beginn der Pandemie an gab es den § 5 IfSG. Dieser enthält in Abs. 2 umfassende Ermächtigungen für das Bundesgesundheitsministerium, soweit eine epidemische Lage nationaler Tragweite festgestellt worden ist. Meine „Lieblingsermächtigung“ ist immer noch der § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG. Danach kann das Bundesgesundheitsministerium durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates (!) „Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung mit Arzneimitteln einschließlich Impfstoffen und Betäubungsmitteln, mit Medizinprodukten, Labordiagnostik, Hilfsmitteln, Gegenständen der persönlichen Schutzausrüstung und Produkten zur Desinfektion sowie zur Sicherstellung der Versorgung mit Wirk-, Ausgangs- und Hilfsstoffen, Materialien, Behältnissen und Verpackungsmaterialien, die zur Herstellung und zum Transport der zuvor genannten Produkte erforderlich sind“ treffen. Im weiteren wird dann aufgezeigt, mit welchen Mitteln und Wegen das unter anderem geschehen kann. So können Maßnahmen zum Bezug, zur Beschaffung, Bevorratung, Verteilung und Abgabe solcher Produkte durch den Bund getroffen werden, Buchstabe c). Die Produkte können sichergestellt werden, Buchstabe d). Es kann verboten werden, diese Produkte zu verkaufen, es kann eine Verpflichtung zur Überlassung ausgesprochen werden, Buchstabe e). Möglich wären auch Regelunen zum Vertrieb, zur Abgabe, Preisbildung und -gestaltung, Erstattung sowie Vergütung, Buchstabe f). Aber es geht noch weiter, es wäre nach § 5 Abs. 2 Nr. 4 Buchstabe f IfSG möglich

Maßnahmen zur Aufrechterhaltung, Umstellung, Eröffnung oder Schließung von Produktionsstätten oder einzelnen Betriebsstätten von Unternehmen, die solche Produkte produzieren sowie Regelungen über eine angemessene Entschädigung hierfür vorzusehen;

Der Bundesgesundheitsminister hätte aber auch entsprechend § 5 Abs.2 Nr. 5 IfSG anordnen können, dass eine Erfindung in Bezug auf Arzneimittel oder Medizinprodukte nach § 13 Patentgesetz „zwangslizensiert“ wird. Der Bundesgesundheitsminister kann nach § 5 Abs. 2 Nr. 7 IfSG Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Gesundheitsversorgung in ambulanten Praxen, Apotheken, Krankenhäusern, Laboren, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen und in sonstigen Gesundheitseinrichtungen in Abweichung von bestehenden gesetzlichen Vorgaben vorsehen. Gleiches gilt nach Nummer 8 auch für die pflegerische Versorgung in ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen. Schließlich besteht die Möglichkeit nach Nummer 10 durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates unbeschadet des jeweiligen Ausbildungsziels und der Patientensicherheit abweichende Regelungen von den Berufsgesetzen der Gesundheitsfachberufe und den auf deren Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen zu treffen.
Das ist alles nicht sehr schön, aber es zeigt auf, an wievielen Stellen jenseits von Ausgangsbeschränkungen und herunterfahren des öffentlichen Lebens Möglichkeiten bestanden haben und bestehen, die aber nicht genutzt wurden. Soweit ich das sehe, wurde dieser gesamte Komplex bislang weder in Kleinen Anfragen noch in Anträgen im Bundestag thematisiert (Ich habe ca. 30 Minuten mit allen verfügbaren Komibinationen nach Kleinen Anfragen oder Anträgen im Bundestag gesucht.), was ich absolut nicht verstehen kann. Lediglich die Grünen fragten nach Voraussetzungen der „Zwangslizensierung“ im Hinblick auf den Impfstoff, ohne eine Positionierung vorzunehmen.

Was das Geld-Argument angeht, kann ich nur sagen: Entweder es gibt einen Notfall, oder es gibt keinen Notfall. Da muss sich dann schon mal entschieden werden. Wenn ein Notfall vorliegt, dann kann es auf Geld nicht ankommen, dann muss das Notwendige getan werden, um dem Notfall zu begegnen.

Und weil ich gerade bei Notfall bin. Soweit ich die Debatte verfolgt habe, geht es bei der Überlastung des Gesundheitswesens nur zum Teil um die Anzahl der zur Verfügung stehenden Intensivbetten. Zum anderen Teil geht es um nichtvorhandenes medizinisches und pflegerisches Personal. Vielleicht ist mir etwas entgangen, dann nehme ich die nächsten Sätze sofort wieder zurück, aber mir ist nicht aufgefallen, dass es auf Grund des Notfalls eine „Mobilmachung“ im Hinblick auf medizinisches Personal und Pflegepersonal  gegeben hat. Ja, es wäre ein sehr sehr harter Eingriff in Grundrechte, wenn zum Beispiel pensionierte Ärtze:innen oder Pfleger:innen „eingezogen“ werden würden. Es wären sehr sehr harte Eingriffe in Grundrechte, wenn es eine „Verpflichtung“ für breite Teile der Bevölkerung zur „Hilfe im Gesundheitswesen“ geben würde. Aber die Rhetorik des Notstandes auf der einen Seite, mit der Grund- und Freiheitsrechte einschränkt werden und das Unterlassen einer solchen Absicherung des Gesundheitswesens auf der anderen Seite bringe ich irgendwie nicht zusammen. Und ja, ich weiß durchaus, dass es einer besonderen Ausbildung bedarf, um auf einer Intensivstation tätig zu sein. Wenn da aber Niemand mehr ist, dass müssten ggf. medizinisch vorgebildete Personen diesen Job übernehmen.

II. Öffentliches Leben herunterfahren 

Angesichts der Entwicklung der Infektionen bin ich tatsächlich dafür, dass auch unter Berücksichtigung der Folgewirkungen für eine begrenzte Zeit das öffentliche Leben weitgehend heruntergefahren wird. Per Verordnungen und bei klarer sozialer Absicherung der Betroffenen. Insofern sehe ich dies tatsächlich anders als im Frühjahr.

Weitgehend unstrittig scheint zu sein, dass Kitas und Schulen nicht geöffnet und der Einzelhandel geschlossen wird. Was aber überhaupt nicht debattiert wird, für die Konktaktreduzierung aber aus meiner Sicht entscheidend ist, wäre eine Verordnung, nach der wo immer möglich „Homeoffice“ stattzufinden hat und dort, wo es nicht möglich ist, die Erwerbsarbeit aber nicht der zwingend notwendigen Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens dient, diese Erwerbsarbeit untersagt wird. Per Verordnung. Als Rechtsgrundlage könnte insoweit der § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG in Verbindung mit der Musterquarantäne-Anordnung des Bundes in Ansatz gebracht werden. Denn § 28a Abs 1 Nr. 14 IfSG sieht als „notwendige Schutzmaßnahme“ die „Schließung oder Beschränkung von Betrieben, Gewerben, Einzel- oder Großhandel“ vor. Sicherlich ist die Debatte schwierig, wer denn die zwingend für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens erforderliche Erwerbsarbeit leistet, aber diese Debatte ist notwendig, wenn die Kontaktreduzierung sich nicht allein auf den privaten Bereich konzentrieren soll. In der noch aktuellen (wir haben Samstag) Berliner RVO findet sich aus meiner Sicht schon eine ganz gute Aufzählung. So nimmt der § 9 Abs. 2 Nr. 2 Bezug auf Personen, deren Tätigkeit für die Aufrechterhaltung a) der Pflege diplomatischer und konsularischer Beziehungen, insbesondere als Mitglieder des diplomatischen und konsularischen Dienstes, von Volksvertretungen und Regierungen, b) der Funktionsfähigkeit von Volksvertretung, Regierung und Verwaltung des Bundes, der Länder und der Kommunen, c) der Funktionsfähigkeit der Verfassungsorgane des Bundes und der Länder, d) der Funktionsfähigkeit der Organe der Europäischen Union und internationaler Organisationen oder e) der länderübergreifenden Kriminalitätsbekämpfung durch Polizeibehörden zwingend erforderlich sind. Der § 9 Abs. 3 wiederum erwähnt Personen, deren Tätigkeit für die Aufrechterhaltung a) der Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, unterstützendes medizinisches Personal und 24-Stunden-Betreuungskräfte, b) der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, c) der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege und d) der Funktionsfähigkeit von kritischen Infrastrukturen zwingend erforderlich sind.

Es bleibt die Frage, weshalb es keine Verordnung gibt, die HomeOffice verpflichtend vorschreibt und dort wo dies nicht möglich ist und keine Ausnahme vorliegte die Betriebsstätte dicht macht. Die Ausnahmen sollten sich an § 9 Abs. 3 der RVO Berlin orientieren, wobei die kritischen Infrastrukturen noch untersetzt werden müssen.

Ja, das ist hart. Aber die Situation ist auch dramatisch. Und es ist eben nicht nachvollziehbar, wie Grund- und Freiheitsrechte entgegen klarer gesetzlicher Vorgaben (siehe III.) eingeschränkt werden, aber das Berufsleben „normal“ weitergeht. Ein solcher harter Schritt verlangt zwingend eine materielle Absicherung der Betroffenen und das wird nicht billig. Aber wenn die Rhetorik des Notfalls ernst gemeint ist, dann kann das keine Rolle spielen.

III. Grund- und Freiheitsrechte wahren – Gesetzliche Vorgaben einhalten

Anders als noch im Frühjahr hat der Bundesgesetzgeber mit dem neuen § 28a IfSG Grundlagen für die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten geschaffen. Danach werden in Absatz 1 „notwendige Schutzmaßnahmen“ beispielhaft aufgeführt. Im Absatz 2 wiederum werden für bestimmte „notwendige Schutzmaßnahmen“ besondere Bedingungen formuliert:

„Die Anordnung der folgenden Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 in Verbindung mit § 28 Absatz 1 ist nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre:

1. Untersagung von Versammlungen oder Aufzügen im Sinne von Artikel 8 des Grundgesetzes und von religiösen oder weltanschaulichen Zusammenkünften nach Absatz 1 Nummer 10,

2. Anordnung einer Ausgangsbeschränkung nach Absatz 1 Nummer 3, nach der das Verlassen des privaten Wohnbereichs nur zu bestimmten Zeiten oder zu bestimmten Zwecken zulässig ist, und
3. Untersagung des Betretens oder des Besuchs von Einrichtungen im Sinne von Absatz 1 Nummer 15, wie zum Beispiel Alten- oder Pflegeheimen, Einrichtungen der Behindertenhilfe, Entbindungseinrichtungen oder Krankenhäusern für enge Angehörige von dort behandelten, gepflegten oder betreuten Personen.

Schutzmaßnahmen nach Absatz 1 Nummer 15 dürfen nicht zur vollständigen Isolation von einzelnen Personen oder Gruppen führen; ein Mindestmaß an sozialen Kontakten muss gewährleistet bleiben.“

Die gesetzgeberischen Vorgaben sind m.E. an dieser Stelle ziemlich klar. Erst wenn alle anderen getroffenen Schutzmaßnahmen nicht mehr weiterhelfen kann zu Ausgangssperren gegriffen werden. Dies nehme ich aus der Formulierung „soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. In der noch sehr dünnen juristischen Literatur wird von „ultima ratio“ in Bezug auf die Maßnahmen nach Absatz 2 gesprochen (vgl. Eibenstein, COVuR 2020, 856).

Diese Vorgabe des § 28a Abs. 2 IfSG ist im Vergleich zum Frühjahr 2020 neu. Bei dem derzeit stattfindendne Überbietungswettbewerb von Vorschlägen zu Maßnahmen gegen das Corona-Virus spielt diese Gesetzesänderung aber keine Rolle. Sie wird ignoriert. Als wäre sie nie aufgeschrieben und beschlossen worden. Der Gesetzgeber schweigt, als hätte er schon vergessen was er beschlossen hat. Das Land Baden-Württemberg zum Beispiel hat bereits Ausgangssperren verhängt. Danach darf jemand seine Wohnung zwischen 20.00-5.00 Uhr verlassen um zum Beispiel zur Kita oder zur Schule zu gehen (wer auch immer das zwischen 20.00 – 5.00 Uhr macht), auch der Hund darf Gassi geführt werden, aber nach 20.00 Uhr spazieren gehen ist nicht zulässig, Rad fahren auch nicht.Schon deshalb dürfte diese Verordnung an der Stelle nicht tragfähig sein, aber das sei jetzt mal dahingestellt.

Ich halte alle Ausgangssperren wegen § 28a Abs. 2 Nr. 2 IfSG für nicht zulässig. Denn ich lese den § 28a Abs. 2 IfSG so, dass zunächst erst andere Maßnahmen (nicht nur Schutzmaßnahmen) getroffen werden müssen und nur wenn diese nicht helfen, zu Ausgangssperren gegriffen werden darf. Eben ultima ratio. Die Maßnahmen unter I. werden meines Wissens nicht mal geplant und die Maßnahmen unter II. können noch gar nicht auf ihre Wirksamkeit überprüft werden, weil sie erst noch ergriffen werden. Ausgangssperren zu verhängen ist deshalb eben meiner Meinung nach rechtlich derzeit nicht möglich.

Was allerdings möglich ist und vor allem notwendig: Physische Kontakte mit anderen Menschen reduzieren. Also einfach machen, dafür bedarf es keiner Verordnung.

 

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