Über Alternativen zum Zweistimmenwahlrecht reden

Diese verflixte Sache mit dem Wahlrecht in Deutschland.

Der gerade gewählte neue Bundestag besteht aus 709 Abgeordneten. Gesetzlich vorgeschrieben sind 598. Der Tagesspiegel erklärt in diesem Artikel, wie es zu der Vergrößerung kam. Ich versuche es mal kurz so zusammenzufassen: Das Grundproblem ist, dass wir Erst- und Zweitstimme haben. Mit der Erststimme wird jeweils ein*e Bewerber*in im Wahlkreis (Direktmandat) gewählt, mit der Zweistimme eine Partei. Die Zusammensetzung des Bundestages muss dem Zweitstimmenverhältnis auf Bundesebene, das sind die von den Parteien erreichten Prozente, entsprechen. Berücksichtigt werden dabei bedauerlicherweise nur die Parteien, die über die 5% Sperrklausel kommen. Dass nach der Auszählung aller Stimmen die Sitzverteilung im Bundestag dem prozentualen Anteil der Parteien entspricht, gelingt aber nicht immer. Dies liegt daran, dass in den einzelnen Bundesländern zum Teil Vertreter*innen einer Partei mehr Wahlkreise gewinnen, als dieser Partei nach den Prozenten an Sitzen zustehen würden. Das sind dann diese Überhangmandate, von denen immer die Rede ist. Damit das mit den Sitzen, die einer Partei nach Prozenten zustehen, wieder in Übereinstimmung kommt, gibt es sog. Ausgleichsmandate. Die CSU produzierte 7 Überhangmandate, die CDU 36 Überhangmandate und die SPD 3.  Am Einfachsten ist das mit den Überhangmandaten am Beispiel Bayerns zu erklären. Die CSU hat dort 38,8% der Zweistimmen erzielt, aber alle Direktmandate gewonnen. Damit hat die CSU in Bayern 46 Sitze. Dies entspricht der Hälfte der gesetzlich an Bayern fallenden Mandate, was aber mit dem Zweitstimmenergebnis von 38,8% der CSU in Bayern und 6,2% bundesweit nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Denn 6,2% von gesetzlich 598 Bundesetagssitzen sind bei weitem nicht 46 Sitze. Deshalb müssen solche Überhangmandate (nach einem komplizierten Rechenverfahren) ausgeglichen werden, so dass am Ende die Bundestagsmandate für die CSU dem Verhältnis der Zweitstimmen der CSU entsprechen. Deshalb findet ein Ausgleich statt. Je mehr Parteien in den Bundestag einziehen, desto mehr Ausgleich findet auch statt. Für die Wahl 2017 bedeuten die 7 Überhangmandate der CSU, die 36 Überhangmandate der CDU und die 3 Überhangmandate der SPD dazu, dass die SPD 19  Ausgleichsmandate erhielt, die FDP 15, die AfD 11 und Linke und Grüne jeweils 10 Ausgleichsmandate.

Bis Dienstag morgen habe ich dann immer gesagt, es gibt ja eine wundervolle Alternative, mit DIE LINKE wäre das nicht passiert. Diese ist der Gesetzentwurf der LINKEN aus der 17. Wahlperiode. Aber dann setzte ich mich Dienstag morgen an die Ergebnisse der Bundestagswahl im Detail und futsch war sie, diese Argumentation. 🙁 Die Ergebnisse der Bundestagswahlen haben sie gekillt. Der Bundestag wäre wohl nicht ganz so groß geworden, aber er wäre auch deutlich größer geworden. Die Alternative des damaligen Gesetzentwurfes bestand darin, nicht auf der Ebene der Bundesländer die Direktmandate mit den Listenmandaten zu verrechnen, sondern auf der Bundesebene. Das hätte bis auf eine Ausnahme und eben bis zum letzten Sonntag nie zu einer Vergrößerung des Bundestages geführt. Nach dem Gesetzentwurf der LINKEN hätte es aber diesmal die 7 Überhangmandate der CSU gegeben und die CDU hätte es wohl immer noch auf 17 Überhangmandate geschafft. Das liegt vor allem daran, dass die von der CDU gewonnenen Direktmandate deutlich mehr sind als ihr nach dem schlechten Zweitstimmenergebnis an Sitzen im Bundestag zugestanden hätte. Kurz und gut, auch mit dem Gesetzentwurf der LINKEN wäre der Bundestag deutlich größer geworden.

Was nun? Ich könnte erneut meinen von der damaligen Fraktion DIE LINKE abgelehnten Gesetzentwurf ins Spiel bringen. Die Grundidee dahinter ist, dass es keine Direktmandate gibt, sondern nur noch Listen von Parteien (und nach meinem Gesetzentwurf auch Wählervereinigungen). Die Sitzverteilung würde sich dann nach dem Verhältnis der Zweitstimmen richten, das Problem mit Überhang- und Ausgleichsmandaten gäbe es dann nicht mehr. Und viele andere Probleme auch nicht. Allerdings würde ich den Gesetzentwurf heute an einer Stelle anders fassen. Statt der 3 Stimmen, die auf Kandidierende verteilt werden können, würde ich auf ein Präferenzwahlsystem, auch STV -Single Transferable System genannt, umsteigen (die Erklärung im Link mit Schokolade und Orange ist übrigens großartig!). Die Wählenden könnten eine Rangfolge aller (oder einiger) Kandidierenden vornehmen, d.h. auch die Parteien entscheiden nicht allein über die Reihenfolge der in den Bundestag einziehenden Kandidierenden. Eine Landesliste ist damit veränderbar. Und hier könnte auch auf internationale Erfahrungen zurückgegriffen werden. By the Way: Sollte eine Wahlbeobachtung in Malta stattfinden um das System zu verstehen, ich würde da gerne mitfahren ;-).

Ich bin also schon seit einigen Jahren für ein Einstimmenverhältniswahlrecht und glaube, wir werden um seine Einführung nicht herumkommen. Alle anderen Vorschläge führen zu juristischen Problemen, blähen den Bundestag auf oder sind politisch nicht akzeptabel.

(1) Ein Einstimmenmehrheitswahlrecht, also nur noch Direktwahl der Abgeordneten in Wahlkreisen, würde nicht das gesamte politische Spektrum wiedergeben. Bei der Bundestagswahl 2017 würde das beispielsweise dazu führen, dass die FDP gar nicht im Bundestag vertreten wäre. Angesichts ihres Zweitstimmenergebnisses halte ich das aus demokratietheoretischen Gründen für nicht akzeptabel.

(2) Ein sog. Grabenwahlsystem, wie in der 17. Wahlperiode am Rande immer auch mal in der Debatte, stellt m.E. auch keine Lösung dar. Nach diesem System würden z.B. 299 Abgeordnete direkt gewählt (Graben 1) und 299 Abgeordnete über Listen (Graben 2). Die Größe von Graben 1 und Graben 2 kann variieren. Das eine hätte mit dem anderen nichts zu tun, soll heißen es würde die Verrechnung Direktmandate und Landesliste nicht mehr stattfinden. Wie aber beim Einstimmenmehrheitswahlrecht würde hier aus meiner Sicht das Problem bestehen, dass das gesamte politische Spektrum nicht entsprechend abgebildet werden könnte.

(3) Wenn man beim Zweistimmenwahlrecht bleibt, bleibt es bei Überhang- und Ausgleichsmandaten. Die Idee, Wahlkreise zu vergrößern finde ich falsch. Gerade die Kollegen*innen in Flächenwahlkreisen weisen zu Recht darauf hin, dass noch größere Wahlkreise noch weniger Kontakt zu Bürger*innen bedeuten würde. Die Variante, die Überhangmandate nicht auszugleichen, wird praktisch schwierig. Denn das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, es sind maximal 15  nicht auszugleichende Überhangmandate hinnehmbar. Bei der Bundestagswahl 2017 waren es aber mehr als 15 Überhangmandate. Und dann gibt es noch die Idee, wenn mehr Direktmandate als Listenmandate anfallen, dass bestimmte Direktmandate dann nicht mehr für einen Sitz im Bundestag reichen. Hier hat das Bundesverfassungsgericht (Rdn. 133)  eine klare Aussage getroffen:

„Durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten soll zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben (…). Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei zur Verrechnung nicht ausreicht.“

Aus meiner Sicht ist es also sinnvoll über ein Einstimmenverhältniswahlrecht zu reden. Denn das Wahlrecht wird zwangsweise im neu gewählten Bundestag ein Thema sein müssen.

6 Replies to “Über Alternativen zum Zweistimmenwahlrecht reden”

  1. Na ja, die Konsequenz, der Abschaffung des Direktwahlrechts, dass die Regionen nicht mehr direkt im Bundestag vertreten wären, was dazu führen würde, dass Städte im Vergleich zu ländllichen Regionen, stärker in der Politik vertreten wären, sollte man jedoch auch bedenken, egal ob man sie am Ende positiv oder negativ betrachtet. Ich bewerte sie eher negativ, da ich befürchte, dass die Bürger in vielen ländlichen Regionen ihren direkten Draht in den Bundestag verlieren könnten und z.B. Infrastrukturprobleme in ländlichen Regionen, die nur durch Bundespolitik lösbar wären (z.B. Autobahnen oder das bundesweite in vielen ländlichen Regionen zusätzlich schlecht ausgebaute Eisenbahnnetz im schlechten Zustand), dort dann übersehen werden könnten.

    Daher denke ich, dass es sehr wichtig wäre, dass eine Form der direkten Vertretung der Regionen im Bundestag nachwievor vorhanden wäre. Eine Alternative zum Direktwahlsystem wäre evtl. eine Auslosung der Direktsitze unter allen Wahlberechtigten in den jeweiligen Wahlkreisen. Diese wäre letztendlich politisch neutral und betrachte ich aktuell zumindest als mögliche Wahloption in Direktwahlen, und in veränderter Form auch in Verhältniswahlen, wäre aber womöglich auch dazu geeignet, die Direktwahl komplett zu ersetzen, so dass auf der einen Seite die Repräsentation der Regionen im Bundestag bestehen bleibt und auf der anderen Seite in der Verhältniswahl das gesamte politische Spektrum abgedeckt werden könnte.

    Alternativ könnte man die Auslosung zusätzlich nur auf die Wahlberechtigten beschränken, die in keiner der Wahllisten und Parteien der Verhältniswahl kandidieren, um so das Risiko der zufälligen Bevorteilung bestimmter Parteien der Verhältniswahl zumindest zu reduzieren.

  2. gegen auslosung der ehemaligen direktwahlkeise habe ich nichts. das wäre allerdings ein noch größerer bruch im wahlrecht, für den es m.e. eine längere debatte brnotigt.
    das mit dem regionalen proporz innerhalb eines bundeslandes sehe ich nicht als problem: 1) halte ich es nicht für ausgemacht, dass ländliche regionen dann keine abgeordneten mehr hätten und 2) gibt es ein veritables interesse aller parteien auch diese regionen zu betreuen. also werden sich abgeordnete finden, die sich um eine solche region kümmern.

  3. Zu 1) Ok, es ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario, dass alle Abgeordneten nur noch aus Städten kämen, aber es ist leider auch unwahrscheinlich, dass bei einem reinen Verhältniswahlrecht aus allen Regionen Abgeordnete kämen. Ein paar Regionen würden womöglich übersehen werden.

    Zu 2) Ok, daran ist etwas dran und ich muss leider doch allgemein zugeben, dass das Problem mit der Unterrepräsentation von ländlichen Regionen anscheinend auch nicht automatisch durch eine Direktwahl gelöst werden kann. Der US-Kongress besteht auch größtenteils aus direkt gewählten Abgeordneten und trotzdem geht es der öffentlichen Infrastruktur und noch weiteren relevanten Öffentlichkeitsbereichen in ländlichen Regionen der USA ziemlich schlecht. Dieses Problem der Unterrepräsentation von ländlichen Regionen lässt sich womöglich nicht so einfach lösen, auch nicht durch die Direktwahl.

    Dennoch denke ich, dass wir aus anderen Gründen über ein Auslosungssystem als Ersatz für die Direktwahl nachdenken sollten, statt die ersatzlose Streichung der selben, auch wenn es juristisch gesehen tatsächlich schwieriger umsetzbar wäre, jedoch denke ich, dass so ein System das beste Mittel wäre, um einen erneuten Niedergang der Demokratie zu verhindern.

    Es wäre auf der einen Seite womöglich der beste Weg, extremistische Kräfte, wie aktuell die AfD, in Schach zu halten. Die Hälfte des Bundestags würde dadurch nämlich immer aus Leuten bestehen, die nicht Mitglied der Verhältniswahl-Fraktionen wären und damit auch nicht mit einer Partei und einem Parteiprogramm assoziiert wären und damit auch nicht mit extremistischen Parteien. Dadurch könnte eine extremistische Partei alleine nie mehr die absolute Mehrheit erlangen, sondern müsste sich Mehrheiten für ihre Positionen im Bundestag unter Einbeziehung der ausgelosten Hälfte des Bundestags immerwieder neu suchen.

    Auf der anderen Seite würde ein handlungsunfähiges Parlament bei Zersplitterung des Verhältniswahlanteils in viele verschiedene Parteien unwahrscheinlicher werden, weil der Bundestag dann nicht nur aus Partei-Ideologen bestehen würde, die auf keinen Fall von ihrem Parteiprogramm abweichen wollen, so wie es im Parlament der Weimarer Republik der Fall war, sondern zur Hälfte auch immer aus mehr oder weniger politisch neutralen Abgeordneten, die eher dazu bereit wären, zu diskutieren. Das würde bedeuten Parteien wären nicht mehr alleine darauf angewiesen, andere Parteien von ihren Positionen zu überzeugen, von denen viele eventuell nicht bereit wären, von ihrem Programm abzuweichen, sondern könnten sich Mehrheiten auch dadurch suchen, Abgeordnete der ausgelosten politisch neutraleren Hälfte des Bundestags von ihren Positionen zu überzeugen.

    Alternativ könnte man im Verhältniswahlrecht, einerseits den Nichtwähleranteil in neuer Weise berücksichtigen, indem man ihn ebenfalls unter allen Wahlberechtigten auslost statt sie auf die gewählten Parteien umzulegen, und andererseits eine neue Wahloption zur Auslosung unter allen nichtkandidierenden Wahlberechtigten einführen, die es Wählern endlich ermöglichen würde, auch bewusst nein zum gesamten Angebot zu sagen. Diese Optionen würden zusätzlich dazu führen, dass nicht diskussionsbereite Partei-Ideologen bei einem sehr hohen Nichtwähler- und/oder Auslosungswähleranteil einen noch kleineren Teil des Parlamentes ausmachen würden und dadurch die Gefahr der Handlungsunfähigkeit des Parlamentes noch weiter sinken würde.

    Zusätzlich könnte man dank dieser Maßnahmen schließlich auch auf die 5%-Hürde verzichten. Ok, es würde unweigerlich nachwievor eine physikalische Hürde geben, die bei 299 Verhältniswahlsitzen bei etwa 0,33% liegt. Jedoch gäbe es hier die Möglichkeit, die Stimmen für unter 0,33%-Parteien, statt sie auf die anderen Parteien umzulegen, auf den Nichtwähler- oder den Auslosungswähleranteil aufzuschlagen.

  4. ich habe ja gar nichts gegen die idee des auslosens :-). ich glaube nur, man braucht mehr zeit um sie mehrheitsfähig zu machen, als 4 jahre.

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  6. Pingback: Erneut Wahlrechtsreform – Blog von Halina Wawzyniak

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