Grundkurs Wahlrecht

Da hat also das Verfassungsgericht von Schleswig-Holstein zum dortigen Wahlrecht verhandelt und eine wenig überraschende Entscheidung getroffen. Es wird vorgezogene Neuwahlen geben und ein neues Landeswahlgesetz muss her. Das es soweit kommt ist diesem Urteil zu verdanken.  Das Verfassungsgericht hat noch ein zweites Urteil gefällt, welches allerdings im Wesentlichen die Ausführungen aus dem ersten Urteil wiederholt. (Das zweite Urteil liest sich übrigens deutlich einfacher, wenn zunächst das erste Urteil gelesen wird.) Wer einen Grundkurs zum Thema Wahlrecht besuchen will, dem sei die Lektüre des ersten Urteils empfohlen.

Das Verfassungsgericht kommt zu dem Ergebnis:Das geltende Landeswahlgesetz ist aber seinerseits in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität in wesentlichen Regelungen (§ 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2, § 3 Abs. 5 sowie § 16 LWahlG) nicht mehr mit der Landesverfassung (Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 LV) vereinbar.“ Damit hat das Verfassungsgericht aber gesagt, dass die Auslegung oder Interpretation des bisherigen Wahlgesetzes völlig in Ordnung war, das Wahlgesetz an sich aber mit der Landesverfassung nicht vereinbar sei.

Was ist jetzt aber eigentlich womit nicht vereinbar und wie funktioniert das eigentlich so mit den Wahlen?

Der Wähler/Die Wählerin hat zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wählt er/sie eine/n Kandidaten/in direkt in den Landtag, das nennt sich Mehrheitswahl (in Schleswig-Holstein werden von 69 Sitzen 40 durch diese Art der Wahl besetzt). Wer nicht gewinnt ist raus. Mit der zweiten Stimme wählt er/sie eine Partei und dann nennt sich das Verhältniswahl. Insgesamt nennt sich das Konstrukt personalisierte Verhältniswahl. Bei diesem Konstrukt soll am Ende das Stimmenergebnis der Verhältniswahl (also die auf eine Partei auf Grund der Zweitstimme entfallenden Prozente) sich auch bei der Verteilung der Sitze im Landtag wiederspiegeln. Daraus wiederum folgt nun, dass wenn eine Partei bei den Zweistimmen sagen wir mal 20,29 % der Stimmen hat und der Landtag 69 Sitze, auf diese Partei 14 Sitze entfallen. Hat diese Partei nun beispielsweise 4 Direktmandate gewonnen, verbleibt es bei den 14 Sitzen, die restlichen 10 Sitze werden aus der sog. Landesliste (der Liste der Partei für die Wahl) besetzt. Schwierig wird es nun, wenn die Partei zwar nur 20,29 % der Stimmen -also 14 Sitze- errungen hat, dafür aber 17 Direktmandate gewonnen hat. Die drei über den Durst heißen allgemein Überhangmandete und sind das Übel, welches aus dem personalisierten Verhältniswahlrecht folgt. Dieses Übel hat nicht nur das Problem des sog. negative Stimmgewichts hervorgebracht (ich erreiche durch meine Zweitstimme möglicherweise etwas anderes als ich eigentlich will, nämlich einen Sitz weniger) sondern auch das Problem mit den sog. Ausgleichsmandaten. Und nun sind wir in Schleswig-Holstein.

Die CDU hat bei der letzten Wahl elf Sitze mehr errungen, als ihr nach den auf sie entfallenden Zweistimmen zustehen würde. Mithin hat sie elf Überhangmandate produziert. In Schleswig-Holstein heißen die errungenen (Direkt)Mandate, die über die durch eine Partei erreichten Prozente hinausgehen „Mehrsitze“. Diese Bezeichnung ist nicht unwichtig, darauf kommt es nämlich im Weiteren an. Diese Mehrsitze verbleiben der jeweiligen Partei, es handelt sich ja insoweit um direkt gewählte Abgeordnete.

Was macht man nun, wenn die CDU bei 69 Landtagssitzen elf Sitze mehr hat, als ihr nach Prozenten zustehen (Achtung nicht den Rechenfehler machen und auf die 69 Sitze die elf Sitze einfach draufschlagen). Es  wird nun kompliziert: Es sollen solange „weitere Sitze“ verteilt werden, bis der letzte Mehrsitz (also Sitz den die CDU mehr hat als ihr nach Prozenten zusteht)  gedeckt ist, man könnte auch sagen ausgeglichen ist. Allerdings darf die Anzahl der weiteren Sitze das Doppelte der Anzahl der Mehrsitze nicht übersteigen. Alles klar? Also: wenn es wie hier elf Mehrsitze gibt, darf es nicht mehr als 22 weitere Sitze geben – und schon hat der Landtag nicht 69 Mitglieder sondern 91 Mitglieder.

Wenn jetzt ein Schlaumeier kommt und sagt, die „weiteren Sitze“ sind also „Ausgleichsmandate“ dann liegt er oder sie falsch. Jedenfalls nach der einfach gesetzlichen Auslegung des Urteils des Verfassungsgerichtes. Denn das Verfassungsgericht beschäftigt sich über viele Seiten hinweg mit der Frage, wie denn der Begriff „weitere Sitze“ aufzufassen sei und ob es um einen „kleinen“ oder „großen Ausgleich“ geht.  Und da es am Ende meint, das Gesetz sehe nur einen kleinen Ausgleich vor, kommt es zu dem Ergebnis, dass das Gesetz mit der Verfassung nicht vereinbar sei. Konkret sieht das in Schleswig-Holstein so aus: Bei den sich aus den 11 Überhangmandaten ergebenden 22 weiteren Sitzen wird auch auch die CDU berücksichtigt (bitte nicht fragen, warum, ich verstehe es nicht, es ist absurd!) und zwar mit 8 Sitzen und entsprechend des Prozentanteils die anderen Fraktionen mit 14 Sitzen. Damit bleiben aber drei Mehrsitze „ungedeckt“ was aufgerundet 95 Sitze im Parlament ergibt.

Jetzt geht es munter drunter und drüber im Urteil mit der Verwendung der Begriffe Ausgleichsmandate und „weitere Mandate„. Der Kern des Problems zwischen „kleinem“ und „großem Ausgleich“ ist aber die Frage, ob bei der Verteilung der hier anfallenden 22 „weiteren Sitze“ – die wohlgemerkt allein auf Grund der Überhangmandate entstehen- die Verursacher der Überhangmandate berücksichtigt werden dürfen. Das Gericht erklärt dazu in Ziffer 66 sehr anschaulich: dass `Mehrsitze` nur für eine Partei entstehen, `weitere Sitze` aber für den gesamten Landtag“. Damit ist es so, dass nach der bisherigen Rechtslage auch die Verursacher der Mehrsitze (Überhangmandate) bei den „weiteren Sitzen„, also bei der Verteilung der 22 weiteren Sitze berücksichtigt werden. Und genau das kritisiert das Gericht und meint, es sei mit der Verfassung nicht vereinbar. Es nennnt die Regelung einen „begrenzten Mehrsitzausgleich„.

Eigentlich liegt die Verfassungswidrigkeit auf der Hand und es ist verwunderlich, dass dies nicht von Anfang an aufgefallen ist. Gerade die Produktion von Überhangmandaten führt ja zur Verzerrung des Stimmergebnisses, d.h. führt dazu, dass die Zahl der Abgeordneten dieser Partei nicht das wiederspiegelt was diese Partei an Prozenten erreicht hat. Wenn ich sie nun aber auch noch berücksichtige bei den „weiteren Mandaten“ kann ich dieses Zerrbild kaum beheben.

Doch so streng ist das Verfassungsgericht nicht. Es sagt lediglich, dass „in der mittlerweile eingetretenen politischen Realität“ die Regelung nicht mit der Landesverfassung vereinbar sei, weil dies dazu führe, „dass der Landtag die in Art. 10 Abs. 2 Satz 2 LV vorgeschriebene Abgeordnetenzahl von 69 regelmäßig verfehlt und so Überhangmandate und ihnen folgend Ausgleichsmandate erst in einem nicht mehr vertretbaren Ausmaß entstehen können“. Da stellt sich  doch die Frage, ob es ohne die Selbstverpflichtung mit der Höchstzahl der Abgeordneten anders aussehen würde mit der Regelung des „begrenzten Mehrsitzausgleiches“? Ich denke nicht und die nachfolgende grundsätzliche Argumentation des Verfassungsgerichts legt nahe, dass es auch tatsächlich so ist, dass der „begrenzte Mehrsitzausgleich“ an sich verfassungswidrig ist.

Das Verfassungsgericht argumentiert u.a.: „Für den Fall des Entstehens von Überhangmandaten muss das Wahlgesetz Ausgleichsmandate vorsehen. […] Der Gesetzgeber hat dafür Sorge zu tragen, dass die in der Verhältniswahl angelegte Übereinstimmung zwischen Stimmenverhältnis und Sitzverhältnis wieder hergestellt wird und es so bei einer  repräsentativen Wiedergabe des Wählerwillens bleibt,…Das Verfassungsgericht argumentiert weiter, dass auch beim personalisierten Verhältniswahlrecht der Erfolgswert gegeben sein muss. Daraus folgt für das Wahlgesetz, dass die Stimme einer und eines jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche Erfolgschance haben muss. Alle Stimmen sollen den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben.“ Genau das passiert aber nicht, wenn es nur einen „begrenzten Mehrsitzausgleich“ gibt, egal ob eine Höchstzahl für das Parlament festgelegt ist oder nicht. Das Gericht stellt dies wie folgt dar:  Dabei tritt das Ungleichgewicht erst in der Kombination von Erst- und Zweitstimme zutage. Über die Erststimme werden in den Wahlkreisen nach dem Mehrheitswahlrecht 40 Direktmandate ermittelt. An ihrer Zahl ändert sich durch das Entstehen von ungedeckten Mehrsitzen nichts. Auch die Zweitstimmen  erfahren – isoliert betrachtet – keine ungleiche Gewichtung. Die Ungleichheit ergibt sich erst daraus, dass für die Mehrsitzpartei – wenn Mandate ungedeckt bleiben – nicht nur die Zweitstimmen, sondern auch die erfolgreichen Erststimmen zählen und deren Wählerinnen und Wähler damit einen stärkeren politischen Einfluss bekommen als die der anderen Parteien.“ Bereits an einer Stelle weiter vorn im Urteil formulierte das Gericht: Generell können Überhangmandate entstehen, wenn Persönlichkeitswahl und Verhältniswahl miteinander verbunden werden. Die für diesen Fall vorgesehene Gewährung von Ausgleichsmandaten stellt sicher, dass das Verhältnis der Sitze der einzelnen Parteien dem Verhältnis der für die einzelnen Landeslisten abgegebenen Stimmen entspricht, so dass sich die politischen Gewichte durch das Entstehen von Überhangmandaten im Ergebnis nicht verändern.“

Unscheinbar in Ziffer 123 kommt dann aber der Grund für den Urteilsspruch und die Antwort darauf, warum das Verfassungsgericht nicht generell den „begrenzten Mehrsitzausgleich für verfassungswidrig hält. „Unter Rückgriff auf den strengen Grundsatz der Wahlgleichheit des Art. 3 Abs. 1 LV ergibt sich daraus, dass nach der spezielleren Vorschrift des Art. 10 Abs. 2 Satz 5 LV der Vollausgleich die Regel, der Teilausgleich hingegen eine zwingend begründungsbedürftige Ausnahme darstellt.“ Im konkreten Fall findet es keine „begründugnsbedürftige Ausnahme“ und ich versteige mich jetzt zu der These, dass es diese auch nicht geben kann.

Als Lösung wird -auch im Urteil- einiges debattiert, so zum Beispiel die Verringerung der Direktwahlkreise. Das finde ich alles wenig innovativ. Das Wahlsystem bleibt damit kompliziert, die Überhangmandate werden durch eine Verringerung der Direktwahlkreise auch nicht ausgeschlossen und so würde ich -wenn mich jemand fragen würde-  meinen Vorschlag zum Wahlrecht, der primär für die Bundesebene gedacht war, auch für Schleswig-Holstein empfehlen, zumindest das 3 x 3 Modell :-). Mit der Erfolgswertgleichheit gäbe es dann jedenfalls kein Problem und Überhangmandate entstehen auch nicht und so ganz nebenbei ist das ein Reformvorschlag einer Reformerin.

3 Replies to “Grundkurs Wahlrecht”

  1. Oh ha, Rechtsanwältin mit ausgeprägten didaktischen Fähigkeiten. Ein staubtrockenes Urteil lesenswert aufbereitet, den eigenen Vorschlag zum Wahlrecht klug eingebunden und im letzten Satz noch ein wenig Retourkutsche ins Saarland gefahren.

  2. Chic, chic;
    im Detail zwar immer noch ausbaufähig (was ist das nicht), aber in der Summe eine gelungene Darstelung.
    Problematisch im Urteil sind aber die langen Fristen, die zugesatnden werden.
    Führen zum Problem, dass die Bevölkerungserhebung, die in S.-H. ab 2011 vonstatten gehen wird und deren Ergebniss erst im November 2012 bekannt gegeben wird, bei einer Reform, die Neuziehung von Wahlkreisen (egal ob Einerwahlkreise oder Mehrpersonenwahlkreise) vorsieht, halt nicht berücksichtigt werden kann. Insofern ist schon die nächste LTW anfechtbar (findet nach Erhebung der Daten aber vor deren Veröffentlichung statt – sprich: die neuen Wahlkreise werden nicht unbedingt korrekt und innerhalb der erlaubten Größen entstehen;: die nächste LTW kann u.U. dann auch wieder einkassiert werden (eine Kombination aus knappen Wahlergebniss und unzulässige Größenverhältnisse in den Bevölkerungsmäßig falsch erfassten Wahlkreisen kann dann dazu führen – muss aber nicht).
    In der Summe ein gutes Urteil, aber mit dem Makel zu langer Fristen (zumal es eigentlich ja schon eine 1. Lesung im Landtag zu dem Thema gab und es schneller machbar seien müsste).

  3. „Im konkreten Fall findet es keine “begründugnsbedürftige Ausnahme” und ich versteige mich jetzt zu der These, dass es diese auch nicht geben kann.“

    Die Ausnahme kann es schon geben: Etwa wenn der Ausgleich von eventuell möglichen Überhangmandaten einer kleinen Partei – in Schleswig-Holstein bspw. des SSW – verhindert werden soll, der das Parlament übermäßig vergrößern würde.

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