Besser als erwartet – Der Ampelvorschlag zum Wahlrecht

Die Ampel hat ihren Wahlrechtsvorschlag vorgelegt und dieser ist, das kann schon gesagt werden, besser als erwartet.

Die Notwendigkeit der Reform des Wahlrechts und damit der Rückführung der Zahl der Abgeordneten auf die gesetzliche Größe von 598 Abgeordneten wird im Gesetzentwurf vor allem mit der Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments begründet. Das ist aus meiner Sicht ein legitimer Grund das Wahlrecht zu ändern. Es ist auch überzeugend darauf zu verweisen, dass „steigende Kosten des parlamentarischen Betriebs“ nicht der entscheidende Grund sind. Denn Demokratie von Kosten abhängig zu machen stellt am Ende Demokratie in Frage. Nicht überzeugend ist der Verweis auf Akzeptanzprobleme eines großen Bundestages. Das ist immer mal nur ein kurzer Aufreger.

Die Problemursache des wachsenden Bundestages wird im Gesetzentwurf richtig beschrieben.

„Überhangmandate entstehen also im bisherigen Wahlsystem nicht durch den absoluten Erfolg von Parteien in den Wahlkreisen, sondern durch deren relativen Misserfolg. Nicht nur werden Wahlkreise mit tendenziell immer kleiner werdenden Margen gewonnen, damit auch mit einer wachsenden Mehrheit von Wählerinnen und Wählern, die den gewählten Kandidaten nicht unterstützt haben, vielmehr macht die stärkere Fragmentierung der Zweitstimmenergebnisse auch Überhangmandate häufiger. Diese Überhangmandate konnten dazu führen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Parlament nicht dem Verhältnis der Zweitstimmen zueinander und damit nicht der relativen Stärke der Parteien entsprachen. Damit stellten Überhangmandate, wie es das Bundesverfassungsgericht mehrfach entschieden hat, den >Grundcharakter< des Systems der Verhältniswahl in Frage. Nach seiner Rechtsprechung bedurften Überhangmandate deswegen zunächst ab etwa der Zahl einer halben Fraktionsstärke (15 Mandate) der Kompensation durch Ausgleichsmandate (BVerfGE 131, 316, 340, 357, 368 [2012]). Für gewonnene Überhangmandate einer Partei mussten den anderen Parteien im Verhältnis ihrer Stärke weitere Mandate zugeteilt werden, um die politischen Mehrheitsverhältnisse der Wahl nach Zweitstimmen abzubilden. Es ist dieses Erfordernis, das zur drastischen Vergrößerung des Bundestages geführt hat. Auf ein Überhangmandat entfielen bei der Bundestagswahl 2021 bis zu 16 Ausgleichsmandate (Zwischenbericht der Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit, BTDrucks. 20/3250, S. 10).“

 

Der grundsätzliche Lösungsansatz des Ampelvorschlages ist, soweit am Zwei-Stimmen-Wahlrecht festgehalten wird, aus meiner Sicht überzeugend. Selbstverständlich halte ich nach wie vor das reine Verhältniswahlrecht mit Veränderungsmöglichkeit der Listen durch die Wählenden nach wie vor für die beste Lösung, aber dafür ist weit und breit keine Mehrheit zu finden. Ein solches Wahlrecht könnte auch eine Paritätsregelung enthalten, die die Chancengleichheit in der Kandidatur von Frauen herstellt. Das ist aus meiner Sicht das größte Manko am vorliegenden Gesetzentwurf – keine Paritätsüberlegungen nirgends. Wenigstens bei der Listenaufstellung hätte dies verankert werden können, auch wenn in manchen Ländern bei manchen Parteien die Listen kaum zum Zug kommen werden (schöne Grüße an die CSU).

Der Vorschlag der Ampel hält am Grundcharakter der Verhältniswahl fest. Das ist gut. Die Zusammensetzung des Bundestages richtet sich also -wie bisher auch- nach dem Verhältnis der Prozente, welche die Parteien erhalten (soweit sie die Sperrklausel überwinden). Früher war dies die Zweitstimme, jetzt ist es die Hauptstimme. Anders als bisher kann es aber mit dem Gesetzentwurf keine sog. Überhangmandate und in deren Folge keine Ausgleichsmandate geben. Damit wird die gesetzliche Regelgröße eingehalten und alle Parteien verlieren verhältnismäßig an Mandaten. Der entscheidende Unterschied zum bisherigen Wahlrecht ist, dass eine Person die im Wahlkreis die meisten Stimmen erhält nur dann ein Mandat bekommt, wenn in dem entsprechenden Land dieses Mandat auch durch die im Ergebnis der Hauptstimmen auf eine Partei entfallenden Mandate abgedeckt ist.

Praktisch heißt das: Hat eine Partei in einem Land beispielsweise entsprechend der Hauptstimmen 6 Bundestagsmandate, aber 7 Kandidierende die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen haben, dann bekommt eine*r der Kandidierenden kein Bundestagsmandat. Wer das Mandat nicht bekommt, entscheidet sich an der Reihenfolge entsprechend des Wahlkreisstimmenanteils der Kandidierenden einer Partei. Das entsprechende Wahlkreismandat  bleibt dann unbesetzt, d.h. der/die Kandidierende mit den zweitmeisten Stimmen „rutscht“ nicht in das Wahlkreismandat. Es kommt also nicht nur darauf an im Wahlkreis die meisten Stimmen zu erzielen, sondern auch im Verhältnis zu den anderen Wahlkreiskandidierenden der eigenen Partei ein gutes Ergebnis zu erzielen. Es gibt als am Ende auch einen innerparteilichen Wettbewerb der Wahlkreiskandidierenden um das beste Erststimmenergebnis. Wenn nun aber einer Partei in einem Land nach den Hauptstimmen 6 Mandate zustehen, aber es nur 3 Kandidierende gibt, die im Wahlkreis die meisten Stimmen erzielt haben, dann werden diese 3 Kandidierenden Abgeordnete und es kommen noch 3 Listenkandidierende dazu.

Die Kurzfassung lautet: Relative Mehrheit im Wahlkreis (Wahlkreissieger) reicht für das Mandat nur aus, wenn eine Deckung mit den einer Partei nach Hauptstimmen zustehenden Sitzen vorliegt.

Wichtig ist, dass die Ampel auch einen Weg gefunden hat, dass parteiunabhängige Kandidierende ebenfalls im Wahlkreis antreten können – und falls sie dort die meisten Stimmen erhalten auch ohne Hauptstimmendeckung das Mandat erhalten. Das ist sicherlich ein eher theoretischer Fall, denn lediglich bei der ersten Bundestagswahl gab es das. Aus dieser Idee ergibt sich allerdings ein offene Frage, die mE der Gesetzentwurf nicht beantwortet: Wenn ein solcher Fall eintritt, wird dann der Anteil der den Parteien zustehenden Mandate weiterhin in Bezug auf 598 Mandate berechnet (und der Bundestag hat dann 599 Mitglieder) oder auf 597 Mandate (und damit bleibt es bei 598 Mandaten).

Nun kann eingewendet werden, dass es schwer vermittelbar ist, dass Kandidierende im Wahlkreis zwar die meisten Stimmen haben, aber das Mandat trotzdem nicht gewinnen. Das war auch mein erster Impuls, als ich den Vorschlag das erste mal hörte. Aber nur weil es schon immer so war, muss es nicht immer so bleiben. Der Gesetzgeber ist -im Rahmen der Wahlrechtsgrundsätze- frei in der Regelung der Mandatszuteilung, konkret des Mandatszuteilungsmechanismus. So wurde beispielsweise im Parlamentarischen Rat auch debattiert, dass für den Gewinn eines Direktmandates die absolute Mehrheit erforderlich ist, weil nur dann der/die Wahlkreisgewinnende tatsächlich die Mehrheit repräsentiert. Soweit nur eine relative Mehrheit -wie bislang- erforderlich ist, kann der/die Direktmandatsgewinner*in auch jemand sein, der/die von der Mehrheit im Wahlkreis nicht gewählt wurde. In Bayern beispielsweise wurde kein*e Kandidierende*r mit einer absoluten Mehrheit im Wahlkreis gewählt, zum Teil errangen aber Kandidierende Mandate mit 25,7% der Stimmen. Es gab also ein Direktmandat, obwohl knapp 75% der Wählenden diese*n Kandidierende*n gar nicht gewählt hatten. Irgendwie ist das demokratietheoretisch auch ein Problem. Und streng genommen sind die Ausgleichsmandate ja auch keine „aus eigener Kraft der jeweiligen Partei“ entstandene Mandate, sondern weil z.B. ein*e CSU-Wählende ein Überhangmandat produziert, sorgt er/sie dafür das alle anderen Parteien weitere Mandate erhalten. Auch das ist am Ende ein widersinniger Effekt.

Ein kleines Problem hat der Gesetzentwurf dann aber doch noch. Die bisher in § 6 Abs. 3 BWahlG festgehaltene Sperrklausel wird nunmehr im § 4 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG-E verankert. Erreicht eine Partei bundesweit nicht 5% der abgegebenen Hauptstimmen, nimmt sie an der Verteilung der Mandate nicht teil. Es sei denn, sie stellt 3 Wahlkreisbeste. Wenn nun aber eine Partei zwei Wahlkreisbeste hat, bundesweit aber nicht 5% der Hauptstimmen erreicht, liegt zwar theoretisch bei diesen beiden Wahlkreisbesten auch eine Hauptstimmendeckung vor, wegen der Regelung in § 4 Abs. 2 Nr. 2 BWahlG-E ist dies aber eher eine theoretische Hauptstimmendeckung, die praktisch nicht zum Zuge kommen dürfte. In diesem Fall dürften nach meiner Leseart diese beiden Wahlkreisbesten ihr Mandat ebenfalls nicht erhalten. Hier besteht meines Erachtens ein Korrekturbedarf, der in § 6 verankert werden müsste. Eine solche Regelung könnte in § 6 Abs. 1 BWahlG-E durch einen neuen Satz 2 ungefähr so aussehen: „Dies gilt auch, wenn der Bewerber mit der Mehrheit der Wahlkreisstimmen gewählt und im Verfahren der Hauptstimmendeckung nur deshalb nicht berücksichtigt werden würde, weil die Voraussetzung des § 4 Abs. 2 Nr. 2 nicht erfüllt ist.“ Natürlich könnte die Sperrklausel auch abgeschafft werden, aber dafür gibt es weit und breit keine Mehrheit. Leider.

2 Replies to “Besser als erwartet – Der Ampelvorschlag zum Wahlrecht”

  1. Liebe Halina,

    sehe das genau wie Du! Da das Wahlrecht durch einfachgesetzliche Regelung geändert werden kann, obliegt dem Gesetzgeber auch ein Gestaltungsspielraum. Dieser dürfte mit dem vorgelegten Gesetzentwurf wohl noch verfassungskonform ausgefüllt worden sein. Jetzt rächt sich auch das Verhalten der Union aus der letzten Wahlperiode, sich ungeniert ohne große Debatte 3 nicht ausgeglichene Überhangmandate genehmigt zu haben. Damit hatte die Union den alten Konsens aufgekündigt, Wahlrecht möglichst nur einvernehmlich mit der Opposition zu ändern. So fängt man sich jetzt in seinen eigenen Netzen und kann sich nicht beschweren, wenn die jetzige Regierung auch alleine handelt.

  2. Hallo Frau Wawzyniak,

    Sie haben Ihre Argumente zum Ampel-Entwurf auf eine auch für mich juristischem Laien sehr verständige Art dargelegt. Ich stimme Ihnen da gern zu – mit einer Ausnahme: Der Verweis auf Akzeptanzprobleme ist m. E. sehr wohl ein wichtiges zusätzliches Argument für eine Änderung des Wahlrechts. Ich merke doch schon bei meiner (sicher mit dem Bundestag nicht vergleichbaren) ehrenamtlichenTätigkeit, dass eine lösungsorientierte zielgerichtete Arbeit bei vernünftigem Zeitaufwand mit zunehmender Größe des „Teams“ schwerer wird.
    Darüber hinaus: herzlichen Dank für Ihren Text. Er macht mir vieles bisher schwer Verständliche bei dieser Thematik klarer.

    Peter Schulze

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