Das Urteil des LVerfGH Berlin zur Wahl im September 2021

Der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin (LVerfGH) hat mit Urteil vom 16. November 2022 (154/21) entschieden: „Die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen werden für das gesamte Wahlgebiet für ungültig erklärt.“ Die Ungültigkeitserklärung wirkt „ex nunc“ (S. 149).

Ausweislich des Urteils waren 2.447.600 Personen wahlberechtigt, insgesamt wählten 1.844.278 Personen. Die Wahlbeteiligung betrug 75,4 Prozent (2016: 66,9 Prozent). Der Anteil der Briefwählenden belief sich auf 46,8 Prozent aller Wählenden (863.545 Personen; 2016: 29 Prozent) und ca.35,3 Prozent aller Wahlberechtigten. In Präsenz wählten rund 53,2 Prozent der Wählenden (980.733 Personen; 2016: 71 Prozent) und ca. 40,1 Prozent der Wahlberechtigten.

In den Urteilsgründen wird darauf verwiesen, dass es am Wahltag zu zahlreichen Beeinträchtigungen des Wahlablaufs kam, viele Wahllokale nach einigen Stunden keinen vollständigen Satz von Stimmzetteln mehr hatten und die Lieferung weiterer Stimmzettel u. a. auf Grund des Berlin-Marathons nicht rechtzeitig gelang. Dies führte zu Unterbrechungen des Wahlvorgangs, in weiten Teilen des Wahlgebiets bildeten sich vor den Wahllokalen Warteschlangen, in mehreren Wahllokalen wurden  nicht alle Wahlunterlagen an die Wählenden ausgehändigt, in vielen Wahllokalen wurde die Wahlhandlung erst nach 18 Uhr beendet und die Medien berichteten bereits ab 18 Uhr über den voraussichtlichen Ausgang der Wahlen. In den Wahlkreisverbänden Friedrichshain-Kreuzberg und Charlottenburg-Wilmersdorf wurden für die Abgabe der Zweitstimme zur Wahl des Abgeordnetenhauses teilweise Stimmzettel ausgegeben, die für den jeweils anderen Wahlkreisverband vorgesehen waren. Im Wahlkreisverband Friedrichshain-Kreuzberg waren nicht genügend Stimmzettel für die Abgabe der Zweitstimme für das Abgeordnetenhaus vorhanden. Auf Anweisung des Bezirkswahlleiters und nach Rücksprache mit der Geschäftsstelle der Landeswahlleitung wurden daher während der Wahl weitere Stimmzettel für die Abgabe der Zweitstimme für das Abgeordnetenhaus mit einem Kopiergerät hergestellt. Nach Mitteilung des zuständigen Bezirkswahlleiters gaben „ein paar tausend“ Wählende ihre Zweitstimme für die Wahl zum Abgeordnetenhaus auf solchen Stimmzetteln ab. Nach Angaben der Landeswahlleitung wurden auch im Wahlkreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf Kopien von Stimmzetteln verwendet.

Das Urteil erging mit 7:2 Stimmen, es liegt eine Sondervotum der Verfassungsrichterin Prof. Lembke vor. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass unter Anwendung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Feststellung der Mandatsrelevanz von Wahlfehlern diese Mandatsrelevanz nur in den Wahlkreisen Friedrichshain-Kreuzberg 4, Pankow 2, 3 und 9, Charlottenburg-Wilmersdorf 6 und Marzahn-Hellersdorf 1 gegeben ist, sowie bezüglich der von festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Zweitstimmenabgaben. Die Wahlfehler bei den Zweitstimmen können sich aber nur auf die Verteilung von maximal 3 – 4 Sitzen im Abgeordnetenhaus ausgewirkt haben. Dementsprechend kommt Prof. Lembke zu dem Ergebnis:

„Grundsätzlich wäre die Ungültigerklärung vorliegend auf die Wahlkreise zu beschränken, in denen überhaupt die Mandatsrelevanz festgestellt wurde (Erststimmenabgabe) oder in denen sich die mangelhafte Vorbereitung der Wahl tatsächlich relevant ausgewirkt hat (Zweitstimmenabgabe in einigen Wahlkreisen insbesondere in den Wahlkreisverbänden Friedrichshain-Kreuzberg, Pankow und Charlottenburg-Wilmersdorf).“

Eine breitere Auseinandersetzung mit dem Urteil und seinen Grundannahmen hat bisher nicht stattgefunden, was außerordentlich bedauerlich ist. Denn das Urteil ist ein Bruch mit der bisherigen Wahlprüfungsdogmatik im Hinblick auf Wahlfehlerfolgen und überlässt zudem wichtige Rechtsfolgenfrage der politischen Auseinandersetzung, wo es einer klaren juristischen Aussage bedurft hätte.

Zentraler Dreh- und Angelpunkt der Argumentation des LVerfGH ist die These, dass unzweifelhaft existierende systematische Wahlvorbereitungsfehler zwingend zu Wahlfehlern mit Mandatsrelevanz führen. Diese Argumentation zieht sich durch alle Einzelbegründungen, wie sich gleich zeigen wird.

Doch bevor es losgeht sind einige Worte zur Wahlprüfung selbst nötig.

I. Grundsätze der Wahlprüfung

Die Wahlprüfung findet in drei Schritten statt. Es muss ein Wahlfehler vorliegen (Schritt 1), der Mandatsrelevanz haben muss (Schritt 2) und der so gravierend ist, dass im Rahmen einer Abwägung das Korrekturinteresse der Wahl das Bestandsinteresse des Parlaments überwiegt (Schritt 3).

In einem Beschluss des BVerfG aus dem Januar 2022 wird hinsichtlich der im Rahmen der  Wahlprüfung geltenden Maßstäbe ausgeführt (Rdn. 46):

Im Wahlprüfungsverfahren haben die Wahlprüfungsorgane – ausgehend von einem hinreichend substantiierten Sachvortrag und beschränkt auf den Einspruchsgegenstand – das Vorliegen des behaupteten Wahlfehlers von Amts wegen zu ermitteln. (..) Lässt sich nicht aufklären, ob ein Wahlfehler vorliegt, bleibt die Wahlprüfungsbeschwerde ohne Erfolg.“

Im Hinblick auf die Mandatsrelevanz heißt es (Rdn. 71):

Ein über die Feststellung der Verletzung subjektiver Rechte der Wahlbewerber und der Wähler hinausgehender Schutz findet bei fehlender Mandatsrelevanz allerdings nicht statt. Vielmehr genießen insofern Bestand und Funktionsfähigkeit des Parlaments weiterhin Vorrang vor dem Schutz individueller Rechte.“

In der grundlegenden Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2008 zum sog. negativen Stimmgewicht präzisiert das BVerfG (Rdn. 131):

Ein Wahlfehler liegt immer dann vor, wenn durch die geltend gemachte Rechtsverletzung die gesetzmäßige Zusammensetzung der zu wählenden Körperschaft berührt sein kann (…). Dabei darf es sich nicht nur um eine theoretische Möglichkeit handeln; sie muss eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende sein (…); Vermutungen oder rein spekulative Annahmen genügen nicht.“

Hinsichtlich der Abwägung zwischen Bestands- und Korrekturinteresse hat das BVerfG in dieser Entscheidung ausgeführt (Rdn. 134):

In den Fällen, in denen ein Wahlfehler sich auf die Mandatsverteilung (…) ausgewirkt haben kann, unterliegt die Wahlprüfungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dem Gebot des geringstmöglichen Eingriffs. Die Entscheidung darf nur so weit gehen, wie es der festgestellte Wahlfehler verlangt (…). Daraus folgt unter anderem, dass vorrangig ein Wahlfehler zu berichtigen ist, statt die Wahl zu wiederholen. Ist eine Wahl nur teilweise für ungültig erklärt worden und eine Wahlwiederholung insoweit unumgänglich, so darf diese nur dort stattfinden, wo sich der Wahlfehler ausgewirkt hat, also in dem betroffenen Stimmbezirk, Wahlkreis oder Land. (…) Grundsätzlich ist das Erfordernis des Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung (vgl. BVerfGE 89, 243 <253>), dass seine rechtliche Grundlage im Demokratiegebot findet, mit den Auswirkungen des festgestellten Wahlfehlers abzuwägen. (…) Der Eingriff in die Zusammensetzung einer gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss vor dem Interesse an der Erhaltung der gewählten Volksvertretung gerechtfertigt werden. Je tiefer und weiter die Wirkungen eines solchen Eingriffs reichen, desto schwerer muss der Wahlfehler wiegen, auf den dieser Eingriff gestützt wird (vgl. BVerfGE 103, 111 <135>). Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene (BVerfGE 103, 111 <134>).“  

Diese Grundsätze der Wahlprüfungsdogmatik inklusive der ergangenen Entscheidungen des BVerfG wären auch vom LVerfGH zu berücksichtigen gewesen. Der LVerfGH sieht keine Verstöße dagegen, liegt meiner Meinung nach aber damit falsch.

II. Systematische Wahlvorbereitungsfehler führen angeblich zwingend zu Wahlfehlern

Durch die gesamte Entscheidung des LVerfGH zieht sich die Annahme, dass die Vorbereitung der Wahl an schweren systemischen Mängeln gelitten hat, die zwingend zu einer Vielzahl von weitern Wahlfehlern bei der Durchführung der Wahl geführt haben.

Unumstritten lagen schwere systematische Wahlvorbereitungsfehler vor. Eine Zwangsläufigkeit dahingehend, dass die systematischen Mängel in der Vorbereitung aber zu Wahlfehlern bei der Durchführung geführt haben, dürften anhand der in dem Urteil selbst aufgeführten Fakten nicht stimmig sein.

Richtig ist, dass eine Vielzahl von Wahlberechtigten die vollständige Stimmabgabe trotz Erscheinens im Wahllokal unmöglich war, weil ihnen nicht alle Stimmzettel ausgehändigt wurden und eine Vielzahl von Wahlberechtigten ihre Stimme wegen der Ausgabe falscher oder von Kopien von Stimmzetteln nicht wirksam abgeben konnten. Es ist ebenso zutreffend, dass einer nicht abschließend bezifferbaren Vielzahl von Wahlberechtigten die Abgabe ihrer Stimme durch Unterbrechungen der Wahlhandlung während der Wahlzeit sowie durch erhebliche Wartezeiten vor den Wahllokalen unzumutbar erschwert (S. 56) wurde. Die zentrale Aussage des LVerfGH ist aber, dass diese Wahldurchführungsfehler „infolge der fehlerhaften Wahlvorbereitung“ (S. 50) stattgefunden haben. Auch die Wartezeiten und Wahlhandlungen nach 18.00 Uhr seien auf die schwerwiegenden systemischen Mängel in der Vorbereitung der Wahl durch die zuständigen Wahlorgane zurückzuführen, weil Wahlvorstände und Wahlhelfende sich gezwungen sahen, vorherige lange Wartezeiten und vom Wahlrecht nicht vorgesehene Schließungen der Wahllokale auszugleichen (S. 61).

Genau diese Zwangsläufigkeit ergibt sich aber nicht aus den Daten, die der LVerfGH zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht hat.

Der LVerfGH selbst argumentiert (S. 52), dass die Ausgabe falscher, d.h. für einen anderen Wahlkreisverband bzw. Wahlkreis vorgesehener Erst- und Zweistimmenzettel Wahlberechtigte in mindestens fünf von zwölf Wahlkreisverbänden. stattgefunden hat. Gäbe es eine Zwangsläufigkeit, müsste dies auf alle Wahlkreisverbände zutreffen.

Aus den im Urteil dargelegten Zahlenmaterial ergibt sich eine große Breite hinsichtlich der Quantität der aufgetretenen Wahldurchführungsfehler in den Bezirken. Selbst innerhalb der in einem Bezirk liegenden Wahlkreise und erst recht im Hinblick auf die einzelnen Wahllokale wird die Bandbreite der quantitativ aufgetretenen Wahldurchführungsfehler ersichtlich.

  • Nach der Tabelle auf den Seiten 72 bis 7 wurden in Mitte 41 Erststimmenzettel falsch ausgeteilt, in Friedrichshain-Kreuzberg 118 Erststimmenzettel und 716 Zweitstimmenzettel, in Pankow 322 Erststimmenzettel, in Charlottenburg-Wilmersdorf 399 Erststimmenzettel und in Steglitz-Zehlendorf 1061 Erststimmenzettel.
  • Betroffen von der Ausgabe fehlender oder nicht ausgeteilter Stimmzettel waren ausweislich der Tabelle ab S. 68-73 im Urteil
  • 45 Stimmzettel in Mitte (ausschließlich Zweitstimme)
  • 61 Erststimmen und 2 Zweitstimmen in Friedrichshain-Kreuzberg
  • 114 Erststimmen und 20 Zweitstimmen in Pankow
  • 109 Erststimmen und 325 Zweitstimmen in Charlottenburg-Wilmersdorf
  • 591 Erststimmen und 554 Zweitstimmen in Spandau
  • 273 Erststimmen in Steglitz-Zehlendorf
  • 13 Erststimmen und 18 Zweitstimmen in Tempelhof-Schöneberg
  • 126 Erststimmen und 183 Zweitstimmen in Neukölln
  • 516 Erststimmen in Treptow-Köpenick
  • 1232 Erststimmen in Marzahn-Hellersdorf
  • 589 Erststimmen und 385 Zweitstimmen in Lichtenberg
  • 150 Erststimmen in Reinickendorf
  • Hinsichtlich der Unterbrechungen geht der LVerfGH von einer Dauer von mindestens 6.334 Minuten aus, diese seien auf Grund fehlender oder falscher Stimmzettel erfolgt. Auf den Seiten 79 bis 93 werden dann folgende Unterbrechungszeiten aufgeführt:
  • 130 Minuten in Mitte
  • 853 Minuten in Friedrichshain-Kreuzberg
  • 3279 Minuten in Pankow
  • 2032 Minuten in Charlottenburg-Wilmersdorf
  • Von der Öffnung nach 18 Uhr waren insgesamt 1.090 der 2.256 Urnenwahllokale und damit fast die Hälfte der Wahllokale betroffen. 244 Wahllokale – rund 11 Prozent – hatten noch nach 18:30 Uhr geöffnet.

Die aufgeführten Zahlen lassen aus meiner Sicht erhebliche Zweifel zu, dass es eine Zwangsläufigkeit von Wahlvorbereitungs- und Wahlfehlern gibt. Wenn die Wahlvorbereitungsfehler zwangsläufig zu Wahldurchführungsfehlern im Hinblick auf fehlende oder nicht ausgeteilte Stimmzettel führen würden, lässt sich die Differenz zwischen den Bezirken bei den Erststimmen und die Tatsache, dass in einigen Bezirken keine Probleme mit den Zweitstimmen aufgetreten sind  nicht erklären. Gleiches gilt für die Wartezeiten. Wenn die Hälfte der Wahllokale nicht nach 18.00 Uhr geöffnet war und die Öffnung nach 18.30 Uhr knapp 11% der Wahllokale betraf (genauer unterlegt in den Tabellen auf den Seiten 94 bis 96), dann fällt mir eine Argumentation mit der Zwangsläufigkeit schwer.

III. Die Mandatsrelevanz

Möglicherweise aus der Angreifbarkeit der These von der Zwangsläufigkeit findet sich in der rechtlichen und faktischen Wertung auch so manche Überraschung, welche den streng formalen Charakter von Wahlprüfungsfehler in Zweifel zieht.

III.1. Auf die Verursachung von Wartezeiten kommt es nicht an

So wird in den Urteilsgründen im Hinblick auf die Wartezeiten formuliert, dass durch die fehlerhafte Vorbereitung der Wahl verursacht, sich die Wartezeiten maßgeblich von Wartezeiten unterscheiden, die etwa durch besondere, nicht vorhersehbare Umstände, wie z. B. wetterbedingte Stoßzeiten, Notarzteinsätze, ausgelöst und nicht auf staatliches Handeln zurückzuführen sind. Letztere sollen schon begrifflich keine Verletzung der Allgemeinheit der Wahl darstellen. Auch etwaige gezielte Wahlbehinderungen durch Private seien mit der vorliegenden Situation nicht gleichzusetzen. (S. 57)

Insbesondere mit der unterschiedlichen Bewertung von Wartezeiten auf Grund fehlerhafter Vorbereitung der Wahlen und Wartezeiten, die nicht auf staatliches Handeln zurückzuführen sind, vollzieht der LVerfGH eine Abkehr vom streng formalen Charakter der Wahlfehlerfolgenprüfung. Das Wahlrecht gilt individuell, die Verhinderung des Wahlrechts ist gerade nicht abhängig von deren Ursachen. Wenn nicht vorhersehbare Umstände, die nicht vom Staat zu vertreten sind, dazu führen, dass eine erhebliche Anzahl von Wahlberechtigten das Wahlrecht nicht wahrnehmen können, dürfte dies wohl ebenfalls kaum zur Akzeptanz von Wahlergebnissen beitragen und da von einer Mandatsrelevanz auszugehen ist, würde sich hier auch die Frage einer Wiederholungswahl stellen. Der Sinn und Zweck des Wahlprüfungsverfahrens besteht im Schutz des objektiven Wahlrechts und ist hierauf auch begrenzt. (vgl. Dreier, GG, Art.41, Rdn. 7).

III.2. Die faktische Mandatsrelevanz

Der LVerfGH geht davon aus, dass die Wahlfehler die Verteilung der Sitze im AGH beeinflusst habe. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich die festgestellten Wahlfehler potentiell auf die Sitzverteilung ausgewirkt haben könnten. Das Verfahren zur Ermittlung der Sitze im Abgeordnetenhaus nach Hare-Niemeyer führe dazu, dass im Einzelfall bereits geringe Stimmunterschiede die Sitzverteilung im Abgeordnetenhaus beeinflussen können (S. 62).

Eine solche faktische Mandatsrelevanz für das gesamte Wahlgebiet kann der LVerfGH aber nicht erbringen. Selbst bei den Wahlkreisen gelingt ihm das nicht.

Der LVerfGH errechnete(S. 97), dass durch Unterbrechungen und Wahlhandlungen nach 18 Uhr rund 4.951 Wählende potentiell betroffen gewesen seien. Im Hinblick auf nicht unbeeinflussten Stimmabgaben nach 18 Uhr sind nach Ansicht des VerfGH bei einer wirklichkeitsnahen durchschnittlichen Dauer von fünf Minuten pro Wahlgang und einer Ausstattung am Ende des Wahltages von durchschnittlich 2,54  Wahlkabinen pro Wahllokal im gesamten Wahlgebiet rund 11.146 Personen potentiell betroffen gewesen. Bei einer Verweildauer von 3 Minuten wären es 18.577 Personen (S. 98). Das mag stimmen.

Der LVerfGH kommt selbst zu dem Ergebnis, dass bei ordnungsgemäßer Vorbereitung und Durchführung der Wahl ein anderes Stimmenergebnis und damit eine andere Sitzverteilung konkret möglich gewesen, jedenfalls im Hinblick auf das Erststimmenergebnis „in jedenfalls 19 der hier zulässig angegriffenen 22 von insgesamt 78 Wahlkreisen“ (S. 129). Für drei Wahlkreise wird durch den VerfGH in Bezug auf die Erststimmen das Bestehen einer potentiellen Möglichkeit der Beeinflussung und damit der Mandatsrelevanz ausdrücklich offengelassen (S. 130).

Aus dieser Feststellung ergibt sich nach der strengen Dogmatik des Wahlprüfungsverfahrens nun eigentlich, dass allein die genannten 19 Wahlkreise in die die dritte Stufe des Wahlprüfungsverfahrens kommen. Nur für diese müsste eine Abwägung stattfinden, ob das Korrekturinteresse höher wiegt als das Bestandsinteresse.

Nicht besser wird es bei den Zweistimmen (Parteistimmen). Der LVerfGH kommt auf S. 137/138 zu dem Ergebnis, dass von den ermittelten Wahlfehlern verteilt auf Wahlkreise, wenn auch mit unterschiedlich starker Kumulierung der Wahlfehler über 20.000 Stimmabgaben betroffen waren, würden die Verweildauer von 3 Minuten angenommen sogar 30.000 Stimmabgaben. Dazu gibt es eine Tabelle auf S. 138.  Die Mandatsrelevanz, so der LVerfGH auf S. 139 ergäbe sich daraus, dass beispielsweise bereits knapp unter 2.000 Stimmen mehr der AfD einen weiteren Sitz verschafft hätten. Des Weiteren hätte das Abgeordnetenhaus 148 statt 147 Sitze zugunsten der Fraktion BÜNDNIS 90/Die Grünen, wenn diese knapp 10.000 Stimmen mehr erhalten hätten. Selbst aber eine dreistellige Anzahl von Stimmen für die FDP in Charlottenburg-Wilmersdorf könnte zu Sitzverschiebungen zwischen den verschiedenen Bezirkslisten der FDP führen. Dies genüge zur Feststellung der Mandatsrelevanz, da § 40 Abs. 2 Nr. 8 VerfGHG nach seinem Wortlaut keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse, sondern einen Einfluss auf die Sitzverteilung fordere, der auch bei einer Verschiebung von Sitzen innerhalb einer Partei vorliege.

Wenn diese Berechnung zutreffend ist, dann müsste natürlich die Wahl wiederholt werden. Aber eben nur dort, wo die Zweitstimmen-Wahlfehler aufgetreten sind. Dies berücksichtigt der LVerfGH zunächst nicht.

Der LVerfGH geht davon aus, dass eine Zurückweisung eines Einspruchs erst dann in Betracht komme, wenn feststehe, dass festgestellte Wahlfehler keinen Einfluss auf die Sitzverteilung gehabt haben.  Für eine Stattgabe genüge demnach die Möglichkeit der Beeinflussung der Sitzverteilung. Die Anforderungen an die Feststellung einer möglichen Beeinflussung der Sitzverteilung seien desto geringer, je schwerwiegender die Wahlfehler das Demokratieprinzip beeinträchtigen (S. 63). An dieser Stelle kommt es aber noch gar nicht auf die Frage an, wann ein Einspruch zurückzuweisen ist, sondern allein, ob Mandatsrelevanz vorliegt. Die Frage der Zurückweisung oder der Stattgabe kommt erst bei der Abwägung zwischen Bestandsinteresse und Korrekturinteresse, also in der dritten Stufe der Prüfung. Diese Dogmatik scheint beim LVerfGH durcheinandergeraten zu sein

III.3. Abstellen auf hypothetisches Wählendenverhalten

Da das mit der faktischen Mandatsrelevanz jedenfalls für eine komplette Wiederholungswahl schwierig wird, kommt das hypothetische Wählendenverhalten. Der LVerfGH geht davon aus, dass bei der Prüfung der Mandatsrelevanz von nicht, nicht wirksam oder nicht unbeeinflusst abgegebenen Stimmen kein bestimmtes hypothetisches Wählerverhalten zur Verteilung der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen zu unterstellen sei (S. 64).  Bei der Beurteilung der Mandatsrelevanz der festgestellten Wahlfehler könne daher keine Rolle spielen, ob von Wahlfehlern betroffene Stimmen entsprechend dem festgestellten Ergebnis des jeweiligen Wahlkreises abgegeben worden wären. Die Bedeutung des Wahlrechts wäre entwertet, wenn diese betroffenen Stimmen für die Beurteilung der Mandatsrelevanz entsprechend der Wahlumfragen oder des Wahlergebnisses verteilt würden. Diese Auffassung stehe auch nicht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wonach es sich bei der Auswirkung des Wahlfehlers auf die Sitzverteilung um eine nach der allgemeinen Lebenserfahrung konkrete und nicht ganz fernliegende Möglichkeit handeln muss.

Da es aber Entscheidungen des BVerfG in eine andere Richtung gibt, argumentiert der LVerfGH, dass zwar in der Vergangenheit Wahlprüfungsbeschwerden von Parteien durch das BVerfG zurückgewiesen worden sind, die eine Mandatsrelevanz von Wahlfehlern geltend gemacht hatten, diese seien aber von Splitterparteien initiiert worden. Auf S. 65 wird argumentiert, diese Fälle hätten sich von dem vorliegenden Fall deshalb unterschieden, weil „in allen diesen Fällen (..) das Abstimmungsverhalten der Wählenden aus der Vergangenheit sowie aus dem mit der Wahlprüfungsbeschwerde angegriffenen Wahlgang bekannt (war). (…) Dagegen hat der Verfassungsgerichtshof im hiesigen Verfahren auch zu entscheiden, ob die Sitzverteilung dadurch beeinflusst sein könnte, dass Wählende ihre Stimme gar nicht oder nicht unbeeinflusst abgeben konnten. In den Fällen der fehlenden Abgabe bzw. der nicht unbeeinflussten Abgabe bestehen keinerlei Anhaltspunkte für ein zu unterstellendes Abstimmungsverhalten.“

Das ist dann eben doch etwas weit weg von der „lebensnahen“ Betrachtung. Denn lebensnah ist es schon, davon auszugehen, dass die Stimmen der Nichtwählenden ungefähr prozentual den Stimmen der Wählenden entsprechen.

Lembke formuliert in ihrem Sondervotum auf S. 155 sehr deutlich, worin die Abweichung des LVerfGH vom BVerfG besteht: „Die Möglichkeit der Mandatsrelevanz darf nicht nur spekulativer Natur sein (…). Erscheint schon ein Wahlfehler nur als möglich oder wahrscheinlich, lässt sich aber nicht belegen, kann die Entscheidung über die Gültigkeit der Wahlen hiervon nicht abhängig gemacht werden (…). Sind Wahlfehler festgestellt, darf sich ihr zu prüfender Einfluss auf die Sitzverteilung im Parlament nicht in einer `theoretischen Möglichkeit` erschöpfen (…).“

Einen Zug von „spekulativer Natur“ hat es dann schon, wenn der LVerfGH zur Mandatsrelevanz auf die Nichtwählenden abstellt.

Im Hinblick auf sechs Wahlkreise (Friedrichshain-Kreuzberg 4, Pankow 2, 3, 9, Charlottenburg-Wilmersdorf 6, Marzahn-Hellersdorf 1) argumentiert der LVerfGH, die potentielle Mandatsrelevanz sei offensichtlich, weil hier „die Zahl der Nichtwählenden größer als die Stimmendifferenz zwischen Erst- und Zweitplatziertem“ ist und die dokumentierte bzw. anhand von dokumentierten Fakten geschätzte Zahl der von Wahlfehlern betroffenen Stimmen die Stimmendifferenz zwischen dem erst- und dem zweitplatzierten Bewerbenden übersteigt (S. 130 und Tabelle S. 131). Für die Wahlkreise in Mitte 2, 3, 7, Friedrichshain-Kreuzberg 2, 3, 5, Pankow 1, 7, Charlottenburg-Wilmersdorf 2, 3, 4, Steglitz-Zehlendorf 2 und Reinickendorf 5 wird dann die potentielle Mandatsrelevanz festgestellt, obwohl die  für diese Wahlkreise identifizierten, von Wahlfehlern betroffenen Stimmen den Abstand zwischen Erst- und Zweitplatziertem nicht übersteigen (S. 132). Insoweit bestehe die konkrete Möglichkeit einer Beeinflussung der Sitzverteilung, obwohl die zahlreichen Wahlfehler, und deren Auswirkung nur solche Wahlberechtigten betroffen haben können, die sich zur Stimmabgabe entschlossen hätten. Die vollständige zahlenmäßige Bestimmung dieser Wahlberechtigten sei aber unmöglich (S. 133).

Zutreffend formuliert Lembke in ihrem Sondervotum (S. 155 f.), dass die Mandatsrelevanz lediglich für die (potentielle) Erststimmenabgabe in den Wahlkreisen Friedrichshain-Kreuzberg 4, Pankow 2, 3 und 9, Charlottenburg-Wilmersdorf 6 und Marzahn-Hellersdorf 1 bejaht werden kann. „In diesen sechs Wahlkreisen ist die Anzahl der von festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Erststimmenabgaben höher als der Abstand zwischen erst- und zweitplatzierter Person. In den anderen 16 zulässig angegriffenen Wahlkreisen liegt nach dem Grundsatz der potentiellen Kausalität keine Mandatsrelevanz vor. In den Wahlkreisen Mitte 2, 3 und 7, Friedrichshain-Kreuzberg 1, 2, 3, 5 und 6, Pankow 1, 7 und 8, Charlottenburg-Wilmersdorf 2, 3 und 4, Steglitz-Zehlendorf 2 und Reinickendorf 5 ist die Anzahl der von festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Erststimmenabgaben niedriger als der Abstand zwischen erst- und zweitplatzierter Person. Die Differenz reicht von 213 bis zu 4.843 (potentiellen) Erststimmenabgaben. (…) Schon die Annahme, dass alle von festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Erststimmenabgaben der zweitplatzierten Person zugutegekommen wären, ist nach der allgemeinen Lebenserfahrung nicht naheliegend, und wurde vom Bundesverfassungsgericht bislang eher strenger gesehen. Allerdings ist das Argument, dass eine Orientierung an früheren Wahlergebnissen etablierte Parteien bevorzugt, nicht von der Hand zu weisen. Wenn aber selbst bei Zugrundelegung der Hypothese, dass sämtliche von festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Erststimmenabgaben der zweitplatzierten Person zugutegekommen wären, eine Beeinflussung der Sitzverteilung ausgeschlossen ist, sind die festgestellten Wahlfehler nicht mandatsrelevant. Auf die Anzahl der Nichtwählenden als solche kommt es dabei grundsätzlich nicht an. Grundlage der Prüfung der Mandatsrelevanz sind allein die von gerichtlich festgestellten Wahlfehlern betroffenen (potentiellen) Stimmabgaben.“

IV. Abwägung zwischen Bestands- und Korrekturinteresse

An diese Stelle  des Wahlprüfungsverfahrens kommt mensch erst, wenn es Wahlfehler mit Mandatsrelevanz gibt. Erst hier geht es darum, ob einer Wahlprüfungsbeschwerde stattgegeben wird oder nicht. Liegt kein Wahlfehler vorliegen. Gibt es Wahlfehler mit Mandatsrelevanz entscheidet sich hier, ob dies lediglich festgestellt oder die Ungültigkeit der Wahl ausgesprochen wird.

Die Abwägung des Korrekturinteresses der Wahl mit dem Bestandsinteresse des Parlaments führt nach Ansicht des VerfGH zu Ungültigkeit der Wahl im gesamten Wahlgebiet. Auf S. 141 führt der VerfGH aus, dass bei den festgestellten Wahlfehlern mit Mandatsrelevanz die Auswirkungen der Wahlfehler und damit das Korrekturinteresse gegenüber dem Interesse am Bestand des gewählten Abgeordnetenhauses überwiegen. Der LVerfGH argumentiert, dass „nur eine Ungültigerklärung der Wahlen im gesamten Wahlgebiet ein verfassungskonformes Wahlergebnis herbeiführen“ könne. Unter Verweis auf das BVerfG heißt es: „Die Ungültigerklärung einer gesamten Wahl setzt daher einen erheblichen Wahlfehler von solchem Gewicht voraus, dass ein Fortbestand der in dieser Weise gewählten Volksvertretung unerträglich erschiene.“ (BVerfG, Urteil vom 3. Juli 2008 – 2 BvC 1/07 -, juris Rn. 134 f. m. w. N.).

Und dann kommt es wieder zum Zirkelschluss, denn der erhebliche Wahlfehler liegt in den systematischen Wahlvorbereitungsfehlern. Der LVerfGH argumentiert, bei der Abwägung sei „insbesondere zu berücksichtigen, dass die Wahlfehler nicht etwa durch unvorhergesehene Umstände wie eine Naturkatastrophe, Sabotage o. ä. bedingt waren, sondern ihre Ursache in einem Organisationsverschulden der für die Wahlen zuständigen Behörden des Landes Berlin liegt. (…) In die Abwägung zwischen Bestands- und Korrekturinteresse ist daher maßgeblich einzubeziehen, dass die Wahlfehler insgesamt Ausdruck eines systemischen Mangels der Wahlvorbereitung durch die zuständigen Behörden des Landes Berlin sind.“ Dazu habe ich schon argumentiert.

Der Argumentationsstrang setzt sich fort. Auf S. 145 wird ausgesagt, dass entscheidend für die Annahme des Überwiegens des Korrekturinteresses sei, „dass infolge der gravierenden und flächendeckenden Wahlfehler ein erheblicher Vertrauensverlust der Berliner Bürgerinnen und Bürger in demokratische Strukturen droht.“ Wie bereits gezeigt gibt es gerade keine flächendeckenden mandatsrelevanten Wahlfehler.

Lembke verweist in ihrem Sondervotum (S. 163) darauf, dass die Behauptung flächendeckender Wahlfehler „ohne Berücksichtigung der nach den eigenen Feststellungen möglichen Verortung der Auswirkungen der mangelhaften Wahlvorbereitung in einigen Wahlkreisverbänden oder wenigen Wahlkreisen (erfolgt). Auch die wieder aufgerufenen `flächendeckenden Wartezeiten`, deren Mandatsrelevanz nicht festgestellt wurde, beziehen sich auf höchstens 13 % aller 2.256 Wahllokale (dokumentierte Wartezeiten in 73 Wahllokalen und aus Vorkommnissen in 94 weiteren Wahllokalen, von denen 15 schon unter den 73 genannt sind, abgeleitete weitere Wartezeiten) und können die notwendige Begründung für den Verzicht auf territoriale Beschränkungen nicht ersetzen. In der Erörterung der Rechtsfolgen durch die Plenumsmehrheit wird der Eindruck erweckt, als sei das gesamte Abgeordnetenhaus von fehlerhaften Wahlvorgängen betroffen, obwohl nur ein relativ kleiner, bezifferbarer Anteil der Sitze unmittelbar dem Verdikt der fehlerbehafteten Verteilung unterfällt (siehe BVerfG vom 09.11.2011, 2 BvC 4/10, 6/10, 8/10, Rn. 143, wonach ein Wahlfehler nicht als „unerträglich“ anzusehen ist, der nur einen geringen Anteil der Abgeordneten betrifft und die Legitimation der Abgeordneten in ihrer Gesamtheit nicht in Frage stellt).“

Der LVerfGH bleibt dieser Argumentation treu und kommt zu einem weiteren Zirkelschluss. Er argumentiert, die Repräsentation des Volkswillens (S. 147) durch Wahlen sei nur dann gesichert, wenn diese den Willen der Wählenden zu einem bestimmten Zeitpunkt abbilde. Das Gesamtergebnis der Wahl verlöre sonst seinen Charakter als Integrationsvorgang bei der politischen Willensbildung des Volkes. Sei der Umfang der Wiederholungswahl so groß, dass sich das Gesamtergebnis nicht mehr als einheitliche Momentaufnahme des Volkswillens zur Ursprungswahl darstelle, würde diese nicht mehr eine punktuelle Nachbesserung darstellen und keine einheitliche Momentaufnahme. Weil die Zweitstimmen derzeit 69 Sitze im Parlament ausmachen und ein substanzieller Teil der Erststimmen mindestens 19 weitere Sitze betreffe seien 60% der Sitze von Mandatsfehlern betroffen. Ohne vollständige Wiederholungswahl dürfte ein Viertel der Berliner Erst- und Zweistimmen abgeben, aber drei Viertel nur die Abgabe der Zweitstimme wiederholen. Nur die gesamte Wiederholung könne die Vertrauensbasis wiederherstellen.

Wenn aber genau auf die Wahlfehler und ihre Verteilung geschaut wird, würde sich die Summierung auf 60% der Sitze wahrscheinlich gar nicht ergeben.

 V. Offene Fragen

Leider beantwortet der LVerfGH einige sich aus der Entscheidung ergebende Folgefragen nicht und ebnet so den Weg, juristische Fragen politisch auszutragen. Damit ebnet er den Weg von Anfechtungen und Klagen im Zusammenhang mit der Wiederholungswahl.

V.I. Was darf das Parlament noch?

Auf Seite 142 heißt es grundsätzlich: „Liegen Wahlfehler vor, die das Wahlergebnis beeinflussen, spiegelt sich in der Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses der Wille der Wählenden nicht unverfälscht wider. Die Legitimationsgrundlage des politischen Prozesses ist beeinträchtigt (BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 2022 – 2 BvC 17/18 -, juris Rn. 51).“ Auf Seite 149 erklärt der LVerfGH dann (in einem Absatz in Bezug auf die BVVen): „Schließlich ist zu berücksichtigen, dass eine komplette Wiederholungswahl einer Neuwahl entsprechend Art. 54 VvB gleichkommt mit dem Unterschied, dass die Legislaturperiode nicht neu zu laufen beginnt.“ Schließlich wird auf Seite 149/150 ausgeführt: „Zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns ist das Abgeordnetenhaus bis zur Konstituierung des neuen Parlaments weiter berechtigt, seine Aufgaben wahrzunehmen. Auch die Rechtsakte des Abgeordnetenhauses bis zur Konstituierung des mit der Wiederholungswahl gewählten neuen Abgeordnetenhauses werden von der Ungültigerklärung der Wahl nicht berührt. Das Abgeordnetenhaus hat bei Wahrnehmung seiner Aufgaben das gebotene Maß an Zurückhaltung zu wahren. Entsprechendes gilt für das Handeln der Bezirksverordnetenversammlungen.“

Weitergehende Ausführungen werden vom  LVerfGH nicht gemacht. Damit stehen die Aussagen nebeneinander, dass die Legitimationsgrundlage des politischen Prozesses beeinträchtigt ist, eine Wiederholungswahl einer Neuwahl gleichkommt, die Legislaturperiode aber weiterläuft und das AGH „zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns“ seine Aufgaben wahrnehmen kann, dabei aber „das gebotene Maß an Zurückhaltung“ wahren muss.

Der LVerfGH verzichtet auf eine Substantiierung, was unter „Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns“ und „Maß an Zurückhaltung“ zu verstehen ist.

Der Wissenschaftliche Dienst des Abgeordnetenhauses hat sich diesbezüglich nunmehr geäußert.

V.II. Woraus ergibt sich der Weiterbestand der Mandate der MdA

Der LVerfGH hat indirekt entschieden, dass die Mandate nicht mit der Feststellung der Ungültigkeit der Wahl erlöschen, wenn er ausführt, dass zur Sicherstellung der Kontinuität staatlichen Handelns das Abgeordnetenhaus bis zur Konstituierung des neuen Parlaments weiter berechtigt ist, seine Aufgaben wahrzunehmen.

Woraus sich dies angesichts von § 6 Abs. 1 Nr. 4 LWG ergibt, kann nur vermutet werden. Offensichtlich wird hier der § 6 Abs. 1 Nr. 5 LWG angewendet. Eine Begründung zum Verhältnis von Nr. 4 und Nr. 5 wäre hier allerdings sinnvoll gewesen. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 LWG verlieren Abgeordnete ihren Sitz durch Ungültigkeitserklärung der Wahl oder sonstiges Ausscheiden im Wahlprüfungsverfahren und nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 LWG durch Neufeststellung des Wahlergebnisses.

Im Ergebnis ist es richtig, auf § 6 Abs. 1 Nr. 5 LWG abzustellen, weil andernfalls eine parlamentslose Zeit bis zur Neuwahl existieren würde. Diese Überlegung steht aber gegen den klaren Wortlaut des § 6 Abs. 1 Nr. 4 LWG, so dass der LVerfGH hier angehalten gewesen wäre, die Abweichung explizit zu begründen.

Nach § 42 I Nr. 7 VerfGHG kann zwischen der Ungültigerklärung für den Wahlkreis, den Wahlkreisverband oder das gesamte Berliner Wahlgebiet entschieden werden. Es wird hier zunächst davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber bei der Formulierung von § 6 Abs. 1 Nr. 4 LWG den Fall einer Ungültigerklärung für das gesamte Berliner Wahlgebiet nicht in Erwägung gezogen hat und insofern der Fall gesetzlich nicht geregelt ist. Dann dürfte aber gesetzlicher Klarstellungsbedarf im Hinblick auf die Regelung bestehen.

V.III. Mandatsverzicht und Kandidatur

Die Nichtbeantwortung dieser Frage ist nicht trivial. Denn die Frage betrifft den nicht unwesentlichen Punkt, inwiefern ein Mandatsverzicht im Falle einer Wiederholungswahl verbindlich ist.

Die Nichtbeantwortung der Frage legt die Entscheidung in die Hände der Wahlorgane. Diese haben -wie der Fall Jarasch zeigt- offensichtlich entschieden, dass ein Mandatsverzicht nicht dazu führt, dass jemand nicht mehr wählbar ist bei der Wiederholungswahl.

Ich finde diese Entscheidung richtig und nachvollziehbar, aber eigentlich hätte der LVerfGH sie treffen müssen.

Der Erwerb des Sitzes richtet sich nach § 5 LWahlG, der Landeswahlleiter benachrichtigt die gewählten Personen und wenn diese keine oder keine formgerechte Erklärung abgeben, gilt die Wahl als angenommen. Nach § 6 Abs. 3 LWahlG kann ein Verzicht auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus nicht widerrufen werden. Insbesondere vor dem Hintergrund der Wortwahl „widerrufen“ im LWahlG in Kombination mit den Aussagen des LVerfGH, dass eine Wiederholungswahl einer Neuwahl gleichkommt (S. 149) spricht vieles dafür, dass im Hinblick auf eine Wiederholungswahl kein „Widerrufen“ vorliegt, sondern ein Neustart. Es kann ergänzend argumentiert werden, dass ein Verzicht im Regelfall vor dem Hintergrund einer konkreten Situation und im Hinblick auf ein bis zum Ende der Wahlperiode geltendes Wahlergebnis erklärt wird. Die Fortgeltung eines Verzichts würde das Ergebnis der Wiederholungswahl mit gleichen Listen entwerten. Entweder würden Menschen auf den Wahlzetteln stehen, die -de facto- nicht wählbar sind oder die bewussten Entscheidungen einer Partei für Kandidaturen würden konterkariert.

 

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