Die RKI-Krisenstabsprotokolle und was sich daraus für emanzipatorische Aufarbeitung ergibt

Es ist ja nicht so, dass ich nicht in der Zeit wo Corona noch wahrnehmbar war, keine Kritik an Maßnahmen und der Corona-Politik geäußert habe (vgl. hier bereits am 14. April 2020, grundlegender hier im September 2020, im Dezember 2020 hier und im November 2021 hier). Daneben gab es noch weitere Beiträge hier auf diesem Blog.

In der Zeit, wo Corona noch wahrnehmbar war, habe ich mit vielen engen Freund*innen gestritten. Weil wir unterschiedlicher Ansicht waren, was wie angemessen an Reaktion ist. Trotz unterschiedlicher Ansichten hat unsere Freundschaft nicht gelitten (würde ich mal so einschätzen).

Im August 2020 fasste, auch auf meine Mitinitiative hin, der Landesparteitag der Linken Berlin einen Beschluss, in dem es unter anderem darum ging „einen Diskussionsprozess unter Einbeziehung der Innen- und Rechtspolitiker*innen sowie senior*innenpolitisch, frauen*politisch, gesundheitspolitisch und inklusionspolitisch Aktiven, unter Einbeziehung der thematischen Selbstvertretungen von Patient*innen, sowie Angehörigenverbände in Partei und Fraktionen einzuleiten, der aus den Erfahrungen der ersten Welle der Corona-Pandemie Anforderungen einer sozialistischen Bürgerrechtspartei an Politik in Krisenzeiten entwickelt.“ Passiert ist genau Nichts.

Eine lange Einleitung

Es wird jetzt viel über Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse geredet, auch aus Anlass der sog. #RKIFiles. Aus meiner Sicht haben dies Forderungen mindestens eine Schräglage: Es geht fast ausschließlich um freiheitseinschränkende Maßnahmen. Das ist aber eindeutig zu wenig. Wenn Schlussfolgerungen für zukünftige Krisen/Notlagen gezogen werden sollen, dann sind die Fragen viel umfassender (siehe auch am Ende dieses Blogbeitrages). Es geht meines Erachtens nicht um eine Aufarbeitung des Corona-Handelns mit Schuldzuweisungen (und Phantasien, wer warum in den Knast gesteckt gehört), sondern um eine Corona-Aufarbeitung, die bei zukünftigen Krisen/Notlagen ein besseres Handeln ermöglicht. Und diese anderen Krisen/Notlagen werden kommen. Der Klimawandel hat doch schon jetzt Auswirkungen. Was ist, wenn irgendwann das Trinkwasser knapp wird (und rationiert werden muss)? Was ist, wenn die Hitze in Städten (voller Beton) unerträglich wird? Wir sind dann ganz schnell bei der sozialen Frage und der Daseinsvorsorge, denn Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, vulnerable Gruppen, Geflüchtete etc. werden die ersten sein, die den Preis bezahlen. Doch darüber wird kaum geredet.

Am verlängerten Osterwochenende und den Tagen danach habe ich mir mal die sogenannten #RKIfiles angesehen. Bei der Berichterstattung fällt mir auf, dass Nirgendwo erwähnt ist, dass diese Files, zumindest die mir zur Verfügung stehenden Files, am 30.04.2021. Zur Erinnerung, das war die Zeit, in der die Virusvarianten aufkamen, das Impfen noch in den Anfängen steckte und die ersten Testzentren für die noch heute bekannten Schnelltests eröffneten.

Einige Personen und Portale machten aus diesen Dokumenten einen Skandal. Das, was skandalisiert wird, ist aus meiner Sicht kein Skandal. Diese Skandalisierung verhindert aber meiner Meinung nach eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Corona-Politik, insbesondere was Schlussfolgerungen für zukünftige Politik in Krisen/Notlagen angeht. Mal abgesehen davon, dass ab dem 04.03.2020 die täglichen Lageberichte des RKI online waren (und sind), lassen diese Leute völlig außen vor, dass es zwischen März 2020 und dem offiziellen Ende der Pandemie einen Erkenntnisfortschritt über Ansteckungswege, medizinische Behandlungsmethoden, Schutzmechanismen und Wirkungen ebenso gab, wie diverse Mutationen des Virus. Logischerweise sind die Antworten, wenn über ein Virus so gut wie nichts bekannt ist, andere als zu dem Zeitpunkt, wo es Erkenntnisse über Ansteckungswege, Schutzmechanismen und Heilungsoptionen gibt. Mutationen wiederum bedeuten neue Herausforderungen und teileweise neue Antworten. Wer sich die Lageberichte anschaut, kann das gut nachvollziehen. Denn dort wird auch auf neuste wissenschaftliche Veröffentlichungen verwiesen.

Die Files sind die Agenda einer AG des RKI (später Krisenstab) und deren Protokolle. Der Krisenstab traf sich, „um strategische Entscheidungen der Krisenreaktion zu treffen.“ So ein Krisenstab ist eine notwendige Sache, aber für strategische Entscheidungen braucht es meines Erachtens neben dem medizinischen Sachverstand mindestens auch den (kinder- und jugend-)psychologischen und juristischen Sachverstand. Das ist jetzt nicht Aufgabe des RKI, war aber m.E. einer der zentralen Fehler in der Pandemie, dass weitgehend allein auf die medizinische Wissenschaft geschaut wurde. Aus den Protokollen wiederum ergibt sich, dass der Krisenstab versuchte auch nichtvirologische Faktoren einzubeziehen.

Wer sich die Protokolle anschaut, stellt fest, dass im Krisenstab neueste medizinische Erkenntnisse ausgewertet und beobachtet („Erkenntnisse über Erreger“) sowie Strategie-Fragen debattiert wurden. Und debattiert meint tatsächlich unterschiedliche Sichtweisen zulassen. Prägnant hier aus dem Protokoll am 30.10.2020 zum sinkenden R-Wert: „Aktuell ein leichtes Indiz für eine Verlangsamung der Dynamik, dies sollte jedoch nicht so vermittelt werden, um die neuen Maßnahmen nicht in Frage zu stellen, zumal wir uns nicht sicher sein können, wie die Tendenz sich weiterentwickelt.“ Demgegenüber: „Meiner Meinung nach sollte das leichte Absinken tatsächlich kommentiert werden, da es schon auffällt – aber eben nicht bedeutet, dass wir kein exponentielles Wachstum mehr haben. Etwa: Das leichte Absinken des R-Wertes (von etwa 1,4 auf etwa 1,2 in den letzten Tagen) deutet auf eine etwas niedrigere exponentielle Wachstumsrate hin. Dennoch steigt die Anzahl der neuen COVID-19 Fälle weiter exponentiell.“

Der angebliche Skandal, der immer wieder zitiert wird, bezieht sich auf eine Aussage im Protokoll vom 16.03.2020, dass „diese Woche hochskaliert werden soll“. Vollständig heißt es aber: „Am WE wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (geschwärzt) ein Signal gibt.“ Da steht nicht hocheskaliert, da steht hochskaliert. Vor dem Wochenende am 13.03.2020 gab es 3.062 bestätigte Fälle und fünf Verstorbene, nach dem Wochenende am 16.03.2020 gab es 6.012 bestätigte Fälle und 13 Verstorbene. Am 17.03.2020 wurde die Gesundheitsgefahr als „hoch“ eingestuft, mit der Begründung des starken Anstiegs der Fallzahlen (7.156 bestätigte Fälle). Das mag jetzt für berechtigt gehalten werden oder nicht, entscheidender dürfte ein anderer Punkt sein: Die Risikobewertung war für die Einführung von Maßnahmen und deren Lockerung völlig irrelevant. Zwischen erster und zweiter Welle bliebt die Risikoeinstufung weitgehend gleich, obwohl gelockert wurde.

Wenn es aber einen Skandal gibt, dann findet er sich in der Kaltherzigkeit, mit der über Obdachlose geschrieben wird. Am 22.01.2021 heißt es in Bezug auf Obdachlose: „Zurückhaltige Testung, da keine Quarantäne/Isolierungsmöglichkeiten und schwierige Testergebniskommunikation.“ Was zur Hölle soll das? Zurückhaltende Testung statt Angebot häufigerer Testung? Obdachlos sind eh einem besonderen Risiko ausgesetzt. Hier spielt wohl eher eine Rolle, dass Obdachlosen nicht zugetraut wird, sich eigenverantwortlich zu verhalten oder noch schlimmer, Obdachlose sind einfach egal. (Das es auch anders geht zeigte Berlin, wo es neben 24/7 Unterkünften auch Quarantäne-Plätze gab.)

Bevor ich auf die Protokolle unter bestimmten Aspekten eingehe, ist es aus meiner Sicht nötig, sich noch einmal ein paar Dinge in Erinnerung zu rufen.

  • Der damalige Wissenstand war logischerweise ein anderer als heute.
  • Eine gute Chronik, bis Corona für beendet erklärt wurde, findet sich hier.
  • Bis 08. Dezember 2021 regierte eine Koalition von CDU/CSU und SPD unter Kanzlerin Merkel und Gesundheitsminister war Jens Spahn von der CDU.

Nachfolgend eine Übersicht über die Entwicklung und Maßnahmen:

28.01.2020: Erster bestätigter deutscher Infektionsfall in Bayern

29.01.2020: Drei neue bestätigte Fälle aus Bayern

03.02.2020: 10 bestätigte Fälle, davon 8 in Bayern und 2 Rheinland-Pfalz

04.03.2020: Erster offizieller Lagebericht des RKI, laut dem es 262 bestätigte Fälle in Deutschland gab, aber noch keine Verstorbenen. Im Protokoll der AG des RKI ist von 240 Fällen in 15 Bundesländern die Rede. (Die Aufklärung über die Differenz steht im Protokoll der AG des RKI vom 06.03.2020: „Daten sind jetzt in SurvStat abrufbar, durch den Meldeverzug jedoch mit weniger Fällen als im Lagebericht kommuniziert wurde.“)

09.03.2020: Nach dem offiziellen Lagebericht des RKI ab es bei 1.139 bestätigten Fällen die ersten beiden Verstorbenen.

11.03.2020: Nach dem offiziellen Lagebericht des RKI „untersagen die Gesundheitsverwaltungen in Berlin und Sachsen ab dem 11.03.2020 alle Großveranstaltungen von über 1.000 Personen. Zuvor hatten bereits mehrere andere Bundesländer und Kommunen Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmenden untersagt – unter anderem Hamburg, Bremen, Baden-Württemberg, Thüringen und Bayern. (1.576 bestätigte Fälle, drei Verstorbene)

13.03.2020: In der Stadt Halle (Sachsen-Anhalt) sind ab dem 13.03.2020 alle Kita, Schulen, Theater, Opern, Schwimmhallen und die Universität bis zum 27.03.2020 geschlossen. (3.062 bestätigte Fälle, fünf Verstorbene). Weiterhin, so der RKI Lagebericht, beschlossen alle Bundesländer (bis auf Hessen) ab Beginn der nächsten Woche Schul- und Kitaschließungen einzuführen. In Hessen gilt keine Unterrichtsverpflichtung mehr; der reguläre Schulbetrieb ist ausgesetzt.

14.03.2020: Laut dem RKI-Lagebericht (3.795 bestätigte Fälle, acht Verstorbene) wurden regional unterschiedlich weitergehende Maßnahmen zur Unterstützung der sozialen Distanzierung wie das Schließen von kulturellen Einrichtungen (z.B. Museen, Theater, Konzertsälen) sowie von Gastronomiebetrieben, Kneipen, Klubs, und weiterhin Einschränkungen für Besuche in Krankenhäusern und Altenheimen beschlossen.

21.03.2020: Bayern und das Saarland verhängen eine bundeslandweite Ausgangsbeschränkung.

23.03.2020: Bundeskanzlerin Merkel und die Ministerpräsidenten*innen haben ein bundesweites Versammlungsverbot beschlossen, nach dem Versammlungen von mehr als zwei Personen mit Ausnahme von Familien sowie in einem Haushalt lebenden Personen grundsätzlich verboten sind. Zudem müssen Restaurants und Betriebe für die Körperpflege unverzüglich schließen. Menschen müssen in der Öffentlichkeit einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten (22.672 bestätigte Fälle, 86 Verstorbene).

27.03.2020: Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (beschlossen bei Enthaltung der AfD und Gegenstimme LINKE)

06.04.2020: In Jena und Nordhausen ist das Tragen eines Mund-und-Nasen-Schutzes (MNS) in Verkaufsstellen, dem öffentlichen Nahverkehr und Gebäuden mit Publikumsverkehr verpflichtend.

15.04.2020: Treffen Bundeskanzlerin mit Ministerpräsident*innen: schrittweise Lockerung der Maßnahmen (Zunahme der bestätigten Fälle: 2.486, Zunahme der Verstorbenen: 285).

20.04.2020: in Sachsen ist ab dem 20.04.2020 das Tragen von MNS bei der Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs und beim Aufenthalt in Einzelhandelsgeschäften verpflichtend.

23.04.2020: Paul-Ehrlich-Institut genehmigt erste klinische Prüfung eines Impfstoffes.

16.06.2020: Start Corona Warn-App

19.05.2020: Zweites Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite

18.08.2020: Lagebericht weist auf die steigenden Fallzahlen hin

20.08.2020: Stellungnahme der STIKO zur künftigen Corona-Impfung

27.08.2020: Bußgeld von mindestens 50 € bei Verstoß gegen Maskenpflicht als Ergebnis des Treffens Kanzlerin mit Ministerpräsident*innen (Zunahme Fälle: 1.507, Verstorbene: 9.285)

07.10.2020: Anwendung HotSpot-Strategie mit lokalen Beschränkungsmaßnahmen bei Erreichung bestimmter Inzidenz (Zunahme Fälle: 2.828, Verstorbene: 9.562).

14.10.2020: Bei Inzidenz von 50/100.000 unter anderem Kontaktbeschränkungen und Sperrstunden (Zunahme Fälle: 5.132, Verstorbene: 9.677).

28.10.2020: Aufenthalt in der Öffentlichkeit nur mit den Angehörigen des eigenen und eines weiteren Hausstandes jedoch in jedem Falle maximal mit 10 Personen sowie Schließung von Freizeiteinrichtungen & Gastronomie (Zunahme Fälle: 14.964, Verstorbene: 10.183).

18.11.2020: Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage nationaler Tragweite

25.11.2020: Beschränkung privater Zusammenkünfte auf den eigenen und einen weiteren Haushalt, jedoch in jedem Falle auf maximal 5 Personen (Zunahme Fälle: 18.633, Verstorbene: 14.771)

21.12.2020: EMA spricht sich für Zulassung BioNTech-Impfstoff aus

24.12.2020: Erster Mutations-Fall in Deutschland

26.12.2020: Beginn der Impfung

05.01.2021: Beschränkung privater Zusammenkünfte auf eigenen Hausstand plus eine Person (Zunahme Fälle: 11.897, Verstorbene: 35.518)

19.01.2021: Konkretisierung der Pflicht zum Tragen MNS in Form von medizinischen Masken im ÖPNV (Zunahme Fälle: 11.369, Verstorbene: 47.622)

10.02.2021: Bis zum Sommer soll allen Bürger*innen ein Impfangebot gemacht werden.

04.03.2021: Vereinbarung konkreter Öffnungsschritte mit Notbremse zum 28.03.2021 sowie erste Öffnungsschritte

22.03.2021: Aufgrund Infektionsgeschehens Verlängerung der Maßnahmen  (Zunahme Fälle: 7.709, Verstorbene: 74.714)

08.05.2021: Verordnung Ausnahme Schutzmaßnahmen (Geimpft, Genesen, Getestet)

18.11.2021: Zusätzlich zu MNS-Pflicht in ÖPNV und in Regional- und Fernverkehr ist 3G geplant.

02.12.2021: Bundesweit Zugang zu Einrichtungen und Veranstaltungen der Kultur- und Freizeitgestaltung inzidenzunabhängig nur für Geimpfte und Genesene (2G) sowie Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte.

Wer behauptet, die Politik habe auf das RKI Einfluss genommen, müsste das belegen. Im Protokoll vom 16.11.2020 findet sich eher das Gegenteil, hier wird nämlich erwähnt, dass das RKVI vor der Beratung der Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen nicht gefragt wurde.

Nun aber wirklich zu den Protokollen. Ich habe mir diese unter bestimmten Aspekten angeschaut. Der Beitrag hier ist schon viel zu lang (und noch lange nicht am Ende😊).

Risikoeinschätzung und Erkenntnisse zum Erreger

Am Anfang stand das Unwissen. Am 14.01.2020 wird noch angenommen, der Infektionsschutz ist ähnlich wie bei SARS oder MERS mit einem geringen Gefährdungspotential. Bis einschließlich 22.01.2020 wird das Risiko für die Bevölkerung als sehr gering eingeschätzt, aber auch vermerkt: „Diese Einschätzung kann sich aufgrund neuer Erkenntnisse kurzfristig ändern.“ Wenig später, am 31.01.2020 wird dann festgehalten: „Im Falle fortlaufender Mensch zu-Mensch-Übertragung, die über sporadische Fälle bzw. Infektionsketten hinausgeht, wird dies (Risikoeinschätzung) neu bewertet.

Am 03.02.2020 wird im Protokoll festgehalten, dass „Schwere der Erkrankung und Empfänglichkeit der Bevölkerung (…) noch nicht ausreichend abschätzbar“ sind. Im Lagebericht (öffentlich einsehbar) vom 07.03.2020 wird dann präzisiert: „Die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung wird in Deutschland aktuell als mäßig eingeschätzt. Eine weltweite Ausbreitung des Erregers ist zu erwarten. Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern.“ Nach den ersten beiden Todesfällen erfolgte eine Anpassung am 09.03.2020 im Lagebericht: „Es handelt sich weltweit und in Deutschland um eine sehr dynamische und ernst zu nehmende Situation. Bei einem Teil der Fälle sind die Krankheitsverläufe schwer, auch tödliche Krankheitsverläufe kommen vor. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland derzeit insgesamt als mäßig ein. Diese Gefährdung variiert aber von Region zu Region (…) Die Wahrscheinlichkeit für schwere Krankheitsverläufe nimmt mit zunehmendem Alter und bestehenden Vorerkrankungen zu. (…) Diese Einschätzung kann sich kurzfristig durch neue Erkenntnisse ändern.“ Aufgrund der eingetretenen Dynamik wird die Gesundheitsgefahr am 17.03.2020 als „hoch“ eingestuft und für Risikogruppen am 26.03.2020 auf „sehr hoch“.

Zu Übertragungswegen gibt es am 20.04.2020 Hinweise auf „Publikationen zur Übertragbarkeit im Umfeld mit Patienten: neben der Tröpfcheninfektion spielt die Aerosolübertragung in bestimmten Situationen doch eine Rolle. Dies wird weiter beobachtet. Ggf. müssen Dokumente angepasst werden. Es gibt bislang wenig Informationen zur Rolle des Grundverhaltensmuster im normalen Leben auf Infektionen, d.h. wie viel spricht jemand mit Person, wie laut, viel lachen u.ä.

Am 07. Mai 2020 wurde im Krisenstab festgehalten, dass natürliche Belüftung/hohle Luftaustauschraten das Infektionsrisiko absenken können und am 05.06.2020 wird auf eine Studie verwiesen, nach der bisherige Erkenntnisse zu Abstandsregeln, Nutzung von Gesichtsmasken und Augenschutz gestützt werden. Mindestens 1 Meter Abstand soll eingehalten werden, besser wären 2 Meter.

Bereits am 24.07.2020 vermerkt das Protokoll des RKI, dass die Entwicklungen beunruhigend seien und der Anfang einer 2. Welle sein könnten. Die Befürchtung, der Anstieg könne sich weiter fortsetzen und beschleunigen findet sich im Protokoll vom 14.08.2020, ebenfalls der Hinweis „wenig Interventionsmöglichkeiten“.

Am 9.11.2020 wurde im RKI debattiert, ob ein Änderungsbedarf an der aktuellen Risikobewertung besteht: „Vorschlag: man sollte prüfen welche Entwicklung zu einer Überlastung führt: Ausmaß der Übertagung in der Bevölkerung? Entwicklung der Medizinsysteme? Entwicklung in den Intensivstationen? Anschließend sollte die Risikobewertung adaptiert werden.“

Mit der Frage von Re-Infektionen wird sich am 22.01.2021 beschäftigt: „Re-Infektion nach Studienlage bei 13-18% (ohne Sequenzierung, nur pos. Testergebnis). Wird die Wahrscheinlichkeit von Re- Infektionen mit weiteren Mutationen steigen und sollten Genese, wenn sie KP1 sind, daher in Quarantäne gehen? Welche Rolle spielen neue Varianten bei Re- Infektionen?“ Am 08.02.2021 wurde dann konstatiert: „Es ist unwahrscheinlich, dass das Zirkulieren der Variante B.1.1.7 verhindert werden kann. Bei den Varianten B1.351 und P1 wäre das Verhindern einer weiten Ausbreitung im Land wegen der geringeren Wirksamkeit der Impfung erstrebenswert.“  Die Schwierigkeit auf Grund mangelnder wissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt sich auch am 17.02.2021. Dort wird gefragt: „Wie korreliert Zunahme der Varianten mit Zunahme der Fallzahlen? Ist Zunahme der Varianten mit Zunahme der Inzidenz verknüpft?“

Ein Hinweis auf die bevorstehende 3. Welle findet sich im Protokoll vom 10.03.2021, verbunden mit der Fragestellung: „Sollte, neben der Beschleunigung von Impfung und Testung eine Änderung der Impfpriorisierung erwogen werden? In den vorliegenden Modellierungen wurde gezeigt, dass die derzeitige Priorisierung am geeignetsten geeignet ist, Todesfälle zu vermeiden.“

 Bekämpfungsstrategien

Aus einer Risikoeinschätzung ergeben sich Bekämpfungsstrategien und aus diesen wiederum Maßnahmen. Eigentlich.

Ein Blick auf die Bekämpfungsstrategien ist insoweit interessant, als sich auch hier der wissenschaftliche Erkenntnisfortschritt und die veränderte jeweilige Situation zeigt.

Das RKI verfolgte zunächst die Strategie „Containment“ (Eindämmung). Im Protokoll vom 31.01.2020 heißt es dazu: „Es wird Bedarf für ein Dokument gesehen, das Konzept, Ziele und Instrumente der seuchenhygienischen Maßnahmen für Phase des Containments erläutert (1-2 Seiten).“ Bereits am 06.02.2020 ist aber von einem „Entwurf zu Übergang von Containment zu Mitigation in Arbeit“ die Rede, der in Bezug auf die Kommunikationsstrategie vulnerable Gruppen in Arbeit ist. Am 27.02.2020 hat das RKI dann von Containment auf Mitigation (Milderung) umgestellt. „In der Außenkommunikation muss klargestellt werden, dass die Containment Phase fließend in die Mitigation Phase übergeht und die bereits eingeleiteten Maßnahmen soweit wie möglich weiter fortgesetzt werden sollten. Dazu zählt auch die Kontaktpersonennachverfolgung, die auch bei einem größeren Ausbruchsgeschehen weiterfortgeführt werden sollte.“ Der vorrangige Schutz von medizinischem Personal und vulnerablen Gruppen wird am 03.03.2020 festgehalten und am 11.03.2020 die Verlangsamung als „zentrale Komponente“ benannt.

Es wurden aber auch andere Stränge offen debattiert und anschließend verworfen. Am 18.03.2020 beispielsweise: „Wäre eine gewisse Ausbreitung des Virus nicht besser als zunächst ein totaler Stopp und dann bei Lockerung eine starke Ausbreitung. Evtl. könnten irgendwann Risikogruppen streng isoliert werden und das öffentliche Leben wieder aufgenommen werden.“ Der Krisenstab kommt aber zu dem Ergebnis, dass eine Ausbreitung nicht gestoppt werden kann.

Am 01.04.2021 wurden im RKI vier Szenarien für eine Deeskalationsstrategie durchgespielt: „Hammer and Dance: Epidemie ist durch massive Maßnahmen über einen relativ kurzen Zeitraum soweit gedrückt, dass Epidemie durch gezielte Fall- und Kontaktsuche in den Griff zu bekommen ist. Schaukel: Epidemie ist durch massive Maßnahmen über einen kurzen Zeitraum unterdrückt; Maßnahmen werden aufgehoben und bei weiterer Welle an Erkrankungen wieder eingeführt. Shield: Maßnahmen werden für allgemeine Bevölkerung aufgehoben, Risikogruppen werden geschützt, während eine weitere Durchseuchung der Bevölkerung stattfindet. Hammer – Dance – Stepwise + Shield: Bestehende Maßnahmen werden schrittweise, nach klinisch epidemiologischen Parametern und bezogen auf wirtschaftliche und soziale Folgen zurückgenommen. Risikogruppen werden durch gezielte Maßnahmen geschützt.“  Im Ergebnis heißt es: „Am ehesten ist das 4.Szenario realistisch, eine akute respiratorische Erkrankung kann auf Dauer nicht aufgehalten werden. Der Aufwand wäre sehr groß und würde mit sehr großen Einschränkungen des öffentlichen Lebens einhergehen. Eine begrenzte Ausbreitung wäre tolerabel.“

Einen interessanten Einblick in das Verhältnis von Politik und RKI geben die Protokolle vom 04.05.2020 und vom 05.05.2020. Dabei geht es um Lockerungen (De-Eskalation): „In einer TK von Herrn Wieler, Frau Merkel, Herrn Spahn und weiteren Teilnehmenden kam das Gespräch auf Schwellenwerte zur De-Eskalation zu sprechen. Herr Wieler hat sich dagegen ausgesprochen, da die lokalen Gegebenheiten betrachtet werden müssen. (…) Aus fachlicher Sicht unterstützt der Krisenstab die Entscheidung, keine Schwellenwerte festzulegen.“ Am 06.05.2020 wird ergänzt: „Indikatoren bereit zu stellen wird aus fachlicher Sicht weitgehend abgelehnt, jedoch werden diese nachdrücklich von politischer Seite eingefordert (eine diesbezügliche Weisung ist jedoch nicht erfolgt). (…) Ziel ist grundsätzlich eine Virussuppression zu erreichen, so dass klassische Infektionsschutzmaßnahmen ausreichen.“

Im Oktober 2020, genauer am 23.10.2020, ist dann von 3 Säulen der Bewältigung die Rede (Containment, Mitigation, Protection), die sich gegenseitig ergänzen und fortgeführt werden müssen. Am 20.11.2020 wird dann aber festgestellt, dass die Kontrolle Ende Oktober verloren gegangen ist.

Aus dem Jahr 2021 ist aus meiner Sicht noch ein Aspekt erwähnenswert, nämlich die Debatte im RKI zum Positionspapier Zero COVID. Am 18.01.2021 heißt es: „Positionspapier: Zero COVID (Dokument hier): Ziel des Dokumentes ist es in Deutschland Null SARS- CoV-2 Falle zu erreichen. Wie ist die Position des RKI zu diesem Papier? Diskussion: Die getroffenen Annahmen sind für Deutschland nicht zu erzielen; vorgeschlagenen Maßnahmen sind auch jetzt schon vorhanden; Wichtig wäre schon jetzt die konsequente Umsetzung und Überwachung der empfohlenen Maßnahmen; Der vorgeschlagene Grad der Einschränkung des Grenzverkehrs ist in Deutschland nicht umsetzbar. (…) Es sollte eher die Kontrolle der Pandemie (Control COVID-19) im Vordergrund stehen, hin zum Übergang zu einer saisonalen Übertragung; Ziele sollten nach SMART Kriterien formuliert und auch erreichbar sein; Zwischenziele wäre hilfreich z.B. keine schweren Erkrankungen, keine ungebremste Zirkulation, keine Spätfolgen, keine intensivpflichtigen Todesfälle.“  Deutlicher wird das RKI am 27.01.2021: „NoCovid ist wissenschaftlich betrachtet nicht umsetzbar. Vorschlag: Übergeordnetes Ziel ist, die Anzahl von Fällen so weit zu reduzieren, dass lokale Kontrolle durch die GA wieder möglich wird. Ziel sollte Schutz der Bevölkerung, die Minimierung der Schwere der Krankheit sein. Durch Minimierung der Zahl der Fälle, so dass Kontrolle wieder möglich wird. (…) Schutzschirm durch Impfungen sollte mit ein bezogen werden.“ Konsequenterweise wird am 29.01.2021 im Hinblick auf Lockerungen eine Orientierung an den schweren Auswirkungen (Hospitalisierung, Todesfälle) zu orientieren und werden „andere Parameter (z.B. Inzidenz) für frühzeitige Implementierung der Maßnahmen“ als sinnvoll angesehen.

Abschließend zum Punkte Bekämpfungsstrategien noch ein Ausschnitt aus dem Protokoll vom 22.03.2021 bei dem es auch um die soziale Frage geht, nämlich in Bezug auf die Tatsache, dass ein relevanter Übertragungsort der Haushalt ist. Der Krisenstab debattierte: „Wäre statt einer häuslichen Isolierung eine institutionalisierte Isolierung wie in asiatischen Ländern sinnvoll? Mit neuen Varianten sind deutlich höhere Übertragungsraten innerhalb von Haushalten verbunden. Allerdings erfolgen die Infektionen häufig sehr früh, deshalb wäre durch eine Isolierung außer Haus wenig zu gewinnen. Wenn es die Möglichkeit einer Isolation in Hotelzimmern gäbe, würden das vermutlich viele in Anspruch nehmen. Schwierig, wenn Kinder betroffen sind. Eine Verpflichtung würde auf wenig Akzeptanz treffen, Fälle melden sich dann evtl. nicht. Deshalb sollte eine Isolierung außer Haus kein Zwang, sondern ein Angebot sein. (…) Wird jetzt schon für Menschen in prekären Wohnsituationen empfohlen, jedoch von Gemeinden aus Kosten gründen zumeist nicht umgesetzt. Wurde den Ländern schon häufig nahegelegt. Angebote von Hotelvereinen, die Konzepte entwickelt haben, wurden weitergeleitet. Auch für Personen in einem Haushalt mit vulnerablen Personen sinnvoll und als Angebot für alleinstehende Personen, um Versorgung sicherzustellen. (…) Kostenfrage, müssten die Kommunen und Gemeinden übernehmen. Sollte als Möglichkeit nahegelegt werden, jedoch keine explizite Empfehlung.“ Es bleibt die Frage, wieviel Erkrankungen und Todesfälle hätten vermieden werden können, wenn es ein umfassendes Angebot der Isolation in Hotelzimmern insbesondere für Menschen in beengten Wohnverhältnissen oder Obdachlose gegeben hätte.

Fehlende Daseinsvorsorge – Beispiel Testkapazitäten

Was sich an allen Ecken und Enden der Protokolle zeigt, sind die Auswirkungen fehlender Daseinsvorsorge. Das reicht von der Überlastung des Gesundheitswesens bis hin zu der immer wieder angezeigten Überlastung der Gesundheitsämter (nicht nur bei der Kontaktpersonennachverfolgung).

Der Punkt Testen macht deutlich, wie Maßnahmen an Kapazitäten orientiert wurden, es also nicht immer um die aus medizinischer Sicht besten Maßnahmen ging. So heißt es am 13.05.2020: „Die Anpassung der Teststrategie ist bei vorhandenen Testkapazitäten grundsätzlich sinnvoll“

Wie eine mögliche Bekämpfung der Auswirkungen von Corona auf Grund fehlender Daseinsvorsorge eingeschränkt wurde, zeigt sich insbesondere an den Testkapazitäten. Es geht dabei nicht um die „Schnelltest“, die erst im ersten Quartal 2021 etabliert wurden. Laut der oben genannten Chronik waren nicht in der sog. 1. Welle die Ansteckung und die Todesraten am höchsten, sondern erst in den nachfolgenden Wellen. Es bleibt also die Frage: Was wäre, wenn Abstände konsequent eingehalten und Masken konsequent getragen worden wären (Eigenverantwortung) und beispielsweise die Testungen früher und umfangreicher eingesetzt sowie die Kontaktnachverfolgung umfassender möglich gewesen wären (Daseinsvorsorge). Am 05.06.2020 wird im Protokoll des Krisenstabes erwähnt, dass in 90% der Kreise keine oder weniger als 5 Fälle/100.000 Einwohner*innen zu verzeichnen sind.

Im Protokoll vom 24.06.2020 wird erwähnt, dass sich ab 01.07.2020 die Kosten für Coronatestungen (von 59 auf 39 Euro) ändern, „die Kassen haben dies bewirkt und der Bewertungsausschuss hat nun Sorge, dass hierdurch (sinkende Vergütung?) eventuell die Kapazitäten bei Vertragslaboren zurückgefahren werden“. Ist halt zu teuer so eine Testung, dann testen wir halt weniger. Das ist absurd, angesichts nachfolgender Aussage am 07.07.2020: „Ein bevölkerungsweites Screening kann zunächst attraktiv erscheinen, findet seine Begrenzung jedoch an den Testkapazitäten (,,,).“ Anders ausgedrückt: Im Juli, bei einem niedrigen Infektionsstand wird etwas als „attraktiv“ angesehen, kann aber nicht gemacht werden, weil keine ausreichenden Kapazitäten vorhanden sind. Es wurde auch nicht besser. Im Protokoll vom 14.08.2020 steht: „Labore haben keine langreichenden Reserven an Testkits. Deshalb wurde in die Laborabfrage die Frage eingefügt, für wie viele Tage im Voraus die Labore Materialien haben. Es ist unwahrscheinlich, dass die hohe Testkapazität für längere Zeit beibehalten werden kann. Der Markt für Testkits wird sich vermutlich verknappen.“ Wer an den Markt in einer Pandemie glaubt ist verlassen. Eingriffsmöglichkeiten in den Markt hat es durch das Erste Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite gegeben. Die wurden aber weder genutzt noch von ernstzunehmenden politischen Kräften eingefordert. So nahmen die Dinge ihren Lauf und am 16.11.2020 heißt es dann: „Im Moment sind die Laborkapazitäten zu 95% ausgelastet, dies weist auf Überlastung hin. So fehlen z.B. Pipettenspitzen, die auch für andere Diagnostik notwendig sind.“  Ein kleines zynisches Schmankerl noch. Am 18.11.2020 ist davon die Rede, dass die „begrenzten Laborkapazitäten zur >Stabilisierung< der Fallzahlen“ beitragen könnten. Wenn nicht getestet werden kann, gibt es auch keine steigenden Fallzahlen.

 Debatte um Ausgangssperren

Noch bevor das Saarland und Bayern als erste Bundesländer Ausgangssperren verhängten, habe ich mich hier gegen diese ausgesprochen.

Im RKI wurde das Thema zu diesem Zeitpunkt auch schon debattiert. Im Protokoll vom 18.03.2020 heißt es: „Es wurde diskutiert, ob Ausgangssperren das Infektionsrisiko tatsächlich reduzieren. Es gibt eher die Befürchtung neg. Konsequenzen. Allerdings sind Ausgangssperren relevant, um Gruppenbildung außerhalb des Haushalts zu vermeiden. Übertragungen finden dann nur noch in der Familie statt. Jedes andere Mittel ist besser, eine sinnvolle Maßnahme sind Apelle Abstand zu halten. Bei schlechter Compliance sind Ausgangssperren jedoch ein letztes Mittel der Politik. Das RKI soll sich nicht aktiv dagegen positionieren. Es gibt psycho-soziale Gegenargumente, jedoch keine epidemiologischen.“

Besonders bitter im Hinblick auf heftige Freiheitseinschränkungen wie Ausgangssperren ist es, wenn aus den RKI-Protokollen erkennbar ist, dass bei anderen Optionen solche Dinge auch epidemiologisch gar nicht nötig gewesen wären. Am 18.05.2020 heißt es nämlich: „Testen ist nicht Teil der Maßnahmen. Umso mehr getestet wird, umso weniger einschränkende Maßnahmen sind notwendig.“ Neben dem Umgang mit Obdachlosen ist dies aus meiner Sicht der zweite „Skandal“ der sich aus den RKI-Protokollen ergibt.

Maskenpflicht

Einer der zentralen Kritikpunkt ist die Maskenpflicht. Dabei wird allerdings vernachlässigt, dass es in der Zeit, wo Corona sichtbar war, zwei verschiedene Arten von Masken gab. Einmal geht es um Medizinische Masken (MNS), um Mund-Nase-Bedeckung (MNB) und um FFP2-Masken.

Gerade bei der Frage Masken zeigt sich, die Verunsicherung über Wirkungen, aber auch ein gewisser Schlingerkurs.

Ganz zu Beginn, am 27.01.2020 wird das Tragen von Mund-Nasenschutz für öffentliche Bevölkerung bei asymptomatischen Patienten als „nicht sinnvoll“ angesehen. „Es liegt keine Evidenz vor als sinnvolle präventive Maßnahme für die Allgemeinbevölkerung.“  Einen Monat später (18.02.2020) wird auf die sehr knappen Ressourcen für MNS verwiesen, die in 1-2 Wochen aufgebraucht seien und im Hinblick auf die Evidenz am 26.02.2020 festgehalten: keine Studien die Kontraproduktivität belegen/dagegen sind, keine Evidenz dafür“. Am 11.04.2020 entschied sich das RKI für eine Strategie, nach der situationsbedingt z.B. im öffentlichen Raum bei engem Kontakt ein MNS sinnvoll sein kann.

Wenig später dann (19.03.2020) hieß es in Bezug auf die Maskennutzung: „Wenn es mehr Infizierte gibt, laufen auch mehr Ausscheider rum, Thema wird relevanter und muss erneut bedacht werden. Spätestens wenn Masken wieder besser verfügbar sind, sollte das Tragen stärker propagiert werden (…) Textile Masken sind auch mögliche Alternative, abhängig von Rückhaltevermögen von Textilien für Tröpfchen, (…). Alles eine Frage der Verfügbarkeit. Deutlich auch bei FFP 2 (01.04.2020): „Sollten FFP2-Masken wieder verfügbar sein und alle, bei denen es sinnvoll wäre, diese tragen würden, könnte dadurch die Ausbreitung stark verlangsamt werden.“ Aber sie waren ja nicht verfügbar. Der Markt und so. Das setzt sich fort. Noch am 27.11.2020 wird in den Protokollen hinsichtlich MNS erwähnt: „Die bisherigen Empfehlungen haben die Nutzung von MNS offengelassen, sofern die Produktionskapazitäten ausreichen.“

Die Frage der Schutzfunktion von Masken wurde am 10.08.2020 wieder aufgerufen, indem gefragt wurde, ob die Maskenempfehlungen noch „up-to-date“ sind. Als Antwort wurde darauf abgestellt, dass insbesondere Studien aus dem Gesundheitswesen einbezogen wurden und diese die bisherigen Erkenntnisse stützen. „Atemschutz (N95) größerer protektiver Effekt als medizinischer MNS bzw. 12-16 lagige Baumwollmasken. (…) Eine weitere Meta-Analyse durchzuführen ist insgesamt schwierig auf Grund der unterschiedlichen Maskenarten, die genutzt werden. Lediglich Fremdschutz bietet das Argument Masken für alle zu empfehlen. Eigenschutz würde dazu führen, dass Menschen das Tragen ablehnen könnten mit dem Argument, dass Gegenüber sich mit einer Maske schützen könnte.“ Am 25.11.2020 wird im Hinblick auf Masken konstatiert: „Maskenpflicht kollektive Maßnahme, senkt insgesamt die Krankheitslast auch für weitere resp. Erkrankungen“. Im Hinblick auf Medizinische Masken ist ein Auszug aus dem Protokoll am 27.12.2002 aufschlussreich: „Es stellt sich auf Anregung des Bundesgesundheitsministers erneut die Frage, ob das RKI statt Alltagsmasken nicht MNS für die generelle Bevölkerung empfehlen sollte. (…)  An MNB hat sich die Bevölkerung gewöhnt. Es besteht Sorge, dass bei Änderung der Empfehlung der Vorwurf entstehen könnte, dass das RKI wissentlich eine >schlechtere< Maßnahme empfohlen habe. MNB hat Schutzwirkung, jedoch sind die Anzahl an Lagen und die Art der Herstellung mitentscheidend. Mehrlagigkeit und ein dicht anliegender Sitz sind wichtig.“

Aber noch einmal zurück zum 01.04.2020, wo FFP2 als ein Beitrag zur starken Verlangsamung bezeichnet wurde. Nachdem Bayern die Pflicht zu FFP2-Masken im ÖPNV und Einzelhandel ausgesprochen hatte (auch hier wieder stellte sich die Frage, wie Menschen mit geringem oder keinem Einkommen an diese Masken komme) wird vom RKI am15.01.2021 festgehalten: „Es gibt keine Änderung der bereist bekannten Evidenz zum Tragen von FFP2 in der Allgemeinbevölkerung (Folie). Die Passform/der Dichtsitz um eine Eindämmung zirkulierender respiratorische Erreger zu gewährleisten muss sichergestellt werden. Bei nicht korrekter Anwendung ist ein Eigenschutz, der über einen Effekt eines korrekt getragenen MNS hinausgeht nicht vorhanden. Internationale Empfehlungen sehen das Tragen von FFP2 in der Allgemeinbevölkerung nicht vor bzw. sprechen sich explizit dagegen aus (CDC). (…) Das Tragen von FFP2 benötigt eine arbeitsmedizinische Einschätzung (gesundheitsmedizinische Risikoprüfung) und kann mit Risiken (Dermatosen etc) einhergehen. Studien zu Schutzwirkung von nicht angepassten FF2 bei Influenza zeigen einen vergleichbaren Schutz zu MNS, jedoch besser als MNB. Anregung zur besseren Kommunikation/Erklärung des Fachwissens (FF2 vs. MNS) wie oben angeregt. (…) Das RKI empfiehlt weiterhin FFP2 prioritär für medizinisches Personal. Keine explizite Empfehlung/Verbot für das Tragen in anderen Bevölkerungsgruppen. (…) Keine fachliche Grundlage zur Empfehlung von FFP2-Maske für die Bevölkerung vorhanden.“  

Impfen

Für Aussagen zum Impfen ist an erster Stelle die STIKO (Ständige Impfkommission) zuständig. Auch das wird häufig durcheinandergeworfen.

Am 20.08.2020 wurde die Stellungnahme der STIKO (Ständige Impfkommission) zur zukünftigen Corona-Impfung veröffentlicht. Die STIKO weist darauf hin, dass wie auch bei anderen Impfstoffen, bei einem Teil Impfreaktionen auftreten können. Weiter heißt es: „Daten zu möglichen sehr seltenen Impfkomplikationen werden aufgrund der Größe der Studienpopulationen – wie immer bei neuen Impfstoffen –begrenzt sein.“  Die weiteren Empfehlungen können hier nachgelesen werden.

Das Thema Impfung wird das erste Mal am 15.04.2020 aufgerufen: „Viele Impfstoffkandidaten in Biotec Firmen und akademischen Gruppen entwickelt, dort keine Produktionskapazität, daher ist Tech Transfer nötig. Noch fraglich, ob dann genügend Impfstoff zur Verfügung steht. Die US-Regierung hat schon Produktionsstätten mittels ihrer Notstandsgesetze beschlagnahmt. (…) Derzeit wird in der Literatur Immune Enhancement diskutiert (schwere Erkrankung durch Impfung) … Es gibt keine Erfahrung wie gut und wie dauerhaft die Immunität durch die Impfung sein wird. Firmen sind zuversichtlich, dass ein Impfstoff entwickelt werden kann. (…) Es gibt keine Erfahrung mit mRNA- Impfstoffen, aber ein großer Vorteil wäre, dass wenn man die Produktionsstätten hat, rel. schnell viel Impfstoff hergestellt werden kann.“

Wenn über das Impfen gesprochen wird und zukünftige Krisen/Notlagen, muss auch das Thema Bund und Länder berücksichtigt werden. Am 03.07.2020 wurde im ein „dringender Diskussionsbedarf zwischen Bund und Ländern für das Vorgehen“ gesehen. Bund präferiert Impfzentren.“ Etwas Verärgerung liest sich aus dem Protokoll vom 28.09.2021: „Im Mai wurde bereits ein erstes Konzept für die Einführung der Impfung entwickelt. Monatelang ging das Konzept hin und her, es wurde z.B. diskutiert, wo geimpft werden soll. Nun soll das Konzept nochmal überarbeitet werden und in einer nationalen Impfstrategie münden, die dann mit den Bundesländern geteilt werden kann.“ Anders formuliert: Von Mai bis Ende September wurde nichts verbindlich vereinbart.

Studien zur Wirksamkeit des Impfstoffes wurden am 13.11.2020 im Krisenstab präsentiert und, gleichzeitig darauf verwiesen, dass die Empfehlung der STIKO am 15.12.2020 stehen soll. Als eines der ersten Ziele des Impfens wird die Reduzierung der Todesfälle in den Risikogruppen genannt.  Am 25.11.2020 heißt es: „Priorisierung der Impfung erfolgt nach Risiko; an die (noch) nicht erfolgte Impfung darf keine Benachteiligung geknüpft sein, sterile Immunität nach Impfung nicht bewiesen, (…).“ Genauere Erkenntnisse ergeben sich aus dem Protokoll vom 27.11.2020: „Impfstoffentwicklung und Zulassung: BioNTech-Pfizer wird als erster Impfstoff erwartet mit Zulassung möglicherweise bis 23.11.2020, dann Chargenprüfung und Auslieferung. Hohe Effektivität von 95%, auch in hohen Altersgruppen. Hohe Impfeffektivität für BioNTech Impfstoff wird Kommunikation vereinfachen. Moderna: advanced purchase agreement, bei EMA rolling review eingereicht, unklar, ob es auf den deutschen Markt kommen wird, deutscher Markt lt. Hersteller prioritärer Markt in EU. AstraZeneca: Gesamteffektivität 70%, bei Unterkohorte mit kleinerer Dosierung 90% Impfeffektivität (Zufallseffekt), unklar, welche Konsequenzen dies für die Produktion hat (Stabilität des Impfstoffs?). (…) Bei Annahme von 90%-iger Impfeffektivität, einer Inzidenz von 150/100.000 und einer Verfügbarkeit von 1,25 Mio. Impfdosen/Woche wurde der Impact verschiedener Impfstrategien modelliert. Bei Priorisierung der >80-Jährigen würde das Gesundheitssystem entlastet (weniger Hospitalisierungen). (…) Offene Fragen betreffen u.a. welche Maßnahmen für Geimpfte weiter gelten („hilft gegen andere resp. Erreger“ weniger sinnvoll, stattdessen Hinweis auf populationsbasierte Maßnahme), ob auch diejenigen, die die Krankheit durchgemacht haben, geimpft werden sollen, ob Riegelungsimpfungen bei Ausbrüchen durchgeführt werden sollen. Impfung hinterlässt möglicherweise stärkere Immunität als durchgemachte Krankheit (Immunantwort durch mRNA Impfstoffe deutlich höher als bei milden COVID-19 Verläufen), was an unterschiedlichen Indikatoren, u.a. neutralisierenden Antikörpern, festgemacht wird. (…) Ein großes Hindernis in der raschen Umsetzung ist die Verfügbarkeit des Personals für Impfzentren. Jedes BL hat eigene Strategie mit unterschiedlich vielen Impfzentren und mobilen Teams.“ Am 04.12.2020 wird eine „Immunität nach Impfung angenommen mindestens so gut wie nach durchgemachter Erkrankung“. Was allerdings noch offen war, war die Frage der Beeinflussung der Übertragung durch Geimpfte. Am 21.12.2020 wurde im Hinblick auf Transmission (Übertragung) vermerkt, dass „gute Daten (…) noch nicht“ vorliegen und in den „nächsten 2-4 Monaten nichts Belastbares zu erwarten“ ist.

Es wurde mit dem Impfen begonnen und die erste Mutation kam auf den Markt. Das führte erneut zu Unsicherheiten. Am 08.01.2021 wurde gefragt, ob eine Wirksamkeit des Impfstoffes gegen neue Varianten gegeben sei. Nicht ganz unwichtig. Die Antwort: „Hoffentlich nächste Woche Hinweise hierzu.“ Es gab auch weitere Unsicherheiten: „Evidenzlage: Impfstoffwirkung ist noch nicht bekannt, Dauer des Schutzes ist ebenfalls unbekannt. Evidenz ist aktuell nicht genügend bezüglich Reinfektion und Ausscheidung. (…) Vertrauen wir bei Impfung nur auf individuellen Schutz vor schwerer Erkrankung? Verabschieden wir uns vom Narrativ der Herdenimmunität durch Impfung? Verhinderung von Infektionen: bei mRNA-Impfstoffen nur Daten aus Tierversuchen, bei Astra Zeneca beim Menschen nicht ausreichend, (…). Es wird vermutet, dass Impfung einen Herdeneffekt hat. Konkrete Anzahl der zu Impfenden zum Erreichen der Herdenimmunität hängt von diversen Faktoren ab (…).“ Am Ende der Diskussion im RKI wird als Fazit ein Sonderstatus für Geimpfte abgelehnt und ebenfalls auch eine Testpflichtausnahme für Geimpfte und Genesene.

Neuere Erkenntnisse gab es knapp einen Monat später, am 08.02.2021: „Es ist zu erwarten, dass durch die Impfung zwar schwere Verläufe vermieden werden können, nicht jedoch die lokale Vermehrung der Viren.“ (…) Es ist unwahrscheinlich, dass das Zirkulieren der Variante B.1.1.7 verhindert werden kann. Bei den Varianten B1.351 und P1 wäre das Verhindern einer weiten Ausbreitung im Land wegen der geringeren Wirksamkeit der Impfung erstrebenswert.“ Die nächsten Daten zur Wirksamkeit lagen dann am 12.02.2021 vor: „Daten aus Israel zeigen, dass Biontech ähnlich gute Wirksamkeit hat wie in Zulassungsstudien. Daten zu Astra-Zeneca Impfstoff aus Südafrika: nur noch 10% Wirksamkeit bei B1.351-Variante, allerdings milde Erkrankung als Endpunkte. Daten zu Johnson & Johnson-Impfstoff, ebenfalls in Südafrika, mehr Power, auch schwere Erkrankung als Endpunkte. Dort Wirksamkeit bei moderaten und milden Fällen niedriger, aber Wirksamkeit bei schweren Fällen erhalten, 85% Wirksamkeit bezüglich schwerer Erkrankungen. Anpassung der Vakzine an Varianten: Alle Hersteller arbeiten an Anpassung der Vakzine (…). Analysen zu Impfdurchbrüchen:  FG33 schaut sich IfSG-Meldungen zu Impfdurchbrüchen systematisch an, bisher 9000 Fälle, mit einer Impfung und 4 Fälle mit Zweifach-Impfung.“ In Bezug auf Nebenwirkungen beim Impfstoff AstraZeneca wird am 19.02.2021 festgehalten, dass dies „dies ist nicht ganz überraschend“ sei, „NW-Profil ist bekannt (…)“. Am 10.03.2021 lagen weitere Daten vor: „Mittlerweile liegen Daten zum Gesamteffekt der Impfung auf die Häufigkeit von SARS-CoV-2-Infektionen vor: 70 % weniger nach 1.Dosis von AstraZeneca, 90 % weniger nach 2. Dosis von Biontec/Pfizer-Impfstoff, Viruslast und Dauer der Virusausascheidung sind bei den trotz Impfung PCR Positiven geringer bzw. kürzer.“  Zu den Thromboembolien nach AstraZeneca Impfung wird am 12.03.2021 angemerkt: „in DEU 11 Verdachtsfälle, davon 3 verstorben, v.a. Frauen betroffen. 11 Fälle auf 1,2 Mio. Geimpfte, war zu erwarten;“

Im RKI fand „intensiviertes Surveillance“ zur Erkennung von Impfdurchbrüchen statt (26.02.2021). Am 01.03.2021 heißt es beim RKI: „An der Evidenz zu steriler Immunität hat sich nichts verändert. Die Entlastung von Gesundheitswesen und Reduktion von schweren Verläufen ist durch die Impfung früher zu erreichen als die Unterbrechung von Infektionsketten.“

Die Debatte um Ausnahmen für Geimpfte und Genese wurde unter anderem am 05.03.2021 geführt: „Frage: Gilt die bisherige Haltung des RKI, keine Ausnahmen für Geimpfte und Genesene zu machen weiter? Hinweis: FG 36 hat einen Prüfauftrag zu dieser Frage in Bearbeitung. Hohe Dunkelziffer, es ist fachlich nicht begründbar und nicht sinnvoll, ein „opportunity sample“ (die Getesteten, die eine Infektion nachweisen können) mit Privilegien denen gegenüber, die es nicht oder nicht mehr (abhängig von AK Test und Zeitspanne, die vergangen ist) nachweisen können. Das Impfzertifikat soll die Erfassung von Impfwirkung, Spätfolgen etc. ermöglichen, nicht Grundlage für Kategorien und Vorrechte sein o WHO befürwortet die Zertifikate nicht: Lack of data, keine Fälschungssicherheit, ethische Gründe (Diskriminierung))“. Es ist aber eine Debatte, die gerade begann und am 10.03.2021 hat eine andere FG eine andere Meinung: „FG 33 vertritt die Haltung, dass bei vollständig Geimpften auf eine Quarantäne nach Exposition verzichtet werden kann, das Risiko möglicherweise auftretender asymptomatischer Infektionen kann mitigiert werden. Vorschlag: Quarantäneausnahme für vollständig Geimpfte, Empfehlung der Selbstisolierung bei Symptomatik, kein Verzicht auf Masken o US-CDC erlaubt vollständig geimpften (2 Dosen +14 Tage Abstand), sich ohne Maske in Innenräumen zu treffen und ordnet nach Exposition keine Quarantäne an (basierend auf 78 Referenzen). (…) Frage: Wie soll mit Genesenen umgegangen werden? Es ist nicht überzeugend, für Geimpfte Ausnahmeregelungen zu schaffen und nicht auf die Genesenen einzugehen. Aber: Impfung schafft eine standardisierte Situation, Situation der Genesenen ist zeitlich und durch unterschiedliche Schweregrade nicht standardisiert. Datenlage hierzu unklar, (…). Lösung: STIKO empfiehlt (datenbasiert), Genesene nur 1.x zu Impfen, daher sollen die Quarantäneausnahmeregeln für vollständig Geimpfte und Genesene, die eine Impfdosis erhalten haben empfohlen werden.“

Am 09.04.2021 gab es dann eine neue STIKO-Empfehlung.

Dass die verfügbaren Protokolle des RKI am 30.04.2021 enden, ist Schade. Die eigentliche Debatte um das Impfen hatte zu diesem Zeitpunkt gerade begonnen. Andererseits muss damit auch klar gesagt werden, dass sich aus den RKI-Protokollen eben nichts für Impfentscheidungen nach dem 30.04.2021 ergibt. Wer auch immer sich dafür auf die RKI-Protokolle beruft, tut dies ohne sachliche Grundlage.

Schlussfolgerungen und Aufarbeitung

Ich habe ja schon geschrieben, dass die Protokolle des Krisenstabes nicht der Aufregung wert sind. Was ich aber gut finden würde wäre, wenn in Ablehnung der instrumentellen Behandlung der Protokolle des Krisenstabes durch einige Leute und Portale die (nächste) Chance genutzt wird, Schlussfolgerungen aus Corona zu ziehen und grundsätzlich über (linke) Anforderungen an Notlagen- bzw. Krisenpolitik zu reden.

Im September 2020 habe ich gemeinsam mit Udo Wolf mal versucht einiges dazu aufzuschreiben. Fast vier Jahre später würde ich für Aufarbeitung und Schlussfolgerung nachfolgende Punkte zentral finden:

  • Grundlegende gesellschaftliche Verständigung über nachvollziehbare Kriterien, ab welcher Gefahr für Leib und Leben freiheitseinschränkende Maßnahmen in welchem Umfang angemessen sind. Was ergibt sich diesbezüglich aus der Entscheidung des BVerfG vom 26. Februar 2020 in der es in Rdn. 264 heißt: „Einschränkungen individueller Freiheiten sind nur dann angemessen, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht.“?
  • Wie kann sichergestellt werden, dass mögliche Maßnahmen jenseits von Freiheitseinschränkungen ergriffen werden? (Konkretes Beispiel: Wenn RKI sagt, dass die Schutzausrüstung MNS knapp wird, welche Handlungsalternativen für die Politik bestehen um ausreichend MNS zu haben?)
  • Wie kann die Einbeziehung der Parlamente zur Krisen- oder Notlagenbekämpfung sichergestellt werden (kann das Berliner Covid 19-Parlamentsbeteiligungsgesetz als Folie für derartige Gesetze genutzt werden)?
  • Welcher Bereich der Daseinsvorsorge muss wie ausgebaut/gesichert werden, um Krisen/Notlagen bewältigen zu können und dabei die Grund- und Freiheitsrechte möglichst wenig einzuschränken? (unter anderem Gesundheitswesen, Katastrophenschutz, Zugang zu Wasser, Zugang zu Hitze- und Kälteschutzräumen, Zugang zu Energie)
  • Wie müssen multiprofessionelle Krisenstäbe/Beratungsgremien aufgestellt sein, um strategische Entscheidungen zu treffen?
  • Wie kann sichergestellt werden, dass Hilfsangebote alle erreichen? (Sprachbarrieren, mobile Informations- und Hilfsdienste, barrierefreie Kommunikation)
  • Wie kann im Föderalismus bei Bundesländerübergreifenden Krisen/Notlagen eine bestmögliche Reaktion/Bekämpfung gewährleistet werden? Was ist diesbezüglich aus Corona gelernt worden? (vgl. Protokoll vom 03.02.2020: „Der Föderalismus ist eine Herausforderung, es gibt z.B. 3 verschiedene Softwaresysteme zum Datenaustausch.“)
  • Welche stadtentwicklungspolitischen und wohnungstechnischen Maßnahmen müssen getroffen werden um künftigen Krisen/Notlagen gewachsen zu sein, ohne sozial selektierend zu wirken? (z.B. Isolationsmöglichkeit, Zugang zu Wasser, Hitze- und Kälteschutz)
  • Welche Regelungen sind zu treffen, damit es nicht zu sozialpolitischen Verwerfungen kommt (Verdienstausfall bei Schließung von Einrichtungen, Verdienstausfall für Eltern bei Kita- und Schulschließungen, Zugang zu Hilfs- und Schutzmitteln)?

Wer Corona aufarbeiten will, der muss mehr machen als sich mit freiheitseinschränkenden Maßnahmen beschäftigen. Es muss darum gehen, die Gesellschaft krisenfest (resilient) zu machen. Und das geht eben nur, wenn die Daseinsvorsorge gesichert wird. Da gäbe es jede Menge zu tun, auch im Infektionsschutzgesetz. Dass das alles passiert – diese Hoffnung ist bei mir längst gestorben. Und eine solche Art von Aufarbeitung ist nicht das Ziel derjenigen, die jetzt unter #RKIFiles ihr Mütchen kühlen.

 

 

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