Eine andere Sichtweise zu einem Gutachten

Am 23.12. hat Wolfgang Neskovic (parteilos) allen MdB der LINKEN ein Gutachten zum empfehlenden Mitgliederentscheid der LINKEN, wie von Klaus Ernst auf der Kreisvorsitzendenkonferenz in Hannover vorgeschlagen, geschickt. Das Gutachten beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Urwahl zum Parteivorsitz mit Satzung und Parteiengesetz vereinbar ist.

Adressat müsste eigentlich der geschäftsführende Vorstand sein, der über die Zulässigkeit entscheiden muss. Da das Gutachten in der Presse eine Rolle spielt, dokumentiere ich nachfolgend meine andere Sichtweise, die dem Empfänger/innen-Kreis der Mail von Wolfgang (und damit auch Wolfgang) am 23.12. um 16.15 Uhr zugegangen ist.

„lieber wolfgang,

vielen dank für das unverlangt eingesandte gutachten.

ich will dir mitteilen, dass ich deine einschätzung bis auf den punkt 1. a) weder teilen noch nachvollziehen kann. eine unmittelbare wahl der parteivorsitzenden durch mitgliedentscheid ist, da sind wir uns einig, unzulässig.

zum parteiengesetz:

dein gutachten stellt die frage nach der urwahl. mit der antwort zu 1. a) hättest du es dann beenden können,  denn eine urwahl fordert niemand. es geht lediglich um einen empfehlenden mitgliederentscheid. auf den unterschied sollte man schon achten und nicht durch die überschrift suggerieren, alles andere außer einer unmittelbaren wahl sei auch eine urwahl.

selbstverständlich hat allein der parteitag das recht, die wahl vorzunehmen, weswegen das argument mit der wahlfreiheit und dem freien wahlvorschlagsrecht nicht zieht. du beziehst dich dann mit verweis auf § 9 abs. 3 und 4 einen „parteitagsvorbehalt“  und sagst damit nichts anderes, als dass die dort benannten punkten einem empfehlenden mitgliederentscheid vor dem parteitag an sich entzogen sind. der absatz 3 nennt aber beispielsweise die satzung. wie du sicherlich weißt, haben wir regelungen unserer satzung u.a. hinsichtlich der doppelspitze im jahr 2010 in einem empfehlenden mitgliederentscheid vor dem parteitag den mitgliedern zur entscheidung vorgelegt. dies müsste nach deiner argumentation dann ein verstoß gegen das parteienrecht gewesen sein. im übrigen verweist du selbst auf die satzung der linken, die explizit einen empfehlenden mitgliederentscheid vorsieht, soweit eine regelung dem parteitag vorbehalten ist. eine solche regelung in der satzung wäre überflüssig, wenn es einen solchem empfehlenden mitgliederentscheid auf grund des „parteitagsvorbehaltes“ gar nicht geben kann.

das argument zur einengung des innerparteilichen diskurses ist für mich nicht nachvollziehbar. im gegenteil zu dem von dir vorgetragenen würde ein empfehlender mitgliederentscheid deutlich mehr als die knapp 500 parteitagsdelegierten in den diskurs einbeziehen und insofern eine erweiterung des diskurses darstellen und keine verengung.

zur satzung der linken:

du erwähnst zu recht den § 8 der satzung, der explizit von politischen entscheidungen spricht und gerade nicht von sachthemen. die formulierung „politische entscheidung“ durch „sachfrage bzw. sachthema“ zu ersetzen, lag als antrag auf dem parteitag vor, wurde aber nicht abgestimmt. das zeigt schon, dass der unterschied zwischen diesen beiden formulierungen bekannt ist und „politische entscheidung“ bewusst gewählt wurde.

die satzungskommission, der ich angehörte, hat im übrigen am 12. juni 2010 (siehe sofortinformation der satzungskommission) darüber debattiert, den begriff „politische frage“ zu präzisieren, es dann aber nicht gemacht. auch dies spricht dafür, dass hier gerade nicht nur sachthemen gemeint sind.

es war im übrigen die satzungskommission, die die ordnung über mitgliederentscheide im wesentlichen erarbeitet hat. anders als am richtertisch, trafen bei der erarbeitung unterschiedliche politische positionen aufeinander und mussten austariert werden. die insoweit von dir angestellten überlegungen hinsichtlich fehlender worte etc. gehen fehl. soweit ich mich erinnere, spielten diese überlegungen keine rolle. aus meiner sicht übersiehst du hier aber auch das rangverhältnis von satzung und ordnung, letztere stellt lediglich eine präzisierung dar und kann nicht die grundsatzentscheidung der satzung aufheben.

auch deine überlegungen hinsichtlich der fehlenden regelungen zur kandidatur auf parteitagen, soweit ein empfehlender mitgliederentscheid stattgefunden hat, können nicht überzeugen, auch hier argumentierst du vom grünen tisch aus, nicht jedoch aus der praktischen entstehung der ordnung heraus. da ein empfehlender mitgliederentscheid keine wahl ist, muss die wahlordnung keine anwendung finden. da jede/m unbenommen ist auch auf dem parteitag zu kandidieren, auch wenn er vorher nicht beim mitgliederentscheid angetreten ist, sind auch dafür keine extra regelungen zu schaffen.

auch das argument, das wahlvorschlagsrecht bliebe den beantragenden vorbehalten, läuft leer. es ergibt sich aus der natur der sache, dass ein mitgliederentscheid zur frage parteivorsitz beantragt wird und der/die namen der bewerbenden in den text, über den abgestimmt wird eingesetzt werden, nachdem der bewerbungsschluss vorbei ist. so sah es im übrigen der text der bundesgeschäftsführer dreibus und lay vor: „NN soll parteivorsitzende/r werden“ – danach konnte ja, nein und enthaltung angekreuzt werden.

beste grüße, verbunden mit den besten wünschen für die feiertage
halina“

4 Replies to “Eine andere Sichtweise zu einem Gutachten”

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  2. Stimme dir voll zu. 🙂 Finde dein Kollege vermischt hier so einiges und hat wohl die Absicht, die Einbeziehung der Mitglieder in jedem Fall zu unterbinden obwohl er selber kein Mitglied ist. Die Argumentationslinie erinnert an den Umgang mit Volksabstimmungen. Da werden ja die Väter (oder waren auch Mütter dabei?) des GG immer herangezogen, die einen Fall konkret geregelt haben (Länderfusion) um dadurch andere Abstimmungen zu verbieten.

  3. Pingback: Mit Hang zum Vorhang (jungle world) | bo valentin

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