Vorteil des Vergessens

Mit freundlicher Genehmigung von OXI. Dokumentation des Gastbeitrages aus der Ausgabe 12/17.

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Jeder Umzug ist eine Qual. Wohin mit all den Aktenordnern und was mache ich mit den Büchern? Glücklicher- weise sind diese Zeiten vorbei. Dank der neuen Technik. Die meisten Akten sind digital, die meisten Bücher auch.  

Umzüge sind einfacher geworden. Und selbst die Umwelt proftiert davon. Denn es müssen weniger Bäume gefällt werden für all die wichtigen Dinge, von denen wir glauben, sie aufheben zu müssen.  

Aber ist es wirklich so viel schöner? Stimmt es denn, dass mit der Entwicklung der IT eine Möglichkeit gegeben ist, umweltgerecht zu leben? Bei einem zweiten Blick wird alles komplizierter. Datenmüll nennt sich das Problem. Ich würde es noch weiter fassen. Es geht am Ende auch um Hardwaremüll. Doch der Reihe nach.  

Datenmüll: Bei jedem Umzug wurde früher aussortiert. Welches Buch und welche Akten werden wirklich noch benötigt? Das entfällt heute. Was einmal gespeichert ist, wird kaum noch gelöscht. So finden sich jede Menge mehr oder weniger sinnloser Texte entweder auf dem Rechner, der externen Festplatte oder eben in irgendwelchen Clouds. Gleiches gilt für die E- Mails. Viele Texte oder viele E-Mails brauchen viel Speicherplatz. Und viel Speicherplatz bedeutet große Server. Manchmal spricht man von Serverfarmen.  

Es ist kein Geheimnis, dass der größte Teil des Stromverbrauchs in der Kommunikations- und Informationstechnik in Rechenzentren und Serverfarmen stattfindet. In einer Studie des Fraunhofer Instituts aus dem Jahr 2009 wird davon ausgegangen, dass der Stromverbrauch in der Informations- und Kommunikationstechnik in Deutschland zwischen 2007 und 2020 um 20 Prozent steigen wird. Der gesamte Stromverbrauch für Server und Rechenzentren soll nach dieser Studie um 35 Prozent steigen.  

Ein nicht unwesentlicher Teil des Verbrauchs entsteht durch die notwendige Kühlung. Allerdings produzieren Serverfarmen auch jede Menge Wärme. Seit einiger Zeit gibt es die Idee und erste Ansätze, dies zu nutzen. Im Jahr 2015 startete beispielsweise ein niederländisches Start Up, das mit der von einer Serverfarm produzierten Wärme Wohnungen heizen will. Ähnliche Modelle gibt es in der Schweiz, und im schwedischen Falun wird die Wärme sogar in das kommunale Fernwärmesystem eingespeist. Mittlerweile werden Serverschränke entwickelt, die auch als Heizung (mit)verwendet werden können. Das setzt allerdings eine stabile Breitbandverbindung voraus.  

Aber das ist ein anderes Thema. Interessanterweise findet sich auf der Seite von Greenpeace zu all dem so gut wie gar nichts. Jedenfalls nicht in den vergangen zwei Jahren.  

Also doch mehr speichern, weil mehr speichern auch mehr Serverkapazität bedeutet und mehr Serverkapazität mehr Synergieeffekte mit sich bringt? So einfach ist es dann doch nicht. Diese Art von Wachstumslogik lässt nämlich zwei Dinge außer Betracht. Erstens: Was macht das Sammeln von Daten mit Menschen? Zweitens: Was bedeutet diese Art von Wachstum für Hardware?  

Der Vorteil des Vergessens: Es kostet, bis auf Speicherplatz, nicht mehr viel, alle Textvarianten oder alle E-Mails zu speichern. Aber was macht das mit uns? Wenn wir jede kleine E- Mail aufheben, ist unser Leben bis ins Detail rekonstruierbar. Für uns, aber eben auch für Dritte. Das ist sowohl für den privaten Bereich schwierig, erst Recht aber auch für den öffentlich-staatlichen Bereich. Zum Beispiel wenn es an die Strafverfolgung geht.  

Es ist gefährlich! Denn wenn sich irgend- wann die gesellschaftliche Erwartungshaltung dahingehend entwickelt, dass jede und jeder nachweisen können müsste, was sie oder er wem wann geschrieben hat, macht sich verdächtig, wer genau diesen Nachweis nicht erbringen will. Der Druck wird größer.  

Auf einmal sind Kontodaten für immer aufzuheben. Und in einer Ehescheidung zählen plötzlich die E-Mails während der Trennungsphase. Vielleicht müssen auch zukünftig bei Erbrechtsauseinandersetzungen Konversationen via E-Mail vorgelegt werden. Oder an einem runden Geburtstagen den PartnerInnen (oder Ex-PartnerInnen) oder Eltern ein großes Vergnügen daran, E-Mails aus längst vergangenen Tagen vorzulesen.  

Das menschliche Gehirn funktioniert aus gutem Grunde so, dass es sich nicht an alles erinnert oder eben nur an Details. Das hat auch etwas mit Schutz zu tun. Die Option, sich ständig an jede auch emotional heftig geführte Auseinandersetzung erinnern zu können und dies gegebenenfalls sogar bei rechtlichen Auseinandersetzungen belegen zu müssen, hat für mich eher etwas von einer Horrorvision. Auch der moralische Druck, in privaten Auseinandersetzungen auf private Konversation zurück- greifen zu müssen, ist für mich nicht erstrebenswert. Was nicht gebraucht wird, soll auch gelöscht werden können.  

Hardware: je mehr Daten, desto mehr Server. Die Server werden von unseren technischen Geräten gefüttert. Und diese halten meist nur bis kurz nach dem Ende der Garantiezeit. Hier zeigt sich das Problem der geplanten Obsoleszenz. Dabei handelt es sich um die von HerstellerInnen geplante absichtliche Verringerung der Lebensdauer von Produkten. Wir kennen das von Smartphones und Tablets.  

Diese gehen schneller kaputt, als es technisch notwendig wäre. Die Reparaturmöglichkeiten sind durch die Konstruktion der Geräte erschwert. Es werden also neue Smartphones oder Tablets gekauft. Ob es diese geplante Obsoleszenz tatsächlich gibt, darüber wird gestritten. Auf den ersten Blick ist es auch sinnvoll, zum Beispiel eine Mindestlebensdauer zu fordern. Auf den zweiten Blick hilft diese aber nur bedingt. Solange jede Vorstellung eines neuen Apfelgerätes zu einer wahren Messe wird und die Jünger die Verkaufsläden belagern, nur um das neueste Gerät zu bekommen, hilft auch eine Mindestlebensdauer nichts. Wir brauchen ein Umdenken: Es muss nicht immer das schönste und neuste Gerät sein.  

In all diesen Smartphones und Tablets befinden sich die sogenannten seltenen Erden und Rohstoffe. Kobalt zum Beispiel ist für die Akkus unverzichtbar. Diese Rohstoffe werden nicht selten von Kindern unter unwürdigen Bedingungen geschöpft, viele dieser Rohstoffe stammen aus Bürgerkriegsgegenden Afrikas.  

Kurz gesagt: Wer mit einem Smartphone oder Tablet der großen Hersteller arbeitet, beteiligt sich an der Ausbeutung des globalen Südens. Das ist zunächst kein Vorwurf, es ist eine Beschreibung. Vielleicht wäre diese Beschreibung aber der Ansatz darüber nachzudenken, wie zumindest dafür gesorgt werden kann, dass die Lebensdauer der Smartphones und Tablets verlängert werden kann und die Reparaturmöglichkeiten erleichtert werden können. Auch Recycling wäre eine Idee. Zumindest ein Anfang.  

Automatischer Datenverfall: Aus all diesen Gründen sollte über einen automatischen Datenverfall nachgedacht werden. So etwas ließe sich sicherlich programmieren.  

Die Idee dahinter ist, dass ich entscheide, welche Daten ich behalten will. Dafür muss ich dann proaktiv handeln. Ich könnte beispielsweise angeben, in 10 oder 15 Jahren wieder erinnert zu werden, ob ich diese Daten immer noch haben möchte. Alle nicht proaktiv markierten Daten verfallen nach einem festzulegenden Zeitraum. Kurz vor dem Verfall werde ich noch einmal erinnert, dass die Daten nunmehr verfallen. Wenn ich das nicht möchte, bleibt mir immer noch Zeit, das zu verhindern.  

Das wäre weniger aufwendig als ein Umzug, aber es trüge dazu bei, dass wir weniger Datenmüll produzieren. Und damit weniger Ressourcen benötigen.  

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