Verfassungsbeschwerde zum Wahlrecht

Als Berichterstatterin meiner Fraktion zum Thema Wahlrecht habe ich heute die Verfassungsbeschwerde zur Änderung des Wahlgesetzes bekommen. Irgendwie ist das ein komisches Gefühl, denn die Verfassungsbeschwerde habe ich ja mit eingereicht, ich zähle also zu den mehr als 3.000 Bürger/innen die vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

Die Verfassungsbeschwerde ist auch dringend notwendig.  Die angesprochenen verfassungsrechtlichen Probleme sehe ich im wesentlichen genauso, wie sie vom Verfahrensbevollmächtigten Prof. Rossi vorgetragen werden.

Problem 1: Das Auftreten sog. negativer Stimmgewichte wird nicht beseitigt. Darunter versteht man, ein dass ein Zuwachs an Zweitstimmen zu einem Verlust an Sitzen der Landeslisten oder ein Verlust an Zweitstimmen zu einem Zuwachs an Sitzen der Landeslisten führen. Wie Prof. Rossi richtig aufführt, verletzt dies den Grundsatz der Gleichheit und der Unmittelbarkeit der Wahl. Prof. Rossi nennt dann Beispiele, wie so ein negatives Stimmgewicht tatsächlich entstehen kann. Ich will hier (auch weil es meine Partei betrifft) das Beispiel auf Seite 18  erwähnen.  Wenn bei der Wahl 2009 und dem nunmehr beschlossenen Wahlgesetz in Berlin 40.000 Wähler/innen der LINKEN nicht zur Wahl gegangen wären, würde sich folgendes Szenario abspielen: 40.000 Wähler/innen weniger zur Wahl würde vermutlich ein Direktmandat weniger bedeuten. Wegen der geringeren Wahlbeteiligung hätte das Land Berlin nur noch 23 MdB statt wie bislang 24 MdB. Den fehlenden Sitz hätten die Grünen verloren, bei der Reststimmenverwertung aber wieder gewonnen. Profiteur der geringeren Wahlbeteiligung in Berlin wäre das Land NRW gewesen, die statt 129 MdB dann 130 MdB gehabt hätten. Der zusätzliche Platz wäre in NRW an DIE LINKE gegangen. Diese hätte dann 12 MdB aus NRW statt 11 MdB. Kurz und gut: Wengier LINKE Wähler/innen in Berlin würden zu mehr LINKE MdB aus NRW führen.

Problem 2: Das Wahlrecht stellt als Maßstab für die Sitzverteilung mal auf die landesweit abgegebenen Stimmen ab und mal auf die bundesweit abgegebenen Stimmen. Ein sachlicher Grund für diese Unterscheidung ist nicht erkennbar.  Dahinter steckt das Problem, dass die Landeslisten einer Partei nicht mehr als verbunden gelten, also erst die zu vergebenden Sitze für das Bundesland errechnet werden und dann auf die Landesparteien verteilt werden (Zitat aus der Verfassungsbeschwerde: Land vor Partei statt bisher Partei vor Land) , für die Sperrklauselüberwindung und die sog. Reststimmenverwertung zählen aber die bundesweit abgegebenen Stimmen.

Problem 3:  Die auf ein Bundesland entfallenden Sitze im Bundestag richtet sich nach den Wählern. Diese „Berechnungsart ist unbestimmt, unvorhersehbar und widersprüchlich und verletzt zudem die Grundsätze der Gleichheit, der Unmittelbarkeit und der Freiheit der Wahl.“ Es ergibt sich erst aus der Begründung, dass mit Wähler/innen hier nicht die Gesamtzahl der Wahlberechtigten gemeint ist, sondern die Anzahl derjenigen, die tatsächlich gewählt haben. Und hier diejenigen, die eine Stimme abgegeben haben, egal ob gültig oder ungültig. Die Unvorhersehbarkeit wird damit begründet, dass die Stimmen einer Partei welche an der Sperrklausel scheitert einer anderen Partei zugute kommen. Für die Wähler/innen wird damit auch unvorhersehbar, was mit ihrer Stimme passiert. Die Widersprüchlichkeit ergibt sich aus der Tatsache, dass die Anzahl der Sitze für ein Land sich nach der Zahl der Wähler in einem Land berechnet, die Berechnung der Sperrklausel aber nach der Zahl der abgegebenen gültigen Zweitstimmen.  (By the way: Das Problem ließe sich lösen, wenn der Gesetzentwurf der LINKEN angenommen worden wäre, mit dem die Sperrklausel abgeschafft worden wäre.) Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl wird deshalb verletzt, weil die Stimmenanzahl für einen Sitz pro Bundesland erheblich schwankt.  In Sachsen-Anhalt benötigt man knapp 63.000 Stimmen für einen Sitz, in Bayern ein wenig mehr als 78.000.  Zusätzlich erscherwerend kommt hinzu, dass die sog. Sperrklausel beispielsweise für Bremen  14% beträg.

Problem 4: Reststimmenverwertung. Die sog. Reststimmenverwertung sei nicht zielführend, weil sie gerade nicht eine proportional am  Zweitstimmenanteil orientierte Verteilung vornimmt. Es wird mit acht bis zehn neuen Sitzen im Bundestag gerechnet und welche Partei diese erhalte hängt vom Rundungsglück ab.

Problem 5: Rundungskumulation. Prof. Rossi führt aus, dass die vielen Rundungen dazu führen, dass der/die Wähler/in nicht mehr weiß, was mit seiner Stimme passiert, wie diese sich auswirkt.

Problem 6: Auch das neue Wahlrecht lässt ausgleichslose Überhangmandate zu.

Problem 7: Das neue Wahlrecht ist unverständlich, es verletzt den Grundsatz der Normenklarheit.

Wann das Bundesverfassungsgericht entscheidet ist mir noch nicht bekannt, aber es sollte wohl möglichst schnell entscheiden. Denn andernfalls droht uns, dass wir auf Grund eines Wahlrechts den neuen Bundestag wählen, das erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.

An Mehr Demokratie e.V. geht der Dank für die Organisation des gesamten Klageprozesses.

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