Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union

Ungefähr vor einem Jahr schrieb ich einen Blogbeitrag über die von Heiko Maas veröffentliche Idee „Unsere digitalen Grundrechte“. Nun gibt es einen ganz ähnlichen Vorschlag, die Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union. Diese Charta wurde dem Europäischen Parlament und der Öffentlichkeit zur weiteren Diskussion übergeben.

In welchem Verhältnis die Charta der digitalen Grundrechte zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union steht und weshalb es einer expliziten Charta der digitalen Grundrechte bedarf, bleibt leider unklar. Soweit ich das sehe, spielt sie auch bei den verschiedenen Menüpunkten auf der entsprechenden Website keine Rolle. Aus meiner Sicht ist dies aber eine zentrale Frage. Gehen die Initiatoren*innen davon aus, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union für das digitale Zeitalter unpassend ist oder die Grundrechte der Europäischen Union in diesem Zeitalter nicht gelten? Warum eine Extra Charta der digitalen Grundrechte statt einer Weiterentwicklung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, falls dies für notwendig gehalten wird?

Die Charta beginnt mit einer Präambel. Dort findet sich unter anderem die Formulierung:

„IM BEWUSSTSEIN, DASS (…) es im digitalen Zeitalter zu enormen Machtverschiebungen zwischen Einzelnen, Staat und Unternehmen kommt, (…) Grundrechte und demokratische Grundprinzipien im digitalen Zeitalter auf neue Herausforderungen und Bedrohungen treffen, (…) FEST ENTSCHLOSSEN Grundrechte und demokratische Prinzipien auch in der digitalen Welt durch die Herrschaft des Rechts zu schützen, (…) staatliche Stellen und private Akteure auf eine Geltung der Grundrechte in der digitalen Welt zu verpflichten, (…) ERKENNT DIE UNION DIE NACHSTEHEND AUFGEFÜHRTEN RECHTE, FREIHEITEN UND GRUNDSÄTZE AN.“ 

Richtig ist, dass es zu Machtverschiebungen im digitalen Zeitalter kommt. Aber das ist kein Naturgesetz sondern liegt daran, dass diese Machtverschiebung von Menschen zugelassen und von Menschen gewollt ist. Falsch ist meines Erachtens die Annahme, dass Grundrechte und demokratische Grundprinzipien auf neue Herausforderungen und Bedrohungen treffen. Auch hier wird wieder so getan, als sei es ein Naturgesetz. Ist es aber nicht. Und im Übrigen treffen nicht Grundrechte und demokratische Grundprinzipien auf Herausforderungen und Bedrohungen, sondern die Bewahrung und der Ausbau von Grundrechten ebenso wie die von demokratischen Prinzipien werden durch menschliches Handeln bedroht oder herausgefordert. Wenn schließlich in der Präambel gefordert wird, staatliche Stellen und private Akteure auf die Geltung der Grundrechte in der digitalen Welt zu verpflichten, stellt sich für mich die Frage, ob sie das nicht bereits bisher sind (zum Beispiel über die Grundrechte der Europäischen Union). Und wenn nein, warum soll die Union die nachstehenden Rechte, Freiheiten und Grundsätze anerkennen?

Artikel 1 reklamiert in Absatz 1, dass die Würde des Menschen auch im digitalen Zeitalter unantastbar ist. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, steht auch in Artikel 1 der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Allerdings ergänzt um die Auftrag sie zu achten und zu schützen. Wo insoweit der Mehrwert der Digitalen Grundrechtecharta liegt, ist mir nicht so ganz klar. Konkreter wird es in Absatz 2:

„Neue Gefährdungen der Menschenwürde ergeben sich im digitalen Zeitalter insbesondere durch Big Data, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine-Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.“ 

Aber ist das so wirklich richtig? Sind das neue Gefährdungen oder sind das nicht bereits existierende Gefährdungen in neuem Gewand, die -nicht als Naturgesetz, sondern durch menschliches Handeln hervorgerufen- schon seit Ewigkeiten bestehen? Es geht doch am Ende auch hier um Kontrolle des Staates über seine Bürger*innen und den maximalen Profit. Also die Unterordnung des Menschen unter eine Verwertungs- und Profitlogik. Sind die aufgezählten Dinge wirklich nur Gefährdungen oder könnten sie, richtig angewendet, nicht auch von erheblichem Nutzen sein? In Artikel 3 geht es um Gleichheit. In der Europäischen Grundrechtecharta gibt es dazu eine ganzes Kapitel (ab Artikel 20).  Ein wichtiges Grundrecht. In Absatz 1 wird das Recht auf gleichberechtigte Teilhabe in der digitalen Sphäre formuliert und auf das Diskriminierungs-Verbot verwiesen. Eine Präzisierung findet sich dann in Artikel 15. Dort heißt es:

„Jeder Mensch hat das Recht auf freien, gleichen und anonymen Zugang zu Kommunikationsdiensten, ohne dafür auf grundlegende Rechte verzichten zu müssen. Das Internet ist Bestandteil der Grundversorgung.“

In Artikel 5 geht es um die Meinungsfreiheit und Öffentlichkeit. Auch dazu findet sich eine Regelung in der Grundrechtecharta der Europäischen Union (Artikel 11).  In der nun vorgelegten digitalen Grundrechtecharta kommt es m.E. zu Widersprüchen. Während Absatz 1 noch eine Selbstverständlichkeit wiederholt, nämlich das jede*r das Recht hat seine Meinung frei zu äußern und eine Zensur nicht stattfindet, geht es in Absatz 2 um Dinge, die zu verhindern sind. Dabei geht es um Digitale Hetze, Mobbing sowie „Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden“. Mal abgesehen davon, dass -zumindest in einem Rechtsstaat- Hetze, Mobbing und „Aktivitäten, die geeignet sind, den Ruf oder die Unversehrtheit einer Person ernsthaft zu gefährden“ nur dann verhindert werden dürfen, wenn sie Strafgesetze verletzen, ist die eigentlich spannende Frage, wie das geschehen soll. Mittels privater Rechtsdurchsetzung über die AGB der jeweiligen Plattformen? Oder durch den Rechtsstaat nach einem rechtsstaatlichen Verfahren? Wie verhält  sich der Anspruch „zu verhindern“ mit den Justiziellen Grundrechten in Artikel 47 ff. der Europäischen Grundrechtecharta? Hier wirft insbesondere der Absatz 4 Fragen auf.  In meiner Lesart lässt er leider die Option zu, dass diese sensible Sache des „Verhinderns“ auch den Betreibern von Informations- und Kommunikationsdiensten (mit)übertragen werden soll. Aber diese entscheiden dann auch über die Auslegung „ernsthaft zu gefährden“ . Irgendwie kann ich mich damit nicht so richtig anfreunden.

In Artikel 7 geht es um Algorithmen. Mir bleibt hier die Formulierung zu sehr an der Oberfläche. Das Recht nicht Objekt von automatisierten Entscheidungen zu sein, sollte sich meines Erachtens nicht nur auf solche „von erheblicher Bedeutung für die Lebensführung“ beziehen. Wenn es dann lediglich einen Anspruch auf Offenlegung, Überprüfung und Entscheidung durch einen Menschen geht, ist mir das zu wenig. Weil es ja auch Menschen sind, die Algorithmen programmieren. Warum nicht einen ethischen Code der Programmierung oder sowas wie einen Hippokratischen Eid der Programmierung fordern? Das würde meines Erachtens mehr erreichen, als in Artikel 7 formuliert. Und um dann gleich mit Artikel 8 und der Künstlichen Intelligenz anzuschließen; auch hier würde ein ethischer Code oder eine Art Hippokratischer Eid mehr helfen, als die Forderung nach Begleitung und Regulierung durch den Gesetzgeber bei Einsatz und Entwicklung künstlicher Intelligenz lediglich „in grundrechtsrelevanten Bereichen„.  Richtig finde ich den Absatz 3, in dem es heißt:

„Für die Handlungen selbstlernender Maschinen und die daraus resultierenden Folgen muss immer eine natürliche oder juristische Person verantwortlich sein.“

Die eigentlich spannende Frage ist dann aber, wie diese Verantwortlichkeit konkret ausgestaltet werden kann. Ist hier an eine Gefährdungshaftung zu denken? Sollte das Risiko durch eine Pflichtversicherung abgedeckt werden? Wer muss die abschließen? Hersteller*innen (Programmierer*in) oder Anwender*innen?

Im Bereich des Datenschutzes und der Datensouveränität hätte ich mir gewünscht, dass vielleicht auch die Diskurse um Schutzklassen und Anti-Diskriminierungsklauseln aufgenommen werden. Gerade wenn es um IoT geht, ist doch die Frage ob es nicht unterschiedliche Schutzklassen/unterschiedliche Schutzniveaus geben sollte und Datenschutz zukünftig möglicherweise eher im Bereich der Verwertung ansetzen muss statt im Bereich der Erhebung. Darüber hinaus ist gerade die Europäische Datenschutzgrundverordnung verabschiedet worden und findet sich mit Artikel 18 auch eine Regelung zum Schutz personenbezogener Daten in der Charta der europäischen Grundrechte.

Mit Artikel 18 soll das Recht auf Vergessenwerden verankert werden. Genauer wird formuliert:  

„Jeder Mensch hat das Recht auf digitalen Neuanfang. Dieses Recht findet seine Grenzen in den berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit.“

Im vergangenen Jahr habe ich zum Recht auf Vergessenwerden geschrieben:

„Schwieriger finde ich die Forderung nach einem Recht auf Vergessenwerden. Jedenfalls in dieser Absolutheit. Zum einen wird dies derzeit durch Privatisierung von Rechtsdurchsetzung gewährleistet, die Regelungen für einen Anspruch auf Vergessenwerden sind nicht klar. Darüber hinaus würde ich aber zu bedenken geben, wie unsere Museen, Bibliotheken und unsere Kenntnisse über geschichtliche Vorgänge aussehen würde, gäbe es schon seit 2000 Jahren ein Recht auf Vergessenwerden.“

Die Neuformulierung lässt meine Zweifel nicht verstummen. Zwar ist die Formulierung: „Dieses Recht findet seine Grenzen in den berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit.“ eine notwendige Einschränkung, aber sie reicht mir nicht aus. Unter berechtigtes Informationsinteresse der heutigen Öffentlichkeit dürfte kaum das alltägliche Leben fallen. Genau dieses alltägliche Leben könnte aber für Menschen in 100, 200 oder gar 1.000 Jahren interessant sein.

Richtig schwer im Magen liegt mir der Artikel 21. Konsequent wird hier vermieden, zwischen Arbeit und Erwerbsarbeit zu unterscheiden. Es wird pauschal in Abs. 1 festgehalten, dass Arbeit „wichtige Grundlage des Lebensunterhalts und der Selbstverwirklichung“ bleibt. Das ist dann ein wenig zu einfach. Erwerbsarbeit dient dem Lebensunterhalt, Arbeit ist aber viel mehr als Erwerbsarbeit. Und nicht jede Arbeit ist Selbstverwirklichung. Was ich mir hier gewünscht hätte, wäre deutlich zu machen, dass Digitalisierung die Erwerbsarbeitswelt verändert. Auch Arbeit kann dadurch verändert werden. Wenn das Thema Arbeit richtig angegangen wird, kann Digitalisierung tatsächlich dazu beitragen, dass Arbeit und Erwerbsarbeit wichtige Grundlage zur Selbstverwirklichung wird. Aus meiner Sicht ist an dieser Stelle das Weißbuch Arbeit 4.0 deutlich weiter.

In diesem Zusammenhang fällt mir aber etwas anderes auf. In der Charta steht -abgesehen von der Formulierung zur Arbeit als wichtige Grundlage des Lebensunterhalts in Artikel 21- nichts über die Veränderungen, die die Digitalisierung auch für die Solidarsysteme mit sich bringt. Es gibt lediglich den Leersatz in Artikel 21 Absatz 3: „Der digitale Strukturwandel ist nach sozialen Grundsätzen zu gestalten.„Wie soll ein Leben in Würde und in materieller Sicherheit (das umfasst auch Renten- und Gesundheitsversicherung) abgesichert werden? Wie sollen die Solidarsysteme künftig finanziert werden? Was ist mit einer Robotersteuer? Wie sollen die großen Internetkonzerne an der Finanzierung beteiligt werden? Ich will nicht wieder das Lied des Bedingungslosen Grundeinkommens singen, aber für eine Charta der digitalen Grundrechte ist aus meiner Sicht unerlässlich, dass etwas zur materiellen Sicherheit gesagt wird. In der Charta der Europäischen Grundrechte wird in Artikel 34 Soziale Sicherheit und Unterstützung thematisiert. Gerade in einer Charta der digitalen Grundrechte darf die Frage der sozialen Sicherheit und Unterstützung nicht fehlen, zumindest aus links-libertärer Sicht.

Schließlich ist da noch Artikel 23. Dieser legt zum einen fest, dass die Auslegung der Charta in letzter Instanz dem Europäischen Gerichtshof unterliegt (Abs. 1) Und es wird festgelegt, dass die Rechte und Pflichten aus der Charta für alle Unternehmen gelten, die auf dem Gebiet der EU tätig sind. Hier ist tatsächlich mal ein Unterschied zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, dort findet sich keine vergleichbare Formulierung. Den Wunsch kann ich teilen, aber mir fehlt an der Stelle so ein wenig die praktische Vorstellung, wie dieser Wunsch umgesetzt werden kann. Welche Sanktionen stellen sich die Initiatoren*innen vor? Wie sollen diese umgesetzt werden? Ist wirklich vorstellbar, dass in einem rechtsstaatlichen Verfahren bei Nichtbeachtung der Rechte und Pflichten oder Ignoranz der Sanktionen zum Beispiel globalen Internetkonzernen die Tätigkeit in Europa untersagt werden kann?

Am Ende steht für mich, dass ich den Versuch eine solche Charta zu entwickeln durchaus nachvollziehen kann. Ich bezweifle aber, dass sie am Ende wirklich notwendig ist, zumindest so wie sie derzeit formuliert ist. Ich denke eher, statt einer Extra-Charta wäre es notwendig im digitalen Zeitalter der Charta der Europäischen Grundrechte zur Durchsetzung zu verhelfen und sie ggf. an einzelnen Stellen zu ergänzen. Und es ist notwendig in eine gesellschaftliche Debatte zum Thema materielle Absicherung im Zeitalter der Digitalisierung einzutreten. Das Fehlen dieses Punktes ist für mich die größte Enttäuschung in der Charta der digitalen Grundrechte.

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