Den Blick weiten – Die Sache mit Tod und Leben

Es gibt eine innere Sperre sich mit dem eigenen Tod oder dem Tod nahestehender Menschen auseinanderzusetzen. Und das ist verständlich. Der Tod und das Sterben begegnen uns -zum Glück- meist abstrakt. Im Fernsehen, im Buch oder in der Serie. Wir reden nicht über die Angst vor dem eigenen Sterben oder dem Sterben uns nahestehender Menschen. Da ist die Angst vor Schmerz und Trauer, die Angst damit nicht klar zukommen. Wir beschäftigen uns – auch aus Selbtschutz- kaum mit der eigenen Endlichkeit. Sterben tuen immer nur die Anderen. Mein Eindruck ist, diese fehlende Auseinandersetzung prägt die Gesellschaft, in der der Wunsch nach Unsterblichkeit allgegenwärtig ist.

Ich persönlich finde es nötig sich mit der eigenen Endlichkeit und einem Verlust nahestehender Menschen auseinanderzusetzen. Denn es ist klar: Sterben werden wir alle. Heute oder Morgen oder in ein paar Monaten, ein paar Jahren oder Jahrzehnten. Vielleicht gibt es die Chance des Abschiednehmens, vielleicht nicht. Vielleicht ist das Sterben mit Schmerzen und Qual verbunden, vielleicht geht es schnell und schmerzlos. Sich mit der eignen Endlichkeit auseinanderzusetzen ist anstrengend, denn es zwingt zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst – im hier und jetzt. Über Fehler und Erfolge, über die eigene Rolle, das eigene Wollen und eigene Grenzen. In einer solchen Auseinandersetzung stellen sich einem Fragen: Wen habe ich verletzt und sollte mich deshalb entschuldigen? Wer hat es verdient verletzt zu werden, weshalb sich eine Entschuldigung erübrigt? Wer hat mich verletzt und wem will und kann ich das verzeihen? Wem kann und will ich nicht verzeihen? Welche Entscheidung hätte ich anders treffen können oder müssen und welche war goldrichtig? Was will ich umbedingt noch machen im Leben? Und es wird noch konkreter: Will ich lebensverlängernde Maßnahmen oder nicht (Patientenverfügung)? Möchte ich meine Organe spenden (Organspendeausweis)? Wie will ich beerdigt werden ? Und was muss ich alles vorher noch regeln (Testament)?

Ich habe das für mich alles geklärt und dabei gelernt, diese Auseinandersetzung hilft mir, nicht in Angst vor dem Tod zu erstarren.

Der Tod von Menschen nach einem erfüllten und glücklichen Leben wird häufig weniger dramatisch oder schlimm wahrgenommen als der Tod von Menschen, die ihr ganzes Leben noch vor sich haben. Und dennocht tut es unglaublich weh, wenn Menschen sterben, die einem nahestehen. Die Angst vor dem Verlust wird real. Ein Tunnel ohne Licht. Nicht beschreibbare Schmerzen. Das ist das Leben der Überlebenden.

Was soll das alles? In Corona-Zeiten ist all das -in allen Ausprägungen- viel präsenter. Die Angst vor der potentiell tödlichen Krankheit wird zu einer Angst vor einer als zwingend tödlich wahrgenommenen Krankheit. Diese Wahrnehmung als eine zwingend tödliche Krankheit bestimmt vielfach die Diskussionen und das Handeln. Es beginnt die Schere im Kopf. Aus der Wahrnehmung als zwingend tödlich verlaufende Krankheit geraten die einen in den Blick und die anderen aus dem Blick. Aus dem Blick geraten die Kranken, die aus Angst nicht mehr ins Krankenhaus fahren/gefahren werden und zu Hause sterben. Aus dem Blick geraten diejenigen, die Operationen oder Chemotherapien nicht erhalten oder nicht rechtzeitig in eine Krankenhaus überwiesen werden. Aus dem Blick geraten die hochbetagten Senioren*innen, die keinen Besuch empfangen (dürfen) und denen die dringend notwendige Bewegung fehlt, möglicherweise sterben sie ohne ihre Liebsten noch einmal gesehen zu haben. Und aus dem Blick geraten diejenigen, die auf Grund der Situation oder in Folge der Situation suizidal werden (könnten).  Vollkommen aus dem Blick gerät, wie mit anderen potentiellen Todessituationen umgegangen wird – dort wo es nicht um Infektionsrisiken geht. Potentielle Todessituationen, auf die reagiert werden könnte: Menschen, die sterben, weil ja eine Widerspruchslösung bei der Organspende nicht mehrheitsfähig war. Menschen, die sterben, weil es immer noch nicht verpflichtende Abbiegeassistenten für LKW gibt (für Neuzulassungen ab Juli, für schon zugelassene LKW erst ab 2022). Menschen, die sterben, weil sich Menschen mit Alkohol ans Steuer setzen, denn 0,0 Promille ist auch nicht durchsetzbar. Der Tod kommt nicht allein mit Corona.

Es ist richtig vulnerable Gruppen zu schützen. Es ist richtig Hygienmaßgaben und Abstandsregeln zu setzen. Es ist richtig sich um Schutzausrüstungen zu kümmern. Für einen vollständigen Blick darf aber aus meiner Sicht nicht nur auf die (potentiellen) Corona-Toten geschaut werden, sondern müssen auch die anderen potentiellen Toten im Blick behalten werden. Damit am Ende -vielleicht sogar unbeabsichtigt- nicht Menschenleben gegen Menschenleben ausgespielt wird.

 

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