Den Markenkern Soziales vernachlässigt?

Die Sahra sagt es. Und der Hans. Auch die Christa. Die Sabine und der Oskar. Die LINKE habe angeblich den Markenkern Soziales vernachlässigt. Das sei Schuld an allem.

Wenn das alle sagen, wird es wohl stimmen. Oder?

Der Faktencheck:

Der Bundestag hat eine schöne Übersicht über die Parlamentarischen Initiativen des Bundestages in der Zeit von 2017-2021 (19. Wahlperiode) erstellt. Danach hat die LINKE im Bundestag 30 eigene Gesetzentwürfe eingebracht, 6 Große Anfragen, 2803 kleine Anfragen, 569 Anträge und 124 Entschließungsanträge.

Okay, danach wird die Recherche etwas schwierig, weil es zum Beispiel bei der Linksfraktion im Bundestag nicht einfach möglich ist, sich die parlamentarischen Initiativen der 19. Wahlperiode anzeigen zu lassen. Hilfe schafft auch hier glücklicherweise die Dokumentensuche auf der Bundestagsseite und dann händisch zählen. Hierbei kommt aber als Problem hinzu, dass die einzelnen Anträge partiell doppelt erscheinen. Insofern ist die nachfolgenden Auszählung vor allem als Tendenz zu sehen und beinhaltet eine Fehlertoleranz.

Bei den 569 Anträgen betreffen mehr als 150 Anträge, gezählt nach den Überschriften, soziale Themen und Themen die die Arbeitswelt betreffen. Und dabei habe ich hier nur die Anträge berücksichtigt, die offenkundig das Thema Soziales und/oder Arbeit betrafen und die einen engen Begriff von sozialer Frage beinhalten (Einordnung dann später). Kein anderes Thema weist einen ähnlichen Umfang auf. Dies wird auch beim Unterpunkt „Sachgebiet“ im Dokumentationssystem des Bundestages deutlich. Dort werden für Arbeit und Beschäftigung 103 Anträge gezählt, Gesundheit 105 Anträge und Soziale Sicherung 85 Anträge.

Ich würde ja gern mal den Spieß umdrehen und fragen, welches Thema konkret in den Anträgen zu wenig oder gar nicht behandelt wurde.

Soweit ich mich an Kampagnen der Partei erinnern kann, ging es bei diesen um Gesundheit und Arbeit und Pflege. Die Parteitagsbeschlüssse sprechen eine ähnliche Sprache. Wer mag kann ja mal hier und hier und hier die Leitanträge nachlesen (für die ist der Parteivorstand zuständig) und die sonstigen Parteitagsbeschlüsse.

Zur Einordnung:

Das Gequatsche von der Vernachlässigung der sozialen Frage verfängt offensichtlich und wird immer wieder vorgebracht. Es findet sich aber gar kein Beweis für dieses Gerede.

Offensichtlich wird hier von einer gefühlten Wahrheit ausgegangen und damit genau das gemacht, was den Anderen vorgeworfen wird: Über alle möglichen anderen Themen reden, nur nicht über Soziale Themen.

Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Der Begriff des Sozialen wird erheblich vereengt. Auf den Nationalstaat und offenkundig Soziales. Was meine ich damit? Aus meiner Sicht ist Sozial denken (und handeln) damit verbunden, dass über den Tellerrand des Nationalstaates geschaut wird. Die wirklich sozial ausgegrenzten und marginalisierten Menschen leben im globalen Süden. Der globale Norden lebt auf ihre Kosten und trägt zu ihrer Armut bei. Mithin fällt zumindest für mich auch unter das Thema Soziales, wenn es in Anträgen oder öffentlichen Erklärungen um Verbesserungen der Lebensbedingungen im globalen Süden geht. Darüberhinaus wird aber bei dem verengten Begriff des Sozialen übersehen, dass von Schwangerschaftsabbruch bis Ersatzfreiheitsstrafe. Beförderungserschleichung oder Entkriminalisierung des Containerns es immer um soziale Themen geht. Weil nämlich diejenigen mit ausreichend Einkommen von diesen Regelungen nicht so hart betroffen sind, wie Menschen mit geringem oder keinem Einkommen oder Transferleistungsempfangende. Gleiches trifft auf den Zugang zum Gesundheitswesen zu, der auch ein soziales Thema ist und der für Geflüchtete und Obdachlose ebenso gegeben sein muss. In diesem Sinne ist dann eben auch ein solcher Antrag (Trans-Gesundheitsversorgung in die Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen aufnehmen) einer aus dem Bereich Soziales.

Schließlich will ich aber auch noch auf etwas anderes hinweisen: Wer meint, Soziales First und Klima Second übersieht, dass wenn wir so weiterleben wie wir leben, in einigen Jahrzehnten überhaupt nichts mehr haben, wo für soziale Gerechtigkeit eingetreten werden kann. Insofern muss es eben heißen Soziales und Klima zusammenzudenken. Ja, das stand vor mehr als 100 Jahren nicht bei den Klassikern (Marx und Engels), aber deswegen ist es noch lange nicht falsch.

 

 

One Reply to “Den Markenkern Soziales vernachlässigt?”

  1. Ein PS., liebe Halina!
    Nach meiner Beobachtung verfängt die Aussage von der „Vernachlässigung der sozialen Frage“, weil die Linke als konkrete wahrnehmbare Kraft nicht „ankommt“, weil sie sich zerfleischt, beschimpft und intern auch eben unsozial verhält. Weil die Linke sich als Partei des Alltages sich zurückgezogen hat (vielleicht auch nur eine falsche Wahrnehmung?). Weil sie sich medial vorführen lässt … Und weil sie in einigen Fragen ach so normal geworden ist … man kämpft intern um die Töpfe der Macht und das merkt man ausserhalb.

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