Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West

Mal wieder ein 3. Oktober. An diesem Tag überschlagen sich dann (fast) alle, um auf die Ungleichheit zwischen Ost und West hinzuweisen. Es wird dann auf die Unterschiede bei den Gehältern hingewiesen und beim Erben. Auch die fehlende Besetzung von Führungspositionen wird erwähnt.

Nach dem Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2023 gibt es strukturelle Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland. Im Bericht wird darauf verwiesen (S. 23), dass fast 82% der Führungskräfte in Westdeutschland ohne Berlin geboren sind. Das ist viel. Aber was sagt das aus? Ohne eine Altersangabe meines Erachtens nichts. Weil, wer wie ich beispielsweise im Jahr 1973 geboren wurde, der war 17 Jahre alt im Jahr 1990. Ist es für das Ost-West-Thema wirklich relevant, ob eine Führungskraft im Jahr 1975 oder später in Ost oder in West geboren ist? Meine These ist, es geht gar nicht um den Geburtsort. Es geht um Menschen und deren Bereitschaft zuzuhören, aufzunehmen und sich einzulassen. Interessiert und nicht von oben herab. Bodo Ramelow zum Beispiel ist aus meiner Sicht ein sehr guter Ministerpräsident des Ostbundeslandes Thüringen – und im Westen geboren. Er hat sich aber auf die Mentalität der Ostdeutschen eingelassen, ohne das System DDR zu verteidigen. Ich verstehe auch ehrlich gesagt nicht, wieso der Geburtsort entscheidend ist. Wenn ich sagen wir mal 1983 in Thüringen geboren wurde, seit 1991 aber in Karlsruhe lebe, wieso bin ich dann Ossi? Und warum wird eine 1981 in Heidelberg geborene Person, die seit 1992 in Stendal lebt, den Wessis zugeordnet?

Die Arbeitslosenquote (S. 164) beträgt nach dem Bericht er Bundesregierung in Westdeutschland 5% und in Ostdeutschland 6,7%. Bis 2013 war der Osten immer zweistellig, der Westen nicht. Das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte (S. 168) belief sich 2021 auf 24.639 EUR im Westen und 22.253 EUR im Osten. Die Durchschnittsrente in Deutschland beträgt 1543 EUR, im Osten sind es 1403 EUR und im Westen 1605 EUR. Im Jahr 2022 lag die durchschnittliche Regelaltersrente von Frauen im Osten um rund 86 % höher, als die entsprechende Rente im Westen. Das WSI macht auf den Zusammenhang zwischen Tarifbindung und Entlohnung aufmerksam und in diesem Zusammenhang auch auf die unterschiedliche Tarifbindung in Ost und West.

Der Bericht zum Stand der Deutschen Einheit 2023 weist aber auch darauf hin (S. 15), dass der „aktuelle Rentenwert (Ost) zum 1. Juli 2023 auf 37,60 Euro (gestiegen ist) und (…) damit 100 Prozent des Westwerts“ beträgt. Der Bestandteil an Langzeitarbeitslosen (S. 16) ist prozentual zwischen Ost und West defacto gleich.

Natürlich gibt es strukturelle Differenzen zwischen Ost und West. Aber strukturelle Differenzen sind kein Alleinstellungsmerkmal. Zumindest für das Jahr 2019 wird festgehalten, dass den alten Ländern ein Süd-Nord-Gefälle beim Pro-Kopf-Einkommen besteht. Im Bericht zur Deutschen Einheit ist auf den Seiten 59 und 60 nachlesbar, dass es strukturelle Differenzen zwischen Stad und Land gibt, auch in Bezug auf die Versorgung mit Ärzten*innen und ÖPNV (S. 79 und 80). Die strukturellen Differenzen beispielsweise im Hinblick auf Führungspositionen zwischen Frauen und Männern wird im Bericht zur Deutschen Einheit auf den Seiten 84 und 85 erläutert. Die Durchschnittsrente für Frauen beträgt 1323 EUR und für Männer 1637 EUR. Damit ist die Differenz zwischen Männern und Frauen im Übrigen größer als die Differenz zwischen Ost und West. Und dass es eine nicht hinnehmbare Differenz in Bezug auf Einkommen und Vermögen gibt, dürfte allseits bekannt sein.

Wer sich gern gegen sog. Identitätspolitik ausspricht, kann keine Ost-West-Debatte führen. Also können geht schon, aber es wird dann unglaubwürdig und ist ein Doppelstandard. Stattdessen wäre aus meiner Sicht eher eine Debatte zu Umverteilung von Einkommen und Vermögen angebracht. Am besten verbunden mit einer Debatte um gerechte Verteilung der Lasten infolge des Klimawandels und für klimaresiliente Maßnahmen.

Was denn um Ost und West gehen soll, dann fallen mir ganz andere Dinge ein, die debattiert werden könnten.

Woher kommt die -in meiner Wahrnehmung- Geringschätzung weiter Teile der ostdeutschen Wählenden für die Demokratie? Wie kann es passieren, dass die DDR alle Naselang relativiert wird? Wer von Stasi 2.0 redet oder in einer angeblichen Übergriffigkeit der Grünen eine Erinnerung an die DDR erblickt, hat offensichtlich nicht verstanden, wie jenseits von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung die DDR funktioniert hat.

Wenn es um Ost und West geht, dann kann darüber debattiert werden, dass Menschen durchaus glücklich gelebt oder wie ich eine glückliche Kindheit hatten, das System DDR aber zum Beispiel mit der Missachtung der Grund- und Freiheitsrechte, mit der Selektion in der Bildung und dem sog. Assozialen-Paragrafen im StGB gerade kein Vorbild für die Zukunft sein kann. Wenn die DDR als Diktatur bezeichnet wird, dann ist das eben keine Abwertung des individuellen Lebens, sondern eine Bewertung des Systems.

Und ja, da wirkt vielen nach. Ich konnte beispielsweise bei Parteitagen der PDS/DIE LINKE. am Ende die Internationale nicht mitsingen. weil sich alles in mir dagegen sperrte. Gemeinsames Absingen von Liedern ist bei mir mit Indoktrination verbunden, ich bekomme das nicht mehr raus.

Vielleicht ist ja der 3. Oktober ein Tag, wo es nicht mehr um Ost-West gehen sollte, sondern um die Frage wie die demokratische Gestaltung der Folgen des Klimawandels, die Verteidigung der Demokratie und eine Umverteilung von Einkommen und Vermögen gelingen kann.

One Reply to “Die Grenze verläuft nicht zwischen Ost und West”

  1. Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Beitrag, Halina! Du hast einen wichtigen Punkt zur Ost-West-Teilung gemacht, und deine Perspektive auf die Bedeutung des Engagements der Menschen anstelle ihres Geburtsortes ist absolut richtig. Es ist offensichtlich, dass strukturelle Unterschiede bestehen, aber diese sind nicht auf eine Region beschränkt. Die Themen Einkommens- und Vermögensumverteilung, Anpassung an den Klimawandel und die Verteidigung der Demokratie sind in der Tat entscheidend und sollten an einem Tag wie dem 3. Oktober im Vordergrund stehen. Lassen Sie uns über die Ost-West-Debatte hinausgehen und gemeinsam für eine gerechtere und widerstandsfähigere Zukunft arbeiten. Avukat Denizli; Avukat; Denizli En iyi Avukat;

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