Wenn wir irgendwann auf 2023 zurückblicken – Teil II

An dieser Stelle habe ich geschrieben, dass wenn wir irgendwann auf 2023 zurückblicken (können), wir 2023 als das Jahr ansehen werden, indem die Gesellschaft gekippt ist.

Damals bezog ich das vor allem auf die Frage des Kampfes gegen den Klimawandel. Das ist und bleibt aktuell. Auch deshalb, weil sich viele über Protestformen aufregen, nicht aber über die Missachtung von Klimazielen oder die fehlende Regulierung zu Erreichung von Klimazielen. Wer die Krise nicht spürt, der glaubt auch nicht das sie kommen könnte. Da lässt sich dann leicht davon träumen, Wohlstand und Lebensweise einfach so fortführen zu können. Nach uns die Sintflut.

Im Frühherbst 2023 kommt zur Klimaignoranz die Demokratieignoranz dazu. Die AfD erreicht Höchststände in Umfragen und es scheint kein Rezept zu geben, wie diesen Demokratieverächter*innen begegnet werden kann. Die demokratischen Parteien zeigen mit dem Finger aufeinander, einige von diesen halten es sogar für sinnvoll der AfD Gestaltungsmacht zu überlassen. In Politik und Gesellschaft, werden die Töne rauer, die Zuspitzungen auch. Populismus und Vereinfachung ist das Geschäft der Stunde. Nur keine Aufklärung, nur keine Hintergründe und nur keine Räume wo in zivilisierter Art unterschiedliche Positionen aufeinandertreffen und debattiert werden können. Wer sich einmal Talkshows ansieht wird feststellen, dass die Frage nach Personen (Stimmt der Kanzler dem auch zu?) wichtiger ist als die Erläuterung von Zusammenhängen oder Hintergründen. Verrohung und Entsolidarisierung kennzeichnen das Zusammenleben und den politischen Diskurs. Wenn ein Steinwurf auf Spitzenkandidierende einer Partei (hier der Grünen) kaum eine Schlagzeile wert ist, dann sagt das viel über eine Gesellschaft aus. Ich will gar nicht wissen wo das alles endet oder enden kann.

In solchen Zeiten der bedrohten Demokratie kommt es mE ganz besonders auf Gestus und Wortwahl an, auf eine genaue Unterscheidung zwischen Demokraten*innen und Demokratieverächtenden. In solchen Zeiten braucht es Erklärung über Zusammenhänge, Hintergründe, aber auch (geschützte) Räume zur Debatte. Was es nicht braucht sind einfache Antworten. Die gibt es bei komplexen Problemlagen nicht. Es bedarf eines Umgangs mit Zielkonflikten, der zunächst einmal anerkennt, dass es diese gibt. Dafür braucht es  -solange es um Debatten unter Demokraten*innen geht- den Versuch, sich in die Rolle des Gegenübers hineinzuversetzen.

Die größte Bedrohung der Demokratie ist derzeit die AfD. Eine der Thesen ist, sie werde gewählt, weil die anderen Parteien so schlecht in der Sozialpolitik sind. Die Wählenden der AfD, wobei selbstverständlich nur diejenigen gemeint sind die nicht überzeugte Rechtsextreme sind (wieviel auch immer das sein sollen), müssen zurückgewonnen werden. Das ginge nur, indem „das Soziale“ wieder verstärkt in den Mittelpunkt gestellt wird. Es ist natürlich nie falsch, „das Soziale“ in den Mittelpunkt zu stellen. Ich bin aber nicht davon überzeugt, dass dies (allein) ausreicht, um die Wählenden der AfD zurückzugewinnen, was allerdings kein Plädoyer dafür ist, „das Soziale“ nicht in den Mittelpunkt zu stellen. Wobei sich dann -aber das wäre eine andere Debatte- darauf verständigt werden müsste, was eigentlich alles unter „das Soziale“ zu verstehen ist.

Die AfD beispielsweise will sich auf die Umsatz- und Einkommenssteuer konzentrieren und dafür die Grundsteuer und die Gewerbesteuer ersatzlos streichen (kann in deren Bundestagswahlprogramm nachgelesen werden, ich verlinke das aber nicht). Mal abgesehen davon, dass bei ersatzlosem Wegfall dieser Steuern dem Haushalt Mittel fehlen um Schulen, Kitas, Krankenhäuser, den ÖPNV und andere Dinge der Daseinsvorsorge zu finanzieren, die Umsatz- und Einkommenssteuer zahlen die Bürger*innen. Entlastet werden Gewerbe und Grundbesitz. Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuer sollen ebenfalls entfallen. Auch hier findet eine Entlastung derjenigen statt, die nicht zu den Ärmsten gehören und die wenig auf staatliche Daseinsvorsorge angewiesen sind. Bei der Einkommenssteuer findet die AfD, dass der Spitzensteuersatz viel zu früh greift und eine Erhöhung ist von ihr nicht vorgesehen, eher das Gegenteil. Eine Erhöhung des Regelsatzes für das Bürger*innengeld oder eine Kindergrundsicherung findet sich ebenfalls nicht. Kurz und gut, diese Forderungen sind ersichtlich nicht die Forderungen, die Menschen mit geringem oder keinem Einkommen, Transferleistungsempfangende, Rentner*innen in ihren Situationen helfen. Dennoch wählten 21% der wählenden Arbeiter*innen bei der Bundestagswahl 2021 die AfD und 17% der wählenden Erwerbslosen. Bei den Angestellten sind es 11%.

Das ist natürlich Paradox, dass Menschen Parteien wählen, die ihnen gar keinen Vorteil bringen. Auch deshalb muss kurz und knackig immer wieder thematisiert werden, wofür inhaltlich die AfD steht. Aber meine Überzeugung ist, das reicht nicht aus.

Von den im Bundestag vertretenden Parteien, belegt die AfD den vorletzten Platz (17%), wenn die Wählenden nach der Wichtigkeit der sozialen Sicherheit für die Wahlentscheidung gefragt werden. Sie liegt jedoch an der Spitze bei den Wählenden, die sich große Sorgen machen, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können (74%). Unter den AfD-Wählenden machen sich 82% Sorgen, dass sich das Leben in Deutschland zu stark ändern könnte. Möglicherweise ist es eine latente oder verfestige Angst des Mittelstandes vor dem sozialen Abstieg, der zur Wahl der AfD führt. Deshalb ist auch ein Blick auf die Mitte-Studie für das Jahr 2022/2023  interessant. Danach lehnen nur noch 70% eine Diktatur ab. Die Ablehnung von Fremdenfeindlichkeit (53,5%) und Antisemitismus (79%) ist auf einem Tiefpunkt. Sozialdarwinismus findet die Zustimmung von fast 6% und hat einen Graubereich von 16,3%. Ein manifestes rechtsextremes Weltbild liegt bei 8,3% vor und umfasst einen Graubereich von 20%. Das Vertrauen in Medien und staatliche Institutionen ist erheblich gesunken, das Gefühl politischer Machtlosigkeit gestiegen. Die AfD sei eine Partei wie jede andere, finden 23%.

Es muss deshalb aus meiner Sicht darum gehen, Formate und Ideen zu entwickeln, wie in der sogenannten Mittelschicht, die sich von Abstiegsängsten bedroht fühlt, wieder ein Gefühl für Solidarität entwickelt werden kann. Das wird nicht gelingen, wenn erklärt wird, dass sich nichts ändern muss und alles so weitergehen kann wie bisher. Ein solches Versprechen wird nicht einzuhalten sein, es abzugeben weckt falsche Hoffnungen, die irgendwann in Enttäuschung und Wut (vielleicht auch Gewalt) umschlagen. Dazu ist zuhören und debattieren wichtig. Was sind die Sorgen, was sind die Nöte, was wird sich als Lösung vorgestellt? Wenn von „Herausforderungen“ statt „Problemen“ gesprochen wird, weil eben nichts bleiben kann wie es ist, dann ist es einladender gemeinsam über Lösungsoptionen nachzudenken. Dann können Zusammenhänge und Hintergründe beleuchtet werden und für Umverteillung kann geworben werden. Um mal eine Phrase zu bemühen – strake Schultern müssen dann mehr tragen als schmale Schultern. Solange der Wohlstandsverlust als die größte Bedrohung angesehen wird, wird kaum Gemeinsamkeit wachsen.

In diesem Zusammenhang wird es dann auch möglich sein sich widersprechende legitime Interessen, auch Zielkonflikte genannt, zu beleuchten. Das macht nämlich klar, dass es keine einfachen Lösungen gibt, sondern einer Prioritätensetzung und Abwägung von Interessen bedarf. Ein sehr schönes Beispiel dafür ist die Wohnungspolitik in größeren Städten. Eigentlich alle versprechen jeweils ihre einfache Lösung. Die einen meinen Bauen, Bauen, Bauen hilft. Die anderen glauben mit einer dringend nötigen Mietendeckelung sei ausreichen Wohnraum vorhanden oder auch, wenn nur die landeseigenen/kommunalen oder genossenschaftlichen Unternehmen bauen. Wieder andere weisen völlig zu Recht darauf hin, dass weitere Flächenversiegelungen nicht zumutbar sind. Als nächstes Argument wird auf Baukostensteigerungen hingewiesen, die zu weniger Neubau führen und die Tatsache, dass außerhalb der (Groß)Städte ausreichend Wohnraum vorhanden ist. Menschen, die aktuell eine Wohnung suchen und keine finden ist das -aus verständlichen Gründen völlig egal. Und dennoch muss das Gespräch gesucht werden, weil die Herausforderung fehlenen Wohnraums eines Gesamtkonzeptes bedarf: Dazu zählt neben der Umwidmung von Büroräumen, der Sichtung von Wohnraumpotential auf versiegelten Flächen, einer Prioritätensetzung auf Bau von leistbarem Wohnraum auch ein Verkehrskonzept, welches auf den ÖPNV setzt und diesen so komfortabel macht, dass nicht jede*r in der Stadt wohnen muss, um in der Stadt seiner Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das wiederum muss einhergehen mit der Sicherstellung von Infrastruktur (medizinischer Versorgung, Einkaufsmöglichkeiten, Räume für Zusammensein).

Wenn es um Veränderungen und damit verbundene Herausforderungen geht, dann fällt mir natürlich auch gleich das Thema Migration ein. Es ist schon interessant, dass Migration, bis weit in das demokratische Spektrum hinein die Migration als „Problem“ oder „Bedrohung“ dargestellt wird, nicht aber als „Herausforderung“ oder „Bereicherung“. Wie alle Veränderungen bringt auch Migration Probleme mit sich, aber Migration ist nicht das Problem. Migration findet ja aus Gründen statt (und hat schon immer stattgefunden). Wenn der Klimawandel den eigenen Lebensort zerstört, wenn die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen Lebensgrundlagen vernichtet, wenn die Entlohnung nicht zum Überleben reicht, wenn die sexuelle Orientierung zu Verfolgung führt – dann sind das alles sehr berechtigte Gründe zu fliehen. Die Verantwortung des globalen Nordens für Ausbeutung, Vernichtung von Lebensgrundlagen und Lebensort-Verlust durch Klimawandel ist hier noch nicht einmal erwähnt. Es ist an der Zeit, zu akzeptieren: Egal, was Menschen sich ausdenken, um ihr eigenes Land vor Migration zu „schützen“, es wird nicht gelingen. Migration und Flucht findet statt, sie ist nicht aufzuhalten. Selbst dann nicht, wenn unmenschlich und barbarisch gehandelt wird (neben der Tatsache, dass die Tatsache der Ertrinkenden im Mittelmeer schon barbarisch genug ist), Mauern gebaut oder auf Menschen geschossen wird. Wenn dieser Fakt akzeptiert wird, dann kann die Herausforderung angenommen werden. Das Argument, dass schon jetzt nicht ausreichend Wohnraum, nicht ausreichend Schulen und was weiß ich noch vorhanden ist, ist keine Frage der Migration/Flucht. Es ist eine Frage falscher Prioritätensetzung bei der Ausgabe finanzieller Mittel und falscher Investitionen. Es ist Folge einer Politik, die die Daseinsvorsorge nicht in den Mittelpunkt gestellt hat. Das kann zum Ausgangspunkt genommen werden um jetzt umzusteuern und genau dort Prioritäten zu setzen. Dann ist Morgen nicht ausreichend Daseinsvorsorge da, aber vielleicht Übermorgen. Am Ende ist es wie mit dem Klimawandel: Wenn nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen wird, wird es am Ende zu Verteilungskämpfen kommen, bei denen diejenigen zu erst verlieren, die am wenigsten haben.

Statt aber an die Zukunft zu denken, macht sich ein Bedürfnis des Bewahrens breit. Dringende Veränderungsnotwendigkeit trifft auf unbändiges Beharrungsvermögen. Das ist der die Demokratie gefährdende Zustand. Wenn nicht mehr gemeinsam nach Lösungen gesucht wird, wenn es nur noch um Verharren gegen Verändern geht, dann verliert am Ende die Demokratie.

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