Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 6. Februar 2024 die Sperrklausel bei der Europawahl gebilligt. Im Hinblick auf die von Mehr Demokratie e.V. eingereichte Verfassungsbeschwerde gegen die 5%-Sperrklausel im Bundeswahlgesetz ist interessant, ob sich der Beschluss des BVerfG auf diese auswirken könnte.
Die auf Grund einer nationalen Regelung existierende 5%-Sperrklausel bei der Europawahl wurde vom BVerfG im November 2011 (BVerfGE 129,300) gekippt, die daraufhin geschaffene 3%-Sperrklausel ebenfalls (BVerfGE 135, 259). In der Entscheidung des BVerfG ging es nunmehr um eine europäische Regelung. Das Europäische Parlament unterbreitete im Jahr 2015 dem Rat der Europäischen Union einen Vorschlag zur Änderung des Direktwahlaktes, also der Regelung zur Wahl des Europäischen Parlaments. Für Wahlkreis und Mitgliedsstaaten mit nur einem Wahlkreis und Listenwahl, so die Bundesrepublik, war darin eine Sperrklausel von mindestens drei und höchstens fünf Prozent vorgesehen, soweit mehr als 26 Sitze zu vergeben sind. Diese Entschließung argumentierte -Überraschung. Nicht- mit der Zersplitterung des Parlaments und der Sicherung der Arbeitsfähigkeit. 2018 beschloss der Rat der Europäischen Union einen veränderten Vorschlag: Danach ist eine obligatorische Sperrklausel von nicht weniger als zwei Prozent und nicht mehr als fünf Prozent vorgesehen, soweit 35 Sitze zu vergeben sind. Die Sperrklausel bezieht sich auf die abgegebenen gültigen Stimmen. Das entsprechende Zustimmungsgesetz wurde 2023 angenommen. Die Sperrklausel kann frühestens bei der Europawahl 2029 gelten.
Gegen die Sperrklausel, konkreter das Zustimmungsgesetz hat die Partei DIE Partei geklagt. Das BVerfG entschied (Rz. 75), dass die Verfassungsbeschwerde erfolglos bleibt, da „da die Antragstellerin und der Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung der jeweils geltend gemachten verfassungsmäßigen Rechte nicht hinreichend substantiiert dargelegt haben“.
Der Kern der Argumentation des BVerfG in dem Beschluss bezieht sich auf eine Auseinandersetzung mit Art. 23 Abs. 1 GG, konkret der Frage, inwieweit (Rz. 82) „der angegriffene Rechtsakt das Integrationsprogramm des Art. 23 Abs. 1 GG durch Überschreitung der Kompetenzen der Union oder durch Preisgabe der integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes verletzt“. Deutlich wird dies in Rz. 90, wo die jahrelange Rechtsprechung wiederholt wird: „Im Rahmen der Identitätskontrolle wacht das Bundesverfassungsgericht über die Wahrung der nach Art. 1, 20 und Art. 79 Abs. 3 GG geschützten und integrationsfesten Verfassungsidentität des Grundgesetzes. Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen zeitigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren, gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität einherginge.“
Aber zurück zur Frage, inwiefern aus dem Beschluss irgendwas für die Sperrklausel im Bundeswahlgesetz herleitbar ist. Hier wiederholt das BVerfG in Rz. 9, dass „gesetzliche Regelungen, die Sperrklauseln für Wahlen zum Europäischen Parlament vorsehen, die Grundsätze der Chancengleichheit der politischen Parteien und der Wahlrechtsgleichheit beschränken und einer Rechtfertigung etwa im Hinblick auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments bedürfen.“ Über die These von der „Funktionsfähigkeit des Parlaments“ als Standbegründung habe ich bereits hier und hier geschrieben. Es ist faszinierend zu sehen, wie die Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments ständig hochgehalten wird, wenn es um die Sperrklausel geht aber die Handlungsfähigkeit des Parlaments immer nur über das Wahlrecht herstellbar scheint.
Für die oben angesprochene Verfassungsbeschwerde zur 5%-Sperrklausel im Bundeswahlgesetz (also für die Bundestagswahl) dürfte der Beschluss des BVerfG auf den ersten Blick irrelevant sein. Denn sie enthält keine neuen Aspekte und verweist (Rz. 120) darauf, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch keine Entscheidung zur Vereinbarkeit von nationalen Sperrklauseln bei Wahlen zum Europäischen Parlament mit der Europäischen Menschrechtskonvention getroffen hat. Hinsichtlich der Zulässigkeit von Sperrklauseln bei nationalen Wahlen hat er diese als „nicht grundsätzlich unvereinbar mit den konventionsrechtlichen Garantien“ bewertet.
Auf den zweiten Blick lassen sich aus den Verweisen im Beschluss aber Argumente gegen eine Sperrklausel im nationalen Recht ziehen. Der Beschluss (Rz. 123) verweist auf die Kreationsfunktion des Europäischen Parlaments im Hinblick auf die Zusammensetzung der Kommission und auf seine Funktion als „gleichberechtigter Mitgesetzgeber“ an der Rechtsetzung der Europäischen Union sowie die Haushaltsbefugnisse. „Die effektive Wahrnehmung dieser Aufgaben setzt die Bildung handlungsfähiger Mehrheiten voraus. Deren Zustandekommen wird mit einer wachsenden Zersplitterung des Parlaments, insbesondere durch den Einzug von Kleinstparteien mit nur ein oder zwei Abgeordneten, erschwert.“ Es wird dann darauf verwiesen, dass seit der Wahl 2019 zwei Fraktionen allein nicht mehr über eine absolute Mehrheit verfügen und dies die Zusammenarbeit von drei Fraktionen erforderlich mache. So weit so gut, eine reine Sachstandsbeschreibung. Argumentativ kann hier gesagt werden, dass eine absolute Mehrheit von zwei Fraktionen keine rechtliche Kategorie ist. Hier kann allein gefragt werden, ob das Parlament noch funktioniert oder nicht und ob Mehrheitsentscheidungen zustande kommen. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass das Europäische Parlament handlungsunfähig ist. Wenn dem aber so ist, dann wäre dies ein Argument gegen eine Sperrklausel. Um so mehr als (Rz. 124) erwähnt wird, dass das Europäische Parlament und seine Fraktionen „durch ein erhebliches Maß an innerer Heterogenität geprägt sind“. Im Europäischen Parlament finden sich „Vertreter von etwa 200 nationalen Parteien“ und es haben sich sieben Fraktionen gebildet.