Vernünftige Idee kaputt gemacht

Öffentlicher Berichterstattung zufolge will die Ampel den Gesetzentwurf zum Wahlrecht ändern. An dieser Stelle hatte ich dem Entwurf bescheinigt, dass er bessser als erwartet ist. Auch wenn es nicht meine Lieblingsvariante ist (die bleibt weiterhin ein reines Verhältniswahlrecht mit veränderbaren Listen), fand ich die Idee insgesamt ganz charmant.

Leider macht die Ampel mit den öffentlich gewordenen Änderungsvorschlägen die gute Idee kaputt. Und das ohne Not. Ich will mich jetzt gar nicht an der Erhöhnung der gesetzlichen Sitzzahl der Mitglieder des Bundestages aufhalten, das ist verfassungsrechtlich weder zwingend noch verboten.

Ich halte es nicht für zielführend, eine „Rückbenennung“ der Wahlkreis- und Hauptstimme in Erst- und Zweitstimme vorzunehmen. Schon jetzt gibt es unter den Wählenden eine Verunsicherung, welche Stimme die „Wichtigere“ ist. Die „Umbenennung“ in Wahlkreis- und Hauptstimme hat insoweit schon Sinn gemacht. Denn mit dem im Kern immer noch unterstützenswerten Ansatz des Ampel-Gesetzentwurfes kommt es gerade auf die Hauptstimme oder jetzt wieder Zweitstimme an. Weil ohne deren Deckung auch kein Mandatsgewinn im Wahlkreis. Da im Sprachgebrauch „Erst“ immer vor „Zweit“ kommt, wird hier unnötig Verwirrung gestiftet.

Die Streichung der Grundmandatsklausel und die öffentlich kommunizierte Begründung sind aber das Problem. Anders formuliert: Wer die Grundmandatsklausel streicht, muss auf die Sperrklausel verzichten!

Nicht die Grundmandatsklausel ist der Systembruch sondern die Sperrklausel. Mit dem Wegfall der Grundmandatsklausel stellt nämlich die Sperrklausel eine zusäztliche Bedingung für die Wahlkreisbesten neben der Zweitstimmendeckung auf. Die Sperrklausel bedeutet, dass durch Zweitstimmen gedeckte Erststimmen von Wahlkreisbesten nicht zu einem Mandat führen, obwohl die grundlegende Bedingung der Zweitstimmendeckung gegeben ist. Ich bezweifle stark, dass hier die Chancengleichheit der Wahlkreisbesten gewahrt ist – insbesondere in Bayern. Das die CSU den Angriff auf sie nicht sieht, ist ihr Problem, sie holzt lieber populistisch durch die Gegend und vergreift sich in der Wortwahl.

Die Grundmandatsklausel hat den Systembruch durch die Sperrklausel nur abgeschwächt. Mit der Streichung der Grundmandatsklausel ergibt sich nun ein erhebliches Missbrauchspotential. So könnten in allen bayrischen Bundestagswahlkreisen Mitglieder der CSU als Einzelbewerber*innen antreten. Das hat zur Folge, dass sie nicht auf die Landesliste können. Da sie Einzelbewerbende sind, sind sie auf die Sperrklausel nicht angewiesen, sondern gelangen in den Bundestag, wenn sie die meisten Stimmen im Wahlkreis haben (ergibt sich aus § 4 Abs. 2 Nr. 1). Wenn die CSU nun die Sperrklausel überwindet, stellt sie über die Landesliste ebenfalls Abgeordnete. Mit der Streichung der Grundmandatsklausel wird also eine Art  Grabenwahlsystem mit „gefakten“ Einzelbewerbenden ermöglicht.

Nun gibt es Standardargumente gegen die Sperrklausel – die alle nicht überzeugen. Im Gegenteil. Die Sperrklausel ist nicht nötig.

Aber die Handlungsfähigkeit des Parlaments

Um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern braucht es keine Sperrklausel. In der Geschäftsordnung des Bundestages ist festgehalten, dass Vorlagen nach § 75 GOBT nur von Fraktionen eingereicht werden können (§ 76 GOBT). D.h. selbst wenn zwei bis drei Abgeordnete kleinerer Parteien in den Bundestag einziehen würden, könnten sie weder Gesetzentwürfe, noch Anträge oder Änderungsanträge einbringen. Selbst Kleine Anfragen wären ihnen verwehrt (§ 75 Abs. 3 GOBT). Und -als wirkliche Lehre aus der Weimarer Republik- sieht das konstruktive Misstrauensvotum in Art. 67 GG vor, dass dem/der Kanzler*in nur das Misstrauen ausgesprochen werden kann, wenn ein*e neue*r Bundeskanzler*in gewählt wird.

Insbesondere trägt der schon angesprochene Verweis auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik zur Begründung der Sperrklausel nicht. Ernst Becht weist in seinem Buch „Die 5%-Klausel im Wahlrecht. Garant für ein funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem?“ nach, dass eine Sperrklausel in der Weimarer Republik nicht zu stabileren Verhältnissen geführt hätte:

„Rein rechnerisch hätte die Anwendung der Klausel demnach zur Folge gehabt, dass die schon starke Mehrheit des Kabinetts Scheidemann (Regierungszeit Februar bis Juni 1919) von 311 auf 350 Koalitionsstimmen der insgesamt 421 Reichstagsmandate erhöht worden wäre. Auch die darauffolgenden Kabinette Bauer und Müller (Juni 1919 bis März 1920 und März bis Juni 1920) hätten Zugewinne erhalten, die sie aber nicht benötigten, weil sie schon über klare Mehrheiten verfügten. Im 1. Reichstag wäre das Mehrheitskabinett Stresemann (August bis November 1923) etwas gestärkt worden, die 5 Minderheitsregierungen (Fehrenbach, zweimal Wirth, Cuno und Marx) hätten trotzdem über keine Mehrheit verfügt. Zum Teil (Fehrenbach und Marx) wären sie sogar noch geringfügig geschwächt worden. Dies gilt auch für das einzige Kabinett des 2. Reichstages, die Minderheitsregierung Marx (Juni 1924 bis Januar 1925). Im 3. Reichstag hätte das Mehrheitskabinett Luther (Januar 1925 bis Januar 1926) seine Mehrheit ausgebaut, die Minderheitsregierungen Luther (Januar 1925 bis Januar 1926) und Marx (Mai 1926 bis Februar 1927) hätten trotz Klausel über keine Mehrheit verfügt. Dem Mehrheitskabinett Marx (Februar 1927 bis Juni 1928) wäre sogar bei Anwendung der Klausel die Mehrheit genommen worden. Weitere Folge einer Sperrklausel wäre gewesen, dass die staatstragenden und demokratischen Parteien DDP und BVP im 2., 3. und 4. Reichstag nicht mehr vertreten gewesen wären. Zwar wäre die Anzahl der Parteien insgesamt verringert worden; stabilere Mehrheitsverhältnisse hätten deshalb aber nicht bestanden. (…) Seit der Wahl 1930 zum 5. Reichstag hatten die antirepublikanischen Kräfte eine faktische Sperrminorität, die durch die Konzentrationswirkung der Sperrklausel noch verstärkt worden wäre. Ab 1932 (6. Reichstag) verfügten sie ohnedies – obwohl nur in ihrer die Republik ablehnenden Haltung einig, sich sonst bekämpfend – über die Mehrheit. Insgesamt betrachtet hätte sich die Sperrklausel in der Weimarer Zeit demnach eher negativ ausgewirkt.

Der Parlamentarische Rat hat sich explizit gegen eine Sperrklausel entschieden

Im Prozess der Entstehung des Grundgesetzes wurde die Sperrklausel explizit abgelehnt. Die Sperrklausel war also vom Verfassungsgesetzgeber nicht vorgesehen.[1] Die im Wahlgesetz zur ersten Bundestagswahl enthaltene Sperrklausel ist auf einen Beschluss der Ministerpräsidenten am 15. Juni 1949 zurückzuführen.[2] Die im Herrenchiemsee-Entwurf des GG vorgesehene Option, einer Sperrklausel einführen zu können, wurde explizit im Parlamentarischen Rat abgelehnt.

Der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee hatte einen Vorschlag unterbreitet, nachdem die Option einer Sperrklausel im Grundgesetzentwurf stand. Demzufolge wurde auch im Parlamentarischen Rat darüber gesprochen. Wessel argumentierte im Ausschuss gegen eine Sperrklausel für die erste Bundestagswahl und hatte zumindest im Hinblick auf den Diederichs-Entwurf damit Erfolg.[3] Dieser Erfolg setzte sich fort. Sowohl die weiteren Entwürfe von Diederichsen als auch die Entwürfe der CDU/CSU-Fraktion verzichteten auf Sperrklauseln jeglicher Art.[4] Wessel argumentierte gegen Sperrklauseln, da sie aus ihrer Sicht für die kleinen Parteien eine Gefahr darstellen. Sie verwies auf die Propaganda, nach der Wählenden erzählt wird, dass die gewünschte Partei nicht durchkomme und deshalb die Stimmabgabe für diese verantwortungslos sei.[5] Der Verzicht auf eine Sperrklausel setzte sich auch bei weiteren Entwürfen fort, der Vermittlungsvorschlag enthielt ebenfalls keine Aussage zu Sperrklauseln.[6] Der Ausschuss für Wahlrechtsfragen debattierte den damaligen Artikel 45 Absatz 3 Grundgesetz, welcher vorsah, dass das Bundeswahlgesetz eine Sperrklausel bestimmten kann.[7] In einer Stellungnahme votierte der Ausschuss für eine Streichung dieser Formulierung im Grundgesetz. Daraufhin debattierte der Hauptausschuss, ob im Grundgesetz die Option der Einführung einer Sperrklausel enthalten sein soll.[8] Die Streichung der Option der Sperrklausel aus dem Grundgesetz wurde mit 11 gegen 10 Stimmen vom Hauptausschuss beschlossen.[9]

Nach dem Grundgesetz debattierre der Hauptausschuss das Wahlgesetz und die Idee der Sperrklausel wurde erneut vorgebracht. [10] Wessel trat dem offensiv entgegen, mit einer Sperrklausel werde ein Parteienmonopolismus stabilisiert, „der einer wahren  und echten Demokratie und einer wahren Freiheit der Staatsbürger nicht würdig[11] sei. Der Becker-Entwurf enthielt keine Sperrklausel, [12] auch der vom Plenum des Parlamentarischen Rates beschlossene Wahlgesetzentwurf enthielt keine Sperrklausel.[13] Die im Wahlgesetz zur ersten Bundestagswahl enthaltene Sperrklausel ist auf einen Beschluss der Ministerpräsidenten am 15. Juni 1949 zurückzuführen.[14]

Keine unbedingte Rechtfertigung der Sperrklausel nach der Rechtsprechung

Bereits im Jahr 1952 wurde die Standardformulierung für die Rechtfertigung der Sperrklausel vom Bundesverfassungsgericht formuliert:

„Als ein besonderer zwingender Grund ist die mit dem Aufkommen der Splitterparteien verbundene staatspolitische Gefahr für die Demokratie anzusehen. Splitterparteien sind solche mit geringfügiger Stimmzahl und ohne örtlichen Schwerpunkt.“[15]

1957 legitimierte das Bundesverfassungsgericht die Sperrklausel im Verhältnis zu drei Direktmandaten.

„Die Bevorzugung der Parteien mit drei Direktmandaten beim Verhältnisausgleich ist aus den Grundlagen des Wahlsystems des Bundeswahlgesetzes – der mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl – heraus zu rechtfertigen und verstößt darum nicht gegen den Grundsatz der gleichen Wahl.“[16]

In der Begründung heißt es unter anderem:

Der unbegrenzte Proporz würde die Möglichkeit schaffen, daß auch solche kleinen Gruppen eine parlamentarische Vertretung erlangen, die nicht ein am Gesamtwohl orientiertes politisches Programm vertreten, sondern im Wesentlichen nur einseitige Interessen verfechten. Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewußte Mehrheiten im Parlament sind aber für die Bildung einer nach innen und außen aktionsfähigen Regierung und zur Bewältigung der sachlichen gesetzgeberischen Arbeit erforderlich. Es ist also ein aus der Natur des Sachbereichs >Wahl der Volksvertretung< sich ergebendes und darum eine unterschiedliche Bewertung des Erfolgswertes der Stimmen rechtfertigendes Kriterium, nach der größeren Eignung der Parteien für die Erfüllung der Aufgaben der Volksvertretung zu differenzieren. Mit dieser Begründung dürfen daher sogenannte >Splitterparteien< bei der Zuteilung von Sitzen in der Verhältniswahl ausgeschaltet werden, um Störungen des Verfassungslebens vorzubeugen. Der Gesetzgeber darf Differenzierungen in dem Erfolgswert der Stimmen bei der Verhältniswahl vornehmen und demgemäß die politischen Parteien unterschiedlich behandeln, soweit dies zur Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorganges bei der politischen Willensbildung des Volkes, im Interesse der Einheitlichkeit des ganzen Wahlsystems und zur Sicherung der mit der Parlamentswahl verfolgten staatspolitischen Ziele unbedingt erforderlich ist.“[17]

Auch unter Berücksichtigung der Entscheidung zur Sperrklausel bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 bleibt die Konsistenz der Argumentation bestehen. Zunächst stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die

Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Gleichheit der Wahl (…) nicht ein für allemal abstrakt beurteilt werden (kann). Bei ihrem Erlaß sind die Verhältnisse des Landes, für das sie gelten soll, zu berücksichtigen.“[18]

Im Ergebnis hielt es aber an einer Sperrklausel an sich fest, die für diese Wahl allerdings auf die jeweiligen „Teilgebiete“ bezogen war.[19]

Eine Präzisierung nahm das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2017 vor:

Eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung könnte möglicherweise geboten sein, wenn der sperrklauselbedingte Ausfall an Stimmen einen Umfang erreichte, der die Integrationsfunktion der Wahl (…) beeinträchtigen würde. Der Gesetzgeber muss die Funktion der Wahl als eines Vorgangs der Integration der politischen Kräfte des gesamten Volkes sicherstellen und zu verhindern suchen, dass gewichtige Anliegen im Volk von der Volksvertretung ausgeschlossen bleiben.“[20]

Genau an dieser Stelle wird die Sperrklausel problematisch. Denn mit der Streichung kann sich folgendes Bild ergeben: Eine Partei (z.B. die CSU) stellt in 32 Wahlkreisen die Wahlkreisbesten, scheitert aber an der Sperrklausel. Dann würden diese 32 Personen keine Mandate erringen, obwohl sie mit den  32 Abgeordnete 5% der Mitglieder des Bundestages bei einer Größe von 630 MdB ausmachen. Erkennbar wäre dies nicht vereinbar mit dem angeblichen Sinn und Zweck der Sperrklausel vereinbar.

Fazit

Es wäre ausgesprochen schlau, die Sperrklausel zu streichen oder mindestens die Grundmandatsklausel wieder einzuführen.

 

[1] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 29, S. 812, Fn. 14

[2] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 13, S. 387

[3] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 21, S. 583 & Band 6, Nr. 20, S. 566 ff. & Band 6, Nr. 20, S. 553 ff.

[4] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 21, S. 605

[5] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 22, S. 611, Fn. 10

[6] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 23, S. 651 ff.

[7] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 14/2, Nr. 48, S. 1526 ff.

[8] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 14/2, Nr. 48, S. 1531

[9] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 14/2, Nr. 52, S. 1666

[10] Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 14/2, Nr. 52, S. 1672

[11] Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 25, S. 705

[12] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 26, S. 752 ff.

[13] vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Band 6, Nr. 29, S. 812, Fn. 14

[14] BVerfGE 1, 208; Ls. 10b) und 10c)

[15] BVerfGE 6, 84; Ls. 3

[16] BVerfGE 6, 84; Rdn. 27f.

[17] BVerfGE 82,322; Ls. 2a)

[18] vgl. BVerfGE 82,322; Ls. 4b)

[19] BVerfGE 146, 327; Rdn. 71

 

 

 

 

 

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