Am Donnerstag, den 7. Juli 2016 hat der Bundestag die Regelung zum „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht in namentlicher Abstimmung einstimmig beschlossen. Zeit für eine kurze parlamentarische Chronik.
Anhörung zur Istanbul-Konvention
Am 1. August 2014 trat die sog. Istanbul-Konvention in Kraft. Dabei handelt es sich um einen völkerrechtlichen Vertrag zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Am 28. Januar 2015 fand eine Anhörung im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz statt, dessen Grundlage ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen war. Darin ging es um die Schließung von Strafbarkeitslücken im Sexualstrafrecht. Sehr zu empfehlen ist in diesem Fall das Wortprotokoll der Anhörung. Denn dieses Wortprotokoll macht die Konfliktlinien der weiteren Debatte um die Verankerung von „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht deutlich.
Die Sachverständige Grieger schilderte einen Fall, in dem die Staatsanwaltschaft das Verfahren eingestellt hatte, weil der Tatbestand der sexuellen Nötigung nach Meinung der Staatsanwaltschaft nicht erfüllt sei. Wohlgemerkt nicht wegen Beweisschwierigkeiten, sondern wegen Nichterfüllung des Tatbestandes. Frau Grieger schilderte folgendes Erlebnis einer Studentin, die mit Kommilitonen*innen zu einem Zeltwochenende verreiste.
„Ein junger Mann war in der Gruppe. Die beiden hatten einen sehr netten Abend, tranken und unterhielten sich den ganzen Abend und unterhielten sich auch noch weiter, als alle anderen schon zum Schlafen in die Zelte gegangen waren. Die Frau war jedoch völlig überrumpelt und fassungslos, als er plötzlich begann, ihr an die Brust zu fassen und seine Hose aufzuknöpfen. Sie sagte, er spinne ja wohl und dass er aufhören solle, sie würde ihn doch gar nicht kennen. Er hörte aber einfach nicht auf, machte weiter und sie wiederholte mehrfach, dass sie das nicht will. Er machte aber einfach weiter. Die beiden hatten Geschlechtsverkehr, währenddessen die Frau die gesamte Zeit über weinte.„
Neben Frau Grieger sahen auch Rechtsanwältin Clemm, Dr. Eisele, Staatsanwalt Eisenhuth und Prof. Renzikowski verschiedene Lücken im Sexualstrafrecht. Staatsanwältin Cirullies hingegen sah keinen Umsetzungsbedarf im deutschen Strafrecht auf Grund der Istanbul-Konvention. Ebenso Prof. Fischer. Im Hinblick auf seine Erfahrungen mit der Rechtsprechung, insbesondere des BGH, begründete er dies wie folgt:
„Auf der Grundlage dieser Erfahrungen kann ich sagen, dass der weitaus größte Teil der behaupteten Lücken nicht existiert.„
Auch vor dem Hintergrund dieser Einschätzung fragte ich Prof. Fischer direkt:
„Wenn es eine herrschende Rechtsprechung gibt, die dies nicht als aussichtslose oder schutzlose Lage auslegt, dann werden Gerichte unterhalb des Bundesgerichtshofs sich auf diese Rechtsprechung beziehen. Deswegen würde ich Sie gerne nochmal fragen, ob nicht vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung, (…) nicht doch gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht?“
Der Kollege Wiese von der SPD stellte eine Frage in die gleiche Richtung. In seiner Antwort verwies Prof. Fischer u.a. auf diese Entscheidung des BGH vom 25. Januar 2006. Nun heißt es in dieser Entscheidung aber ganz explizit:
„Auf den Umstand des Alleinseins von zwei Personen in einer Wohnung oder einer anderen nach außen abgegrenzten Räumlichkeit kann aber (…), nicht schon ohne weiteres die Feststellung gestützt werden, die betroffene Person habe sich in einer Lage befunden, in welcher sie den Einwirkungen der anderen Person schutzlos ausgeliefert war. Hierfür kommt es vielmehr auf eine Gesamtwürdigung aller tatbestandsspezifischen Umstände an. (…).“
Und ergänzt wird dies mit Ausführungen zur Nötigung (Rdn. 30):
„Nötigen ist das Beugen eines dem Ansinnen des Täters entgegen stehenden Willens durch Ausüben von Zwang. Auf eine bestimmte Form des Täterhandelns oder den Einsatz eines bestimmten Zwangsmittels kommt es hierbei grundsätzlich nicht an (…). Voraussetzung einer vollendeten Nötigung ist, dass das Tatopfer durch die Nötigungshandlung zu einem seinem Willen entgegen stehenden Verhalten veranlasst wird, dass also das Vornehmen eigener oder Dulden fremder Handlungen auf einem dem Täter zuzurechnenden Zwang beruht. Diese kausale Verknüpfung ist nach Ansicht des Senats auch für die beiden Varianten des Nötigungs-Tatbestands des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB nicht entbehrlich. (…) Käme es auf die Zwangswirkung der spezifischen Schutzlosigkeit nicht an, so wäre kein Grund ersichtlich, warum das Gesetz gerade sie zur Voraussetzung einer Nötigung gem. § 177 Abs. 1 Nr. 3 macht.„
Übersetzt heißt das nach BGH: Auch in einer schutzlosen Lage muss eine Zwangswirkung existieren, damit der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt ist.
Am 1. Juni 2016 wurde dann die Anhörung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, dem Gesetzentwurf der LINKEN und einem Eckpunktepapier der Koalitionsfraktionen im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz durchgeführt. Auch hier ist das Wortprotokoll empfehlenswert. Insbesondere -für besonders interessierte Leser*innen- die Ausführungen von Prof. Hörnle zur Streichung des § 184h Nr. 1 StGB auf Seite 25 (auch wenn ich die Ausführungen zum Gruppendelikt, kurz darauf, nicht teile). Die Sachverständige Clemm wiederum bringt auf S. 27 die Bedenken gegen einen Grapschparagrafen gut auf den Punkt.
Die Gesetzentwürfe
Nach der Anhörung legte als erste Fraktion am 1. Juli 2015 Bündnis 90/Die Grünen einen Gesetzentwurf vor. Der Gesetzentwurf stellt vor allem auf die aus Sicht der Antragsteller zu hohen Hürden ab, die bei einer „schutzlosen Lage“ gegeben sein müssen. Der Gesetzentwurf schlug folgende Formulierung für den Grundsatz „Nein heißt Nein“ in einem Abs. 2 des § 177 StGB vor.
„Ebenso wird bestraft, wer sexuelle Handlungen an einer anderen Person vornimmt oder an sich oder einem Dritten vornehmen lässt und dabei die Arg- oder Wehrlosigkeit des Opfers ausnutzt oder der entgegenstehende Wille des Opfers erkennbar zum Ausdruck gebracht worden ist.„
Das Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz formulierte im Sommer 2015 einen Referentenentwurf, der lange vom Kanzleramt zurückgehalten und am 23. Dezember 2015 öffentlich wurde. Der Referentenentwurf konstatierte Schutzlücken im Hinblick auf überraschende Handlungen des Täters oder Situationen, in denen das Opfer nur aus Furcht von Widerstand absieht. Gleichzeitig ging der Referentenentwurf aber davon aus, dass das deutsche Sexualstrafrecht mit § 177 Absatz 1 Nummer 3 StGB bereits eine Strafbarkeit für Fälle nicht einvernehmlicher sexueller Handlungen enthalte. Deshalb regelte der Referentenentwurf den Grundsatz „Nein heißt Nein“ nicht, machte aber Vorschläge zur Formulierung eines neuen Straftatbestandes des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung besonderer Umstände.
Im Gesetzentwurf der LINKEN vom Februar 2016 sollte der Grundsatz „Nein heißt Nein“ ebenfalls verankert werden. In ihm wird argumentiert, dass das geltende Sexualstrafrecht die sexuelle Selbstbestimmung nicht ausreichend schütze, da integraler Bestandteil des § 177 StGB eine Nötigung ist. Der bisherige § 177 StGB bezieht sich auf Fälle der sexuellen Nötigung mit Gewalt, Drohung mit gegenwärtiger Leibes- oder Lebensgefahr oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist. DIE LINKE schlug einen Grundtatbestand nichteinvernehmlicher sexueller Handlungen wie folgt vor:
„Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder an sich vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung einer sexuellen Handlung an oder mit einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“
Darüberhinaus sah der Gesetzentwurf sog. Qualifikationen (schwerer Fall) vor, einen besonderen Tatbestand der sexuellen Nötigung und einen Tatbestand der sexuellen Handlungen unter Ausnutzung besonderer Umstände.
Der Regierungsentwurf zum Sexualstrafrecht lag dann am 25. April 2016 vor, er entsprach im Wesentlichen dem Referentenentwurf.
Der beschlossene Gesetzestext
Am Montag, den 4. Juli 2016 lag dann ein Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen vor. Dieser ist das am 7. Juli 2016 beschlossene Gesetz. Der Grundsatz des „Nein heißt Nein“ wird demnach nunmehr wie folgt im Sexualstrafrecht verankert:
„Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Das gleiche Strafmaß gilt in Fällen, in denen sexuelle Handlungen vorgenommen werden wenn (§ 177 Abs. 2),
- der Täter ausnutzt, dass die Person nicht in der Lage ist, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern,
- der Täter ausnutzt, dass die Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist, es sei denn, er hat sich der Zustimmung dieser Person versichert,
- der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzt,
- der Täter eine Lage ausnutzt, in der dem Opfer bei Widerstand ein empfindliches Übel droht, oder
- der Täter die Person zur Vornahme oder Duldung der sexuellen Handlung durch Drohung mit einem empfindlichen Übel genötigt hat.
Ein besonders schwerer Fall ( § 177 Abs. 6) wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft und liegt unter anderem vor,
wenn der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder vollziehen lässt oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder von ihm vornehmen lässt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung),
Der sog. Gruppenparagraf (§ 184j StGB) lautet:
„Wer eine Straftat dadurch fördert, dass er sich an einer Personengruppe beteiligt, die eine andere Person zur Begehung einer Straftat an ihr bedrängt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn von einem Beteiligten der Gruppe eine Straftat nach den §§ 177 oder 184i begangen wird und die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist.“
Der § 54 Abs. 2 Nr. 1a Aufenthaltsgesetz, welcher festschreibt, wann das Ausweisungsinteresse schwer wiegt, wird wie folgt neu gefasst (das, was unterstrichen ist, ist neu):
„wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits – oder Jugendstrafe verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist; bei serienmäßiger Begehung von Straftaten gegen das Eigentum wiegt das Ausweisungsinteresse auch dann schwer, wenn der Täter keine Gewalt, Drohung oder List angewendet hat“.
Die Plenardebatten
Am 1. Oktober 2015 debattierte der Bundestag den Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen. Die Debatte kann im Plenarprotokoll (ab S. 12370) nachgelesen werden. Meine Rede dazu kann hier nachgelesen werden. Die nächste Debatte folgte am 17. März 2016, zu diesem Zeitpunkt vor allem deshalb, weil zum Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen noch keine Anhörung stattgefunden hatte. Meine Rede dazu findet sich hier. Das Plenarprotokoll (ab S. 15883) dieser Debatte lohnt sich ebenfalls zu lesen. Der Kollege Hoffmann von der Union beispielsweise wendete gegen die Formulierung im Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen ein:
„Wie wollen wir das nachweisen, wenn wir wissen, dass die problematischen Fälle in der Praxis doch häufig Fälle der Vergewaltigung in einer Ehe oder einer Beziehung sind, Fälle, in denen der Täter vor dem Richter steht und sagt: `Sie hat es doch gewollt`? Das heißt, wir haben Vier-Augen-Konstellationen, bei denen wir keinerlei objektive Indizien finden und vieles unter Umständen nur auf subjektive Wahrnehmungen gestützt werden kann. (…) Wie wollen wir bei dieser Formulierung konkludentes Verhalten werten? Was meine ich? Stellen Sie sich vor: Zwei Arbeitskollegen sind zusammen auf Dienstreise. Abends trifft man sich in der Bar. Die Stimmung ist gut. Er macht ihr eindeutige Avancen. Sie stellt abends noch klar: Nein, zwischen uns wird nichts laufen. Ich will meine Ehe nicht aufs Spiel setzen. – Der Abend geht weiter, und es wird launiger. Man ist leicht angetrunken; alle wissen noch, was sie tun. Der Abend geht weiter. Er bringt sie wie ein Gentleman auf das Zimmer. Dort verliert sie dann die Kontrolle, und es kommt zum Äußersten. (…) Am nächsten Tag sagt sie: Ich wollte das nicht, und das habe ich dir auch gesagt. – Wie wollen wir diesen Fall gemeinsam aufarbeiten? Das Nein war ausdrücklich erkennbar. Die Frage ist: Gab es nach diesem Nein noch eine weitere Willensbekundung durch das Geschehenlassen, oder wirkt dieses Nein fort„
Nachfolgend machte sich Hoffmann für „objektivierbare Momente“ stark, wie die Drohung mit einem empfindlichen Übel – und rückte damit im Ergebnis von der Forderung „Nein heißt Nein“ wieder ab. Und -unter Verweis auf einen Wunsch von Innenminister de Maizière- forderte Hoffmann neben einer besseren Bestrafung des Grapschens einen eigenen Tatbestand für sexuelle Übergriffe aus der Gruppe, als Lehre aus Köln.
Weiter ging es mit der Debatte am 28. April 2016 zu den Gesetztentwürfen der Bundesregierung und der LINKEN. Meine Rede dazu findet sich hier. In der damaligen Debatte wurde laut Plenarprotokoll (ab S. 16386) von der Abgeordneten Winkelmeier-Becker ein Grapsch- und ein Gruppenparagraf gefordert.
Schließlich fand am Donnerstag (7. Juli 2016) die abschließende Lesung statt. Auch hier durfte ich reden und lohnt sich ein Blick in das Plenarprotokoll (ab S. 17998). Im Hinblick auf den Gruppenparagrafen führte die Abgeordnete Winkelmeier-Becker aus:
„In dieser Konstellation ist es eben typisch, dass dem Mitmacher in der dritten oder vierten Reihe nicht mehr genau nachgewiesen kann, dass er wusste, was die da vorne machen, und diesen Vorsatz in sein Handeln mit aufgenommen hat. (…) Wir sind aber der Auffassung, dass derjenige, der in der dritten oder vierten Reihe durch sein Mitdrängen das Gefahrenpotenzial für das Opfer erhöht, die Verletzung des Opfers mitverursacht und sein Verhalten ein erhebliches Unrecht darstellt.„
Die Abgeordnete Widmann-Mauz war noch offener:
„Wer mitmacht, auch wenn er nicht selbst übergriffig wird, muss auch bestraft werden.„
Und der Abgeordnete Hoffmann erklärt den Gruppenparagrafen wie folgt:
„Der Täter verursacht eine objektiv gefährliche Situation. Er setzt nämlich einen Kausalverlauf in Gang, den er später nicht mehr beherrschen kann, und der einer gewissen Dynamik unterliegt, weil aus dem Ausgeliefertsein der Frau, aus der übermächtigen Stellung der Gruppe, der eine oder andere dann doch noch mutiger wird. Und dann kommt es zu sexuellen Übergriffen.„
Und hinsichtlich der Neuregelung des Ausweisungsrechtes bestätigte der Abgeordnete Hoffmann, dass
„Nein heißt Nein auch Nein im Ausweisungsrecht bedeutet“.
Was bedeutet die Neuregelung konkret und was ist an ihr zu kritisieren?
Die Realisierung des Grundsatzes „Nein heißt Nein“ im Sexualstrafrecht ist außerordentlich zu begrüßen. Deshalb hat DIE LINKE namentlich auch geschlossen für diese Regelung gestimmt. Was unter den § 177 Abs. 1 StGB konkret fallen wird, ist nicht einfach zu bestimmen. Denn wegen § 184h Nr. 1 StGB sind nur solche sexuelle Handlungen gegen den erklärten Willen strafbar, die im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut eine gewisse Erheblichkeit aufweisen. Der BGH spricht davon, dass nur eine sexuelle Handlung betroffen ist, die
„nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung eines bestimmten, im Tatbestand geschützten Rechtsguts bedeutet„
Nach der Rechtsprechung verlangt dies immer eine Wertung an sozialethischen Maßstäben und müssen die Begleitumstände berücksichtigt werden. Bislang wurden als erhebliche sexuelle Handlungen unter anderem von der Rechtsprechung anerkannt:
- sich in Unterhose mit gespreizten Beinen fotografieren lassen (Schönke-Schröder, StGB, § 184f, Rdn. 6)
- (merhfaches) Berühren des nackten Geschlechtsteils (BGH, 30. 1. 2001, 4 StR 569/00)
- betasten des bekleideten Geschlechtsteils (BGH, 23.07.2013, 1 StR 204/13)
- gewaltsam vorgenommene Berührung der Brust einer Frau unter dem BH (Schönke-Schröder, StGB, § 184f, Rdn. 6)
- kurze Berührungen über der Kleidung können aber diese Erheblichkeitsschwelle überschreiten (BGH, 20.03.2012, 1 StR 447/11)
- Zungenkuss (BGH, 4. 4. 2011 , 2 StR 65/11)
Die Schwelle zur Erheblichkeit haben bislang nach der Rechtsprechung unter anderem nicht überschritten:
- Umarmen und Küssen (Schönke-Schröder, StGB, § 184f, Rdn. 15b)
- Kuss auf die Wange (Schönke-Schröder, StGB, § 184f, Rdn. 15b)
- Streicheln des (bedeckten) Beines und misslungener Kussversuch (BGH, 30.01.2001, 4 StR 569/00)
- Streicheln vom Rücken zum Po, teilweise unter der Kleidung (s.o.)
- flüchtiger Griff an die Genitalien über der Kleidung (s.o.)
- Berührungen des Täters am Opfer können die Erheblichkeitsschwelle nicht ohne weiteres erreicht, wenn es sich um kurze Griffe über der Kleidung an Brust oder Gesäß handelt (BGH, 20.03.2012, 1 StR 447/11)
Mit dem neuen Grapschparagrafen sollen diese Handlungen nun aber erfasst werden. Aus meiner Sicht wäre es besser gewesen, statt des Grapschparagrafen den § 184h Nr. 1 StGB zu streichen.
Nicht akzeptabel sind die Änderungen zum Gruppenparagrafen und zum Ausweisungsrecht. Das führte im Ergebnis dazu, dass DIE LINKE sich insgesamt enthalten hat.
Die Regelung des sog. Gruppenparagrafen verletzt das für das Strafrecht konstituierende Schuldprinzip, denn es kommt auch nach der Begründung nicht auf den Vorsatz der Begehung einer Sexualstraftat des Tatverdächtigen an. Dazu hat die Abgeordnete Katja Keul aus meiner Sicht völlig zu Recht in der Debatte im Plenum gesagt:
„Mit dem neu eingeführten § 184j StGB wollen Sie allen Ernstes eine Gruppenzugehörigkeit unter Strafe stellen. So etwas geht in unserer Rechtsordnung gar nicht. Das ist auch gut so. (…) Nach unserer Verfassung kann jede und jeder nur für seine eigene individuelle Schuld bestraft werden, sei es, weil er selbst Mittäter ist, sei es, weil er Beihilfe geleistet hat, sei es, weil er zu einer Tat angestiftet hat. Wenn all diese Voraussetzungen nicht vorliegen, können wir nicht darauf ausweichen, jemanden wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe, also quasi wegen Sippenhaft, zu verurteilen.„
Hinzu kommt, dass es gerade nicht auf die Definitionen von Täterschaft, Anstiftung, Beilhilfe (§§ 25-27 StGB) im Gesetz ankommen soll, sondern auf den umgangssprachlichen Sinn. Das geht beim Strafrecht, das immer Ultima Ratio ist, überhaupt nicht. Diese Tat muss also nicht vom Vorsatz des Täters umfasst sein.
Beim Ausweisungsrecht ist zunächst darauf hinzuweisen, dass erst im März in den benannten Paragrafen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung aufgenommen wurden, soweit sie mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib und Leben sowie List begangen werden. Nunmehr wird der gesamte § 177 StGB aufgenommen und damit reicht eine Verurteilung wegen sexuellen Handlungen gegen den erkennbaren Willen -wie weiter oben benannt- aus, um ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse zu begründen. In der Begründung wird explizit darauf verwiesen, dass der Grundsatz des „Nein-heißt-Nein“ in das Ausweisungsrecht implementiert wird und es deshalb nicht mehr auf bestimmten Tatmodalitäten, zum Beispiel mit Gewalt gegen das Opfer, ankomme. Dazu hat die Abgeordnete Keul ebenfalls völlig zu Recht in der Plenardebatte ausgeführt:
„Bei der Abschiebung Straffälliger wird jetzt auf den neuen § 177 StGB verwiesen, der aber ganz anders als der bisherige Tatbestand viel niedrigschwelligere sexuelle Handlungen erfasst und weder Gewalt noch Nötigung zur Tatbestandsvoraussetzung hat. Das ist schlicht unverhältnismäßig.„
Die Änderung des Sexualstrafrechts bleibt ein Placebo, wenn nicht mehr passiert. Für den umfassenden Schutz der sexuellen Selbstbestimmung ist deutlich mehr nötig, als eine Änderung im StGB. Aufklärung, Prävention, Schutz Betroffener und klare Stop-Zeichen für jede Art von Sexismus. In dieser Broschüre habe ich ausführlicher argumentiert, warum eine Strafrechtsänderung zwar notwendig, aber noch lange nicht ausreichend ist.
„Übersetzt heißt das nach BGH: Auch in einer schutzlosen Lage muss eine Zwangswirkung existieren, damit der Tatbestand des § 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB erfüllt ist.“
Genau so ist es und genau so muss es sein. Wie soll man sonst den Tatbestand der Vergewaltigung als erfüllt ansehen? Wenn eine Frau / Mann Handlungen über sich ergehen lässt, ohne dass Gewalt gegen diese Frau / Mann angewendet wird, dann ist es auch keine Vergewaltigung. Schon aus dem Wortsinn des Begriffs VerGEWALTigung ergibt sich diese Notwendigkeit ganz deutlich.
Die Studentin hätte sich einfach zusammen mit ihren Freundinnen zu Bett begeben sollen und den Jungen in seiner Suche nach einem Geschlechtspartner auch noch bestärken sollen. Die Tatsache, dass sie sich allein, nachdem alle anderen zu Bett gegangen waren, noch mit dem Jungen unterhalten hat zeigt, dass sie offensichtlich das Zusammensein in Abgeschiedenheit mit Jungen suchte. Wie soll ein Mann so etwas sonst verstehen?
genau wegen solcher kommentare und einstellungen war die „nein heißt nein“ regelung überfällig.
@dictum est
Ohje, als nächstes folgt noch, dass Frauen keine kurzen Röcke mehr tragen sollen denn damit „zeigen“ sie ja das sie auf Partnersuche wären! Das ist eine Neandertaler Logik.
Hat aber auch nichts mit einer vermeintlichen Schutzlücke zu tun!
Neanderthal natürlich mit „h“, aber was solls, Steinzeitlich ist’s auf alle Fälle.
Hallo dictum est,
„Wie soll ein Mann so etwas sonst verstehen?“
Damit demonstrieren Sie nicht nur ein sehr beschränktes Frauen-, sondern auch ein ebensolches Männerbild.
Es ist regelrecht lustig, dass man so feinsinnige Gesetzesänderung in einer Zeit beschliesst, in denen Frauen auf offener Straße von Gruppen von Männern angefallen werden, WEIL sie ganz genau wissen, dass die Frauen das nicht wollen, dass das NEIN also absolut überflüssig ist.
Ich nenne das eine Ersatzhandlung, oder gar einen Kranz, der einer untergehenden Welt ans Grab gelegt wird, von ihren ahnungslosen Jüngern.
das gibt es ja nicht erst seit kurzem.
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