Radikalisierung


Manche Dinge radikalisieren und einige Radikalisierungen passieren unvorbereitet. Obwohl ich nach wie vor die parlamentarische Demokratie als wichtigen zivilisatorischen Fortschritt empfinde, habe ich mich in der Kritik an ihr radikalisiert – in der Zeit im Parlament und immer so, dass es um konkrete Verbesserungsvorschläge ging.

Jetzt radikalisiere ich mich, weil die Ignoranz gegenüber der Klimakatastrophe mich zur Verzweiflung bringt. Ich verstehe die Wut und die Angst derjenigen, die sich an Straßen festkleben – auch wenn ich nicht überzeugt bin, dass mit dieser Art von Protest Überzeugungsarbeit in Sachen Klimaschutz stattfindet. Was muss eigentlich geschehen, dass die Notwendigkeit von Klimaschutz begriffen wird? In der Politik und bei jedem/jeder?

Natürlich kann ich das machen, worauf sich die Ampel jetzt geeinigt hat und das Klimaschutzgesetz so ändern, dass nicht mehr jeder Sektor (Energie, Gebäude oder Verkehr) pro Jahr CO2-Vorgaben erfüllen muss, sondern die Einhaltung der Klimaschutzziele anhand „einer sektorübergreifenden und mehrjährigen Gesamtrechnung überprüft“ wird. Und ich kann den Grundsatz ändern, wonach es als „Realkompensation“ für den Verlust von Naturflächen Kompensationen auf anderen Flächen geben muss. Dann werden halt Naturflächen weiter versiegelt und es gibt als Kompensation Geld. Ich kann in verkürzten Verfahren ausgewählte Autobahnen durchsetzen und das Gesetz zum Einsatz  klimafreundlicher Heizungen entschärfen. Aber dann sollte ich einfach nicht mehr behaupten, es ginge um Politik gegen den Klimawandel und den Ausgleich seiner Folgen. Wie kurzsichtig kann mensch eigentlich sein?

Natürlich kann ich kritisieren, dass z.B. die Initiative des VE Berlin Klimaneutral 2030 zu wenig Kontakt in die Stadtgesellschaft und sozialen Initiativen hatte. Es kann aber auch gefragt werden,  ob die Stadtgesellschaft und die sozialen Initiativen das Thema Klima ausreichend auf dem Schirm hatten und warum sie sich nicht den Prozess eingeklingt haben.

Natürlich kann ich argumentieren, dass Klimaschutz auch immer sozial sein muss. Das ist auch richtig. Aber wenn der Planet uns unter dem Arsch wegplatzt, dann ist nichts mehr mit sozial für Niemanden. Und zu negieren, dass je weniger für Klimaschutz gemacht wird, die Klimafolgen die Menschen mit geringem oder keinem Einkommen und vor allem die Menschen des globalen Südens am meisten treffen werden, ist auch irgendwie absurd. Wenn das Trinkwasser knapp wird oder die Hitze unerträglich, werden Menschen mit Geld sich eher herauskaufen können, als diese Menschen.

Natürlich ist es richtig, dass es regulatorischer Maßnahmen bedarf und Eingriffe in den Markt, damit die Kosten des Klimaschutzes und der notwendigen gesellschaftlichen Umstellungen auch gerecht finanziert werden. Aber so zu tun, als könne das individuelle Leben einfach so weitergehen wie bisher ist grundfalsch. Ein wenig Öko-Bewusstsein sollte jede*r haben.

Natürlich können immer wieder konkrete Klimaschutzmaßnahmen abgelehnt werden, mit dem Hinweis darauf, dass dieses und jenes dann nicht mehr möglich wäre und dies vor allem Arbeitnehmende und Menschen mit geringem oder keinem Einkommen besonders trifft. Das überraschende ist halt nur, dass zumindest ich das weitgehend von Leuten hören, die das gar nicht betrifft, sondern die FÜR andere sprechen. Um der eigenen Privilegien willen?

Ein Beispiel: Ich lese immer wieder Argumente warum z.B. Pendler*innen nicht auf ihr Auto verzichten können und deshalb Parkplätze benötigt benötigt, Benzin nicht verteuert und dieses oder jenes nicht gemacht werden kann. Eine solche Argumentation sensibilisiert gerade nicht für Klimaschutz. Weil sie das Bestehende nicht in Frage stellt. Anders wäre es mit einer Argumention, die sagt: Völlig richtiger Ansatz und damit das auch funktioniert muss diese und jene Bedingung erfüllt sein – wie der Ausbau des ÖPNV- und bis dahin schlagen wir als Brückentechnologie folgende Dinge zur Reduzierung des Autoverkehrs vor. In Berlin könnte mensch sich auf die Empfehlungen des Klimabürger*innen-Rates beziehen. Und das mit der Miete? Der Mietendeckel in Berlin (MietenWoG) hatte in § 7 eine Mietsteigerung von 1 EUR/qm bei Modernisierung vorgesehen, darunter auch energetische Modernisierung. Und das war aus klimapolitischer Sicht auch richtig.

Wenn die Klimakatastrophe vorangeschritten ist, wird es Notstandsgesetze geben. Nix mit parlamentarischer Demokratie. Dann wird rationiert werden müssen – im besten Falle. Vorher werden vor allem die Menschen des globalen Südens die Klimakatastrophe mit dem Entzug ihrer Lebensgrundlagen bezahlen müssen – und an Europas Grenzen abgewiesen werden, wenn sie nicht vorher auf der Flucht umkommen oder ermordet werden. Danach werden die Menschen mit geringem und keinem Einkommen bezahlen – mindestens mit ihrer Gesundheit. Weil sie sich weniger schützen können. Kurz: Wenn nichts gemacht wird, zahlen die sozial Benachteiligten.

Ich kann also stundenlang darüber debattieren, dass sich auf die Straße kleben nicht die richtig Aktionsform ist. Solange es beim Klimaschutz nicht konkret vorangeht und auf der Überschriftenebene stehengeblieben wird, wird es diese Art von Protest geben.

Oder es gibt endlich eine konkrete Debatte, wie sozial-ökologischer Umbau mit dem Ziel resilienter Daseinsvorsorge stattfinden kann. Welche Markteingriffe sind nötig? Welche regulatorischen Maßnahmen? Wie kann das finanziert werden? Welche Einschränkungen sind nötig (Ja, Einschränkungen, ohne die wird es nicht gehen.)? Was ist notwendig, um die Entscheidung des BVerfG zur intertemporalen Freiheitssicherung umzusetzen und wie wird verhindert, dass es so wie derzeit, weitgehend ignoriert wird?

Entweder es wird JETZT gehandelt oder es wird sich noch viel häufiger auf die Straße geklebt und die gesellschaftliche Polarisierung wird zugespitzter werden. Das ist die Entscheidung, die ansteht und da muss sich entschieden werden, auf welcher Seite jede*r steht.

One Reply to “Radikalisierung”

  1. Politik fängt mit der Erfassung der Wirklichkeit statt!
    Davon hat sich der überwiegende Teil der Entscheidungsträger weit entfernt! Sie verkennen, daß es nicht mehr um eine Wahlfreiheit geht,sondern das die gesamte Gesellschaft sich auf einen schnellen Weg zur Transformation aufmachen muß!Nicht viel von allem ist das Maß der Dinge sonder weniger ist mehr!

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