Von der verfassungsrechtlichen Duldung zur verfassungsrechtlichen Anerkennung – Ehe für Alle

Eigentlich ging es im Beschluss des BVerfG vom 1. Februar um Kinderehen. Das tritt jedoch in den Hintergrund angesichts des Leitsatzes 1/Randnummer 109. Dort steht:

„Ehe im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG ist eine rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, gleichberechtigte und autonom ausgestaltete Lebensgemeinschaft, die durch einen formalisierten, nach außen erkennbaren Akt begründet wird.“

Die „Revolution“ des Beschlusses wird erst deutlich, wenn ein Blick auf frühere Entscheidungen des BVerfG geworfen wird.

Im Jahr 2002 formulierte das BVerfG zum Lebenspartnerschaftsgesetz noch in Randnummer 87::

„Zum Gehalt der Ehe, wie er sich ungeachtet des gesellschaftlichen Wandels und der damit einhergehenden Änderungen ihrer rechtlichen Gestaltung bewahrt und durch das Grundgesetz seine Prägung bekommen hat, gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes mit einer Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemeinschaft ist, begründet auf freiem Entschluss unter Mitwirkung des Staates (…), in der Mann und Frau in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen (…) und über die Ausgestaltung ihres Zusammenlebens frei entscheiden können (…).“

Im Jahr 2012 wurde vom BVerfG klar formuliert (Rdn. 65):

„Die Ehe als allein der Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehaltenes Institut (…) erfährt durch Art. 6 Abs. 1 GG einen eigenständigen verfassungsrechtlichen Schutz.“

Bis zur Entscheidung des BVerfG vom 1. Februar 2023  war mir gar nicht bewusst, dass es noch eine verfassungsrechtliche Diskrepanz zur einfachgesetzlichen Entscheidung der Ehe für Alle (Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts) im Jahr 2017 und Rechtsinstitut der Ehe nach Art. 6 GG  gab. Schließlich lautet der § 1353 Abs. 1 Nr. 1 BGB seitdem:

„Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen.“

Meine Überraschung war groß, als ich gestern in die Kommentarliteratur schaute. Dort wird immer noch davon ausgegangen, dass der Ehebegriff des Grundgesetzes die Geschlechtsverschiedenheit der Ehegatten voraussetzt. Ein paar Beispiele:

„Notwendige Voraussetzung der Ehe iSd Art. 6 Abs. 1 GG ist ferner die Geschlechtsverschiedenheit der Ehegatten, sodass gleichgeschlechtliche Verbindungen vom Ehebegriff ausgeschlossen sind.“ (Beck-OK, Art. 6, Rdn. 4)

„Der Begriff der Ehe ist im Grundgesetz nicht definiert. Das Bundesverfassungsgericht und weite Teile des Schrifttums verstehen als Ehe iSd Art. 6 I GG die unter Mitwirkung des Staates geschlossene, auf Lebenszeit oder jedenfalls auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss und der Gleichberechtigung der Partner beruhende Lebensgemeinschaft von Mann und Frau.“ (Dreier, GG, Art. 6, Rdn. 49).

„Die Ehe ist die rechtlich geordnete Form einer auf Dauer angelegten Verbindung von Mann und Frau, deren Eingehung auf der Willensübereinstimmung der Ehegatten beruht und des Ordnungselements der staatlichen Mitwirkung durch den Standesbeamten bedarf.“  (Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 6, Rdn. 42).

Bis zur Entscheidung des BVerfG vom 1. Februar 2023 war demnach die gleichgeschlechtliche Ehe verfassungsrechtlich nur geduldet, unterlag aber nicht der Institutsgarantie des Art. 6 GG. Mit der Entscheidung vom 1. Februar 2023 ist nun vom BVerfG inzident festgestellt worden, dass auch die gleichgeschlechtliche Ehe der Institutsgarantie des Art. 6 GG unterliegt. Ich bin gespannt, ob und wann sich das in der Kommentarliteratur niederschlägt.

Besonders erfreulich ist, dass mit der zitierten Entscheidung vom 1. Februar eine -von mir vermutete- Strategie nicht aufging: Durch Verzicht auf eine Klage gegen das Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe sollte eine höchstrichterliche Rechtsprechung verhindert werden, nach der die gleichgeschlechtliche Ehe ebenfalls in den Institutionsschutz des Art. 6 Abs. 1 GG fällt. Zu einer Klage gegen das Gesetz war es nicht gekommen, selbst Bayern hatte verzichtet. .

Doch diese Verhinderungsstrategie ist nicht aufgegangen. Denn die Leitsatzformulierung (siehe oben) lässt gerade weg, dass es sich bei der Ehe im Sinne des GG um eine „rechtlich verbindliche, im Grundsatz auf Dauer angelegte, auf freiem Entschluss beruhende, in besonderer Weise mit gegenseitigen Einstandspflichten einhergehende, gleichberechtigt und autonom ausgestaltete Lebensgemeinschaft“ zwischen Mann und Frau handeln muss, „die durch einen formalisierten, nach außen erkennbaren Akt begründet wird“.

Durch die Weglassung von „zwischen Mann und Frau“ ist die Ehe nach dem Grundgesetz, soweit sie die genannten Bedingungen erfüllt, nun auch höchstrichterlich anerkannt, wenn sie zwischen Menschen des gleichen Geschlechts geschlossen wird.

Durch die Anerkennung der Ehe zwischen Menschen gleichen Geschlechts durch das BVerfG ist sie nicht mehr so einfach abschaffbar – denn sie unterliegt jetzt der Institutsgarantie des Art. 6 GG. Ein guter Tag für das GG und die Bundesrepublik.

One Reply to “Von der verfassungsrechtlichen Duldung zur verfassungsrechtlichen Anerkennung – Ehe für Alle”

  1. Es ist interessant wen man in den ganz alten Beiträgen noch in den Kommentaren findet.

    Weiß man ob Bernd Kudanek noch lebt?
    Ich hatte vor sehr langer Zeit Kontakt mit ihm und wir hatten gemeinsame Bekannte.

    In seinem carookee Forum gibt es noch schwache Lebenszeichen von 2021

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