Reise durch das Europäischen Haftbefehlsrecht

Manchmal ist das ja so eine Sache. Jahrelang finde ich ein Thema überhaupt nicht spannend und dann beschäftige ich mich mit ihm und fange Feuer. Da kann es dann gar nicht genug zu lesen zum Thema geben. So ist das gerade mit dem Europäischen Haftbefehl.

Gestern habe ich diesen Blogbeitrag geschrieben und heute morgen beim Frühstück diesen sachlichen und informativen Beitrag zum Europäischen Haftbefehl und Puidgemont gefunden. Und dieser Beitrag ist der Grund, warum ich mich heute noch einmal auf die Reise durch das Europäische Haftbefehlsrecht gemacht habe. Um am Ende lauter Fragen zu haben.

Nach dem zitierten Blogbeitrag wurde bereits im November 2017 von einer Richterin ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt, wegen Rebellion, Auflehnung und Haushaltsuntreue. Nachdem Puidgemont in Belgien war, hob der Oberste Gerichtshof Spaniens den Europäischen Haftbefehl wieder auf. Es wird vermutet, dass dies vor dem Hintergrund von Anzeichen geschah, nach denen „die belgischen Gerichte eine Auslieferung wegen Rebellion und Auflehnung ablehnen und sie nur für Haushaltsuntreue bewilligen würden„. Am letzten Mittwoch soll Anklage (Rebellion, Ungehorsam, Haushaltsuntreue) erhoben worden sein, woraufhin erneut ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wurde. Mich machte stutzig, dass es offensichtlich möglich ist einen Europäischen Haftbefehl auszustellen, dann wieder zurückzuziehen, um schließlich erneut einen auszustellen.

Mich verwundert dies, denn beim Europäischen Haftbefehl handelt es sich um ein Fahndungsinstrument, gleichzeitig handelt es sich um ein Auslieferungsersuchen (vgl. Krauß in Graf, StPO, § 112, Rdn. 55). Bei meiner langen Suche wurde ich im Europäischen Haftbefehlsrecht aber nicht fündig, so dass ich davon ausgehe, dass insoweit spanisches Recht gilt. Dafür gab es bei der Reise auf der Suche nach der rechtlichen Möglichkeit für „Haftbefehl ausstellen, Haftbefehl kassieren, Haftbefehl neu ausstellen“ andere interessante Entdeckungen.

Der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl hat durchaus spannende Erwägungsgründe. Erwägungsgrund 10 S. 2 des Rahmenbeschlusses 2002 besagt:

„Die Anwendung dieses Mechanismus darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“

Das ist vielleicht eher was für die Diplomaten*innen. Erwägungsgrund 12 könnte aber für die Rechtsanwender*innen spannend sein.

„Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihrer (…) politischen Überzeugung (…) erlassen wurde (…).“

Ich finde ja, dass der Erwägungsgrund 12 eine ganz gute Ergänzung zum Art. 4 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses ist. Nach diesem kann die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung verweigern,

wenn in einem der in Artikel 2 Absatz 4 genannten Fälle die Handlung, aufgrund deren der Europäische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt; (…)“ 

Der Rahmenbeschluss wurde 2009 geändert, was  allerdings keine gravierenden Änderungen mit sich brachte. Um aber hier keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Für die Frage, wie mit Erwägungsgrund 12 und Art. 4 Abs. 1 Rahmenbeschluss umgegangen wird, sind allein das zuständige Oberlandesgericht  und die zuständige Staatsanwaltschaft bein Oberlandesgericht in Schleswig-Holstein zuständig (vgl. § 14 IRG). Aus der Geschichte des Europäischen Haftbefehls ergibt sich ganz klar, dass über die konkrete Umsetzung eines Europäischen Haftbefehls allein Gerichte und Staatsanwaltschaften, keine Ministerien oder Regierungen entscheiden sollen. Das ist aus meiner Sicht auch richtig so, denn die Unabhängigkeit der Justiz ist in einer Demokratie ein hoher Wert. Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, in der je nach politischer Opportunität Recht angewendet wird oder nicht.

Aber weiter auf der Reise durch das Europäische Haftbefehlsrecht. Nachdem die Suche im Rahmenbeschluss vergeblich war, versuchte ich es noch einmal mit dem Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG), welches ja mit den §§ 78 ff. den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl umsetzt. Mit Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie zum Europäischen Haftbefehl gibt es eine „grundsätzliche Pflicht zur Auslieferung bei Vorliegen eines Europäischen Haftbefehls„(Inhofer in Graf, § 79 IRG, Rdn. 1), nur in den Fällen der §§ 80, 81, 83 und 83b IRG darf die Auslieferung abgelehnt werden. Schließlich ist eine Ablehnung auch wegen Verstoßes gegen die EU-Grundrechtecharta und die EMRK möglich. Aber ich stieß auf den § 83h IRG (danke für die Nachfrage Herr Jalass!). Der § 83h Abs. 1 Nr. 1 IRG kann nämlich eine ganz entscheidende Norm sein.

Von einem Mitgliedstaat aufgrund eines Europäischen Haftbefehls übergebene Personen dürfen wegen einer vor der Übergabe begangenen anderen Tat als derjenigen, die der Übergabe zugrunde liegt, weder verfolgt noch verurteilt noch einer freiheitsentziehenden Maßnahme unterworfen werden.

Mal angenommen, die Entscheidung von Staatsanwaltschaft und Gericht lautet auf Auslieferung und im Fall Puidgemont würde sie das allein auf das Delikt mit dem gerinsten Strafmaß stützen, dann wären aus meiner Sicht die Behörden in Spanien daran gebunden. So steht es auch in Art. 27 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses, der allerdings in Abs. 3 wiederum Ausnahmen dazu vorsieht. Diese dürften im Fall Puidgemont aber nicht vorliegen.

Da meine Reise nun aber auch hier keine Lösung brachte, schaute ich bei der Debatte im Bundestag zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses aus dem Juni 2006 nach. Das half aber auch nicht weiter. Ich stieß lediglich auf eine  grundsätzliche Kritik am Rahmenbeschluss  in der zu Protokoll gegebenen Rede von W. Neskovic:

„Es ist weiterhin äußerst fraglich, ob die mit dem Rahmenbeschluss geschaffenen Eingriffe in die Freiheitsrechte der Bürger mit dem Legalitätsprinzip in Strafsachen vereinbar sind. Hier wird ein europäisches Strafrecht durch die Hintertür des Prozessrechtes eingeführt. Wer ein europäisches Strafrecht will, muss es so nennen und dafür Mehrheiten gewinnen.“

Allerdings wurde seine Hoffnung, dass der Europäische Gerichtshof den Rahmenbeschluss beerdigt, nicht erfüllt.

Ich versuchte es mit den Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt). Peinlich für mich, aber ich hatte das vorher noch nie gehört. Aber außer dem Hinweis auf besondere Berichtspflichten in § 161 gibt auch das nicht viel her.

Am Ende blieb noch das Handbuch der Kommission zum Europäischen Haftbefehl. Zunächst bietet das Handbuch allen Interessierten eine schöne und leicht verständliche bildliche Darstellung des Verfahrens auf den ersten Seiten. Viel weiter hinten gab es dann doch noch fast etwas zu meiner Ausgangsfrage. Unter 5.10.1. heißt es:

„Gegen dieselbe Person können wegen derselben Handlung (…)  mehrere EuHBe vorliegen, die von den Behörden eines oder mehrerer Mitgliedstaaten ausgestellt wurden.“
Als Rechtsgrundlage wird im Handbuch der Art. 16 des Rahmenbeschlusses angegeben, in dessen Abs. 1 ist aber von „zwei oder mehr Mitgliedstaaten“ die Rede. Nach dem Handbuch ist es möglich, dass ein Mitgliedstaat mehrere Europäische Haftbefehle gegen eine Person wegen desselben Tatvorwurfs ausstellt, obwohl ich die Rechtsgrundlage dafür im Rahmenbeschluss nicht gefunden habe. Unter 10.3. wiederum findet sich der Hinweis, dass der Rahmenbeschluss nicht bestimmt, „dass ein EuHB, dessen Vollstreckung von einem Mitgliedstaat abgelehnt wurde, aufzubehebn ist; er könnte noch von anderen Mitgliedsstaaten vollstreckt werden„. Das wiederum ist mir nicht ganz einsichtig, wenn es doch um die gegenseitige Anerkennung geht.  Wie das mit dem Ausstellen, Zurückziehen und erneut Ausstellen eines Europäischen Haftbefehls ist, das wird aber am Ende auch hier nicht aufgeklärt.

Damit war meine Reise durch das Europäische Haftbefehlsrecht beendet. Meine Frage ist nicht beantwortet.  Wenn es keine gemeinsame europäische Grundlage für die Ausstellung, Zurückziehung und Neustellung eines Europäischen Haftbefehls gibt, dann ist die Gefahr vorhanden, den EU-Haftbefehl nach Lust und Laune einzusetzen. Heute stell ich einen Haftbefehl aus, morgen ziehe ich ihn zurück und übermorgen gibt es wieder einen. Das ist aus meiner Sicht  rechtsstaatlich bedenklich und das genaue Gegenteil von dem, was mit dem EU-Haftbefehl eigentlich bezweckt war.

Am Ende meiner Reise stehen lauter neue Fragen: Braucht es ein europäisches Strafrecht? Braucht es eine europäische Strafprozessordnung? Nächstes Jahr sind Europawahlen, vielleicht wäre das ja ein Anlass mal über sowas ergebnisoffen zu diskutieren.

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