Aufräumen

Ich habe Urlaub. Im Urlaub bleibt die Zeit, mal aufzuräumen und über den Tag hinaus zu denken. Beim aufräumen findet man häufig alte Dinge und dann kommen die Erinnerungen. Das passt ganz gut, denn „an früher“ habe ich in letzter Zeit häufig gedacht. Das ist glaube ich immer so, wenn sich die Frage stellt, ob frau selber eigentlich noch dazu gehört oder längst schon draußen ist.

Aus all der Grübelei und angesichts der gefundenen Dinge (Bücher und Broschüren) denke ich immer häufiger es wäre nötig, mal wieder über Geschichte und Politikverständnis (Strategie und Taktik) zu reden. Einfach um zu verstehen, was die einzelnen Mitstreiter:innen geprägt hat. Dabei könnte gegenseitiger Respekt oder wenigstens Verständnis entstehen, statt Abwertung der jeweiligen Biografie. Und vielleicht ist das ja auch eine Möglichkeit zu sehen, wie weit es mit dem gemeinsamen Politikverständnis ist.

Meine politische Sozialisierung beispielsweise fand Anfang der 90er Jahre statt. Es gab ganz viele, selbstquälerische Debatten über den Stalinismus als System als prägende Struktur der Gesellschaft und individuelle Verantwortung. Daraus schlussfolgernd entwickelte sich eine Haltung (ja, manchmal ist auch Haltung wichtig) von Grund- und Freiheitsrechten als Wert an sich und einem Rechtsstaat als Wert an sich. Diese Debatten haben sich ganz tief in meine politische DNA eingebrannt.

Deswegen kann ich mit der Instrumentalisierungen des Rechtsstaates (Wenn ich ein Problem mit einer Rechtsnorm habe muss ich diese ändern und nicht das Gericht kritisieren, welches diese anwendet.) für eigene politische Interessen und Relativierung von Grund- und Freiheitsrechten nichts anfangen. Das schreckt mich eher immer mehr und immer wieder ab. Und deshalb kann ich auch so gar nichts mit die DDR relativierenden Vergleichen anfangen. Es war schon erschütternd für mich, als es bei der letzten Parteiprogrammdebatte um die Frage ging, „Bruch mit dem Stalinismus als System“ oder „Bruch mit dem Stalinismus“. Und eine Haltung „was haben wir denn mit dieser Geschichte zu tun“ schätzt nicht nur die Vorarbeit gering, die nötig war, damit DIE LINKE. überhaupt existieren kann, sie ist vor allem geschichtslos. Wer in eine sozialistische Partei eintritt, der erbt auch das was im Namen des Sozialismus an Verbrechen begangen wurde. Und wer in eine sozialistische Partei eintritt der muss ganz besonders sensibel sein, wenn es um Grund- und Freiheitsrechte geht und um den Rechtsstaat – nicht um anzukommen (auch das ein Begriff aus der Vergangenheit), sondern um uns selber willen.

Aus all diesen Debatten der 90er Jahre hat sich bei mir auch ein Politikverständnis entwickelt, welches immer aus einem Dreiklang bestand: Gesellschaftsverändernde Idee (1), Umsetzungsperspektive und Untersetzung (2) sowie außerparlamentarische Unterstützung (3.).

Ich konnte und kann nichts damit anfangen, wenn eine Parole in den Raum gebrüllt wird oder zum siebzehnten Mal ein Bekenntnisbeschluss auf einem Parteitag gefasst wird – es aber weder eine Untersetzung der Parole/des Bekenntnisses noch eine Umsetzungsperspektive, also Strategie und Taktik zur Erreichung des Ziels, gibt. Wenn der Klick unter einem Post oder einem Bild mehr zählt als die -manchmal auch nicht pressewirksame- Arbeit am und im Detail, dann ist das diametral zu meinem Politikverständnis.

Und ich finde Bewegung und Initiativen, also das außerparlamentarische Spektrum, wichtig. Ohne sie kein (notwendiger) Druck auf (auch eigenes) Regierungshandeln für gesellschaftliche Veränderungen. Aber eine Partei, die eine Bewegung imitiert funktioniert nicht. Denn Partei und Bewegung haben unterschiedliche Aufgaben und unterschiedliche Rollen. Eine Bewegung braucht nicht zwingend eine Umsetzungsperspektive (schon gar nicht eine im Parlament), eine Bewegung braucht nicht zwingend eine Untersetzung und eine Bewegung organisiert sich meist um ein Thema herum.

Eine Partei muss aus meiner Sicht einen Gesamtblick auf die Gesellschaft haben, sie braucht eine Umsetzungsperspektive und eine Untersetzung der Vorschläge. Eine Partei muss aus meiner Sicht damit umgehen, wenn die ihr nahestehende eine Bewegung das eine fordert und die ihr nahestehende andere Bewegung das genaue Gegenteil verlangt. Zum Beispiel fordern die einen aus sehr berechtigten Gründen die sofortige Schließung eines Tagebaus und die anderen aus ebenso berechtigten Gründen den Erhalt von Arbeitsplätzen. An welcher Seite der Bewegung steht dann eine Partei? Und wenn die Einwohner:innen eines Gebietes auf der einen Seite die Durchwegung eines Parks fordern und die anderen Einwohner:innen den Bau einer dringend notwendigen Schule, die aber die Durchwegung verhindert.

Vielleicht hat sich dieses Politikverständnis überlebt. Vielleicht bin ich aus der Zeit gefallen. Dann ist das so. Aber ich glaube halt immer noch, dass es des Dreiklangs aus gesellschaftsverändernder Idee, Umsetzungsperspektive mit Untersetzung der Idee und außerparlamentarischer Unterstützung bedarf, um längerfristig Glaubwürdigkeit zu erringen und Menschen zu überzeugen.

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