Grundrechte, Solidarität und Impfung

Derzeit ist die Frage von Grundrechten geimpfter Personen noch eine rechtstheoretische Frage. Sie kann aber sehr schnell eine praktisch relevante Frage werden. Sie wird dann -meines Erachtens aber auch nur dann- praktisch relevant, wenn klar ist, dass von geimpften Personen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht.

Wird nun dieser Fall angenommen, gibt es eigentlich eine ganz klare Formel:

Grundrechte werden nicht jemandem verliehen, Grundrechte verlangen keine Gegenleistung. Grundrechte haben Personen weil sie Personen sind. Als individuelle Rechte.

Deshalb gibt es zum Beispiel aus guten Gründen das aus dem Sozialstaataprinzip abgeleitete und vom Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung anerkannte individuelle Recht auf ein soziokulturelles Existenzminimum. Dazu muss keine Gegenleistung erbracht werden (Wer nicht arbeitet soll auch nicht essen), dieses Recht gibt es qua Existenz. Zum Glück im Übrigen nicht nur für Staatsbürger:innen.

In Grundrechte kann nun grundsetzlich eingegriffen werden, Grundrechte können also eingeschränkt werden, wenn es dafür eine Rechtfertigung gibt. Anders wären die Grundrechte auch gar nicht durchsetzbar, weil ein Grundrecht immer auch auf ein anderes Grundrecht einwirkt. Eine Rechtfertigung für den Eingriff in Grundrechte ist zum Beispiel der Infektionsschutz. Wegen des Infektionsschutzes kann also in Grundrechte dann eingegriffen werden, dies muss aber immer verhältnismäßig sein, d.h. es dürfen keine milderen Mittel zur Verfügung stehen. Nach dem schönen Grundsatz der praktischen Konkordanz sind die verschiedenen betroffen Grundrechte so miteinander in Ausgleich zu bringen, dass nicht ein Grundrecht komplett hinter dem anderen zurücktritt. Deshalb gibt es auch keine Supergrundrechte (nicht mal auf Gesundheit oder Leben). Es gibt die Würde des Menschen, die der zentrale Maßstab ist.

Im Fall, dass von geimpften Personen keine Ansteckungsgefahr mehr ausgeht (und meines Erachtens nur in diesem Fall) kann in deren Grundrechte nicht mehr verhältnismäßig eingegriffen werden mit dem Verweis auf Infektionsschutz. Sie haben keine Privilegien, sie erhalten einfach nur ihre Grundrechte zurück, die wegen des Infektionsschutzes eingeschränkt wurden.

Kießling/Müllman schreiben hierzu ziemlich eindeutig:

„Wer den Erreger nicht weiterverbreiten kann, kann entweder schon auf Tatbestandsseite nicht unter die entsprechenden Normen (beispielsweise § 30 IfSG bei der Quarantäne) subsumiert werden, spätestens im Rahmen des Auswahlermessens jedenfalls müsste der Immunstatus berücksichtigt werden.“ 

Ich stelle gar nicht Abrede, dass diese Grundrechtsdogmatik auf erhebliche Umsetzungsschwierigkeiten in der Praxis stößt, über deren Lösung sich dann vielleicht doch schon jetzt Gedanken gemacht werden sollte. Ich stelle auch nicht in Frage, dass diese Grundrechtsdogmatik in einer kapitalistischen und damit wenig solidarischen Gesellschaft eine gehörige Kraftanstrengung aller bedarf. Denn die Grundrechtsdogmatik weckt Begehrlichkeiten und Neid. Neid auf die geimpften Personen, „die jetzt wieder alles dürfen, während ich noch nicht wieder alles machen darf“. Ich vermute, genau deshalb wird versucht werden, legal oder illegal, früher an Impfungen zu kommen. Ich vermute, der Druck wird größer werden, an den Impfprioritäten noch mal Veränderungen vorzunehmen. Denn schließlich will ja jede:r schnell alle Frieheiten wiederhaben. Hier sollte eine Gesellschaft widerstandsfähig sein. Denn die Menschlichkeit einer Gesellschaft wird sich darin zeigen, wie sie es durchhält zunächst die sog. vulnerablen Gruppen (Nein, das sind nicht nur ältere Menschen, sondern auch Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, chronisch Kranke, Menschen in Gemeinschaftsunterkünften, Menschen mit Vorerkrankungen) und Pflegepersonal sowie diejenigen, die unerlässlich für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens sind, zu impfen. Richtigerweise haben auf Verfassungsblog.de Amahaouach/Huster im Hinblick auf den Neid und Grundrechte ausgeführt:

„Im Rahmen der Gleichheitsdogmatik haben wir jedenfalls reine >Neidklagen<, durch die man seine Situation gar nicht verbessern kann, vernünftigerweise bisher nicht zugelassen. Soll Neidvermeidung jetzt aber als Rechtsgut zugelassen werden, das Freiheitseinschränkungen rechtfertigt? Man mag das nicht zu Ende denken.“

Nachdem nun schon an vielen Stellen im Rahmen der Pandemiebekämpfung mit den Grundrechten sehr biegsam umgegangen wurde, sollte dies nicht auch noch im Umgang mit geimpften Personen der Fall sein. Grundrechte sind nämlich keine Schön-Wetter-Veranstaltung. Und wenn denn irgendwann wirklich mal der § 5 Abs. 2 Nr. 4 und 5 IfSG zur Anwendung kommt, geht es vielleicht auch mit dem impfen schneller.

 

 

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