Das Bundesverfassungsgericht hat gesprochen. Die Bundesrepublik ist ein Land ohne verfassungsgemäßes Wahlrecht und Schuld hat die Koaltion aus Union und FDP.
Die Verfassungsbeschwerde von mehr als 3.000 Bürger/innen (darunter auch ich), koordiniert durch Mehr Demokratie e.V. hat damit Erfolg gehabt. Doch was hat das Bundesverfassungsgericht nun im Detail entschieden und was folgt daraus?
Fangen wir mal mit dem Wahlrecht in Deutschland an sich an. Das Wahlrecht ist eine Verbindung von Personen- und Verhältniswahl. Jede/r Wähler/in hat zwei Stimmen. Mit der ersten Stimme wird eine Person gewählt, mit der zweiten Stimme eine Partei. Entgegen des Wortlautes ist für die Sitzverteilung im Bundestag die zweite Stimme die entscheidende Stimme. Die erste Stimme hat im Grundsatz keine Auswirkung auf die den Parteien zustehenden Mandate. Die Ausnahme ist, wenn eine Partei mehr Direktmandate hat als ihr Mandate nach den Zweitstimmen zustehen. In diesem Fall wird von Überhangmandaten gesprochen. Ein Wechsel im Zuteilungsverfahren der Mandate erfolgte durch die Neuregelung im November letzten Jahres. Es werden demnach zuerst die auf ein Bundesland entfallenden Mandate in Abhängigkeit von der Wähler/innen-Anzahl ermittelt. Dann werden die errungenen Direktmandate abgezogen und die verbleibenden Sitze werden auf die Parteien im jeweiligen Bundesland aufgeteilt. Danach werden Zusatzmandate verteilt (sog. Reststimmenverfahren).
Das Bundesverfassungsgericht hat nun an zwei entscheidenden Stellen das im November letzten Jahres allein von den Regierungskoalitionen verabschiedete Wahlrecht für verfassungswidrig und für nichtig erklärt, eine weitere Regelung wurde für unanwendbar erklärt und die alten ebenfalls verfassungswidrigen Regelungen leben nicht wieder auf.
1) Verfassungswidrig ist die Regelung nach der die einem Bundesland zustehenden Sitze im Bundestag nach der Anzahl der Wähler/innen berechnet werden
Soweit dieses Sitzverteilungsverfahren den Effekt des negativen Stimmgewichts ermöglicht, verstößt es gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie die Chancengleichheit der Parteien. Und diese Regelung ermöglicht den Effekt des negativen Stimmgewichts, wie das Bundesverfassungsgericht schreibt „nicht nur in seltenen, vernachlässigbaren Ausnahmefällen“.
Grundsätzlich -so das Bundesverfassungsgericht- sei die Unterteilung des Wahlgebietes in regionale Wahlkörper (also hier konkret in 16 Bundesländer) weder unter Aspekten demokratischer Repräsentation, noch wegen hinreichender Normenbestimmtheit und auch nicht wegen der praktisch in kleineren Bundesländern deutlich höhreren Sperrklausel verfassungsrechtlich zu beanstanden.
Aus meiner Sicht ist das nicht ganz nachvollziehbar, weist das Bundesverfassungsgericht doch selbsts darauf hin, dass dies dazu führt, dass „die Zahl der Wählerstimmen, die von vornherein ohne Stimmerfolg bleiben, […] notwendig größer“ [wird] und die Wähler/innen-Stimmen im Landesvergleich unterschiedliche Erfolgswerte haben.
Das Bundesverfassungsgericht geht aber davon aus, dass der Effekt des negativen Stimmgewichts „keine zwangsläufige Folge einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl in Listenwahlkreisen“ ist. Der Gesetzgeber könne den Ursachenzusammenhang des Effektes des negativen Stimmgewichts innerhalb des Systems unterbinden, „indem er zur Bemessung der Ländersitzkontingente statt der Wählerzahl die Zahl der Bevölkerung oder der Wahlberechtigten heranzieht.“ Ich erlaube mir die Anmerkung, dass dies dann aber wohl bedeuten würde, dass nicht die Bundesländer die Listenwahlkreise sein können, denn die Anzahl der Wahlberechtigten ist da nicht annähernd gleich groß.
2) Verfassungswidrig ist auch das sog. Reststimmenverfahren.
Hier hat das Bundesverfassungsgericht eine Verstoß gegen die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit der Parteien gesehen.
Soweit das Bundesverfassungsgericht der Regelung des Reststimmenverfahrens nach § 6 Abs. 2a BWG bescheinigt, der Grundsatz der Normenbestimmtheit sei gewahrt, kann ich das nur verwundert zu Kenntnis nehmen und es als Großzügigkeit des Bundesverfassungsgerichtes interpretieren.
Das Bundesverfassungsgericht kritisiert an dieser Regelung, dass an der Vergabe der Mandate im Reststimmenverfahren „nicht jeder Wähler mit gleichen Erfolgschancen mitwirken“ kann. Denn bereits bei der eigentlichen Mandatsverteilung werden alle gültigen Zweitstimmen berücksichtigt, am Reststimmenverfahren wird aber nur einem „gleichheitswidrig abgegrenztem Teil der Wählerstimmen eine weitere Chance auf Mandatswirksamkeit“ eingeräumt.
Das Bundesverfassungsgericht sieht eine Ausgleichsmöglichkeit der Rundungsabweichungen nach der eigentlichen Mandatsvergabe darin, dass Abrundungsverluste und Aufrundungsgewinne aufsummiert und dann verrechnet werden.
Das Reststimmenverfahren könne auch nicht dadurch gerechtfertigt werden, dasss die faktische Sperrwirkung in kleineren Ländern damit kompensiert werde. Gerade das mache die Regelung nämlich nicht, die Zusatmandate werden gerade nicht an dieses Länder verteilt.
3) Die getroffene Regelung zu den Überhangmandaten ist nicht anwendbar.
Das Bundesverfassungsgericht sah hier durch den Umfang der anfallenden ausgleichslosen Überhangmandate den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl aufgehoben. Dies sei erreicht, wenn „die Zahl der Überhangmandate etwa die Hälfte der für die Bildung einer Fraktion erforderlichen Zahl von Abgeordneten überschreitet“. Das Bundesverfassungsgericht selbst meint 15 Überhangmandate seien gerechtfertigt. Die Zahl kann „als Akt richterlicher Normkonkretisierung nicht vollständig begründet werden“ fügt es hinzu.
Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass das Wahlsystem den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt. Richtigerweise geht es davon aus, dass die „Zuteilung von Überhangmandaten ohne Ausgleich oder Verrechnung […] Wählerstimmen im Sitzzuteilungsverfahren ungleich“ behandelt. Die Chancengleichheit der Parteien sei nur gewahrt, wenn jede Partei „annähernd dieselbe Stimmzahl benötigt, um ein Mandat zu erringen“.
Das Bundesverfassungsgericht sieht allerdings die ungleiche Behandlung der Wähler/innen-Stimmen als grundsätzlich durch die personalisierten Verhältniswahl als gerechtfertigt an. Das ist nun aber nicht überzeugend, denn das Bundesverfassungsgericht sagt nichts anderes als: dieses Wahlsystem bringt das Problem mit sich, aber weil es dieses Wahlsystem ist, ist es gerechtfertigt. Es wirkt dann auch ein wenig bemüht (wenn auch in der Sache zutreffend), wenn das Bundesverfassungsgericht meint, das Erfordernis eines föderalen Proporzes zwischen den Landlisten rechtfertige die ausgleichslosen Überhangmandate nicht. Auch das Argument diese Mandate dienen der Mehrheitssicherung sei kein Rechtfertigungsgrund meint das Bundesverfassungsgericht. Hier fehle es am Kausalzusammenhang.
Konsequent und in meinen Augen richtig wäre es gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht aus den von ihm selbst genannten Gründen (Ungleichbehandlung von Wähler/innen-Stimmen) gesagt hätte, das Überhangmandate überhaupt nur akzeptabel sind, wenn sie ausgeglichen werden. Das Bundesverfassungsgericht gibt dem Gesetzgeber aber folgendes mit auf den Weg: „Es ist in erster Linie Sache des Gesetzgebers, die Zahl der hinnehmbaren Überhangmandate festzulegen und zu regeln, wie mit den die gesetzliche Grenze überschreitenden Überhangmandaten zu verfahren ist, sowie, sollte eine derartige Regelung nicht gefunden werden, Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge zu fassen“. Hier erscheint mir aber wichtig darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht richtigerweise darauf hingewiesen hat, dass das Ziel der personalisierten Verhältniswahl „nur verwirklicht werden [kann], wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach dem Proporz ermittelt Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei nicht ausreicht“. Die Nichteinhaltung dieser Vorgabe ist nämlich genau das Problem am sonst gelungenen Gesetzentwurf zum Wahlrecht von Bündnis 90/Die Grünen, dem wir als LINKE im Bundestag genau deshalb nicht zustimmen konnten.
Bedauerlich am Urteil ist, dass die 5%-Hürde vom Bundesverfassungsgericht nicht in Frage gestellt wird. Im Gegenteil im Urteil heißt es: „Das […] Quorum von fünf vom Hundert der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Zweitstimmen, das eine Partei erreichen muss, um bei der Verteilung der Bundestagssitze auf die Landeslisten berücksichtigt zu werden, hat das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung als verfassungskonform beurteilt.“
Was folgt nun aus allem? Schnellstmöglich muss eine Regelung geschaffen werden, damit eine verfassungsgemäße Bundestagswahl stattfinden kann. Denn im Moment gibt es kein Wahlrecht auf dessen Grundlage eine Bundestagswahl stattfinden könnte. Die alten Regelungen sind ebenso verfassungswidrig wie die im November letzten Jahres beschlossenen. Das Problem wäre einfach zu lösen. Der Gesetzentwurf der LINKEN müsste einfach nur angenommen werden. Danach werden die Mandate (wie vor der Neuregelung) auf die Parteien bundesweit verteilt, davon die gewonnenen Direktmandate abgezogen und dann die verbleibenden Mandate auf die Länder verteilt. Das schließt negatives Stimmgewicht komplett aus und Überhangmandate fast. Sollten Überhangmandate dennoch entstehen, werden diese auch auf der Bundesebene verrechnet.
Der Bundestag könnte aber auch meinen Lieblingshalbsatz aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aufgreifen. „Altenativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge fassen.“ Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt, dass der Gesetzgeber entscheiden kann, ob er das Wahlrecht als Mehrheits- oder Verhältniswahlrecht ausgestaltet oder eine Kombination von beidem macht. Ich plädiere für eine Umstellung des Zweistimmenwahlrechts auf ein Einstimmenwahlrecht im Rahmen der reinen Verhältniswahl wie folgt:
Es treten nur Landeslisten einer Partei an, Direktkandidaturen gibt es nicht mehr. Allerdings soll den Wähler/innen ein Einfluss auf die Landeslisten ermöglicht werden. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass sie drei Stimmen bekommen, die sie panaschieren können. D.h. die Wähler/innen können entweder
a) ein Kreuz bei einer Partei machen, dann erhalten die ersten drei Personen auf der Landesliste jeweils eine Stimme oder
b) innerhalb einer Landesliste einer Partei drei verschiedenen Personen eine Stimme geben (zum Beispiel Listenplatz 1, 3, 5) oder
c) innerhalb verschiedener Landeslisten bis zu drei Personen jeweils eine Stimme geben (zum Beispiel: Listenplatz 1 der Partei X, Listenplatz 3 der Partei Y und Listenplatz 5 der Partei Z).
Warum nicht einfach das Bundesverfassungsgericht aufgreifen und tatsächlich Alternativen zum geltenden Wahlsystem ins Auge fassen?
Das ganze hat schon was von Theaterdonner.
Selbst wenn man ein „reines“ Verhältniswahlrecht bei der letzten Bundestagswahl angewandt hätte, wäre nicht viel anderes herausgekommen – mit 5-Prozent-Sperrklausel eine Mehrheit für schwarz/gelb, ohne dieser eine Mehrheit für eine große Koalition. Glaubt ernsthaft jemand, dass eine Fortsetzung der letzten großen Koalition einen großen Unterschied gegenüber dem, was wir seit 2009 erleben dürfen, ausgemacht hätte?
Solange es nicht zu grundlegenden, demokratischen Umwälzungen in diesem Land kommt, wozu vor allem gehören würde, dass im Bundestag und nicht in Konzernzentralen über die Geschicke des Landes bestimmt wird, sind die Bemühungen für „verfassungsgemäße“ Wahlen nicht viel mehr als Spiegelfechterei.
Mit welchem „Wahlrecht“ auch immer:
Es ist kein Zufall, dass das Behältnis, in dem der Stimmzettel des achsomündigen Wählers endet, ausgerechnet als Urne bezeichnet wird. Requiescat in Pace.