Launige Kommentierung Koalitionsvertrag

Koalitionsverträge objektiv zu bewerten ist schlicht unmöglich. Denn die Bewertung hängt immer von der Ausgangsposition ab.

Eine Bewertung anhand der jeweiligen Wahlprogramme muss immer negativ enden, denn ein Koalitionsvertrag ist immer ein Kompromiss von mindestens zwei Parteien mit unterschiedlichen Positionen.

Eine Bewertung auf der Grundlage des Wahlprogramms einer konkurrierenden demokratischen Partei muss immer negativ enden, denn die entsprechende Partei saß nicht mit am Verhandlungstisch, ihre Position konnte gar nicht mitverhandelt werden.

Eine Bewertung anhand objektiver gesellschaftlicher Herausforderungen (Stichwort Klimawandel und Klimawandelfolgen) wäre sinnvoll, setzt aber voraus, dass es einen gesellschaftlichen Konsens über gesellschaftliche Herausforderungen gibt.

Eine Bewertung vor dem Hintergrund, was politisch mehrheitsfähige Alternativen wären, ist sinnvoll, denn die Option anderer politischer Mehrheiten erhöht den politischen Druck auf den/die jeweilige Verhandlungspartner/in.

Eine Bewertung eines Koalitionsvertrages nach klaren Verabredungen („werden“) und losen Versprechungen („wollen“ oder „prüfen“) erleichtert die Abrechenbarkeit, was eine Koalition umgesetzt hat.

Eine Bewertung eines Koalitionsvertrages spiegelt immer die subjektive Sicht und subjektive Erwartungshaltung an politisches Handeln wider.

Meine etwas launige Bewertung abstrahiert von Wahlprogrammen jeglicher Parteien. Dass die Opposition den Koalitionsvertrag doof findet und die Koalitionsparteien toll/annehmbar ist so langweilig wie wenig überraschend. Die von mir bewerteten Aussagen sind rein subjektiv gewählt, weil sie in der politischen Debatte sind oder ich sie persönlich für relevant halte.

Die objektive Ausgangslage ist: Eine Koalition braucht im Bundestag eine Mehrheit von 331 Mandaten. Eine solche Mehrheit haben SPD und Union, Union und AfD sowie Union und Grüne und Linke. Im Koalitionsvertrag 2025 enthalten ist, dass sich die koalierenden Parteien sich als solche der „politischen Mitte“ verstehen.

 

Finanzen

Eine Vermögenssteuer, eine höhere Einkommenssteuer auf große Einkommen und eine Erhöhung der Erbschaftssteuer findet sich im Koalitionsvertrag nicht. Angesichts der Position der CDU nicht verwunderlich. Die SPD konnte nicht einmal mit einer anderen Mehrheit drohen. Das Ergebnis ist nicht schön, aber auch keine Überraschung.

Im Koalitionsvertrag verabredet ist „eine Expertenkommission unter Beteiligung des Deutschen Bundestages und der Länder“, „die einen Vorschlag für eine Modernisierung der Schuldenbremse entwickelt, die dauerhaft zusätzliche Investitionen“ ermöglicht. Da die Gesetzgebung bis Ende 2025 abgeschlossen sein soll, stellt sich die Frage, ob das ernst gemeint ist. Wenn ein Gesetzgebungsverfahren bis Ende 2025 abgeschlossen sein soll, verlangt das nicht nur zwei Lesungen im Bundestag, sondern es muss auch Zeit für den eventuell nötigen Vermittlungsausschuss eingeplant werden. Der Gesetzgebungsvorschlag müsste für eine seriöse Beratung wohl spätestens im September in erster Lesung behandelt werden. Das ist dann schon ganz schön ambitioniert.

Der entscheidende Satz zum Thema Finanzen steht in Zeilennummer 1627: „Alle Maßnahmen stehen unter Finanzierungsvorbehalt“. Da frage ich mich, warum der Koalitionsvertrag so lang und zum Teil detailliert ist. Offensichtlich ist er jedenfalls nicht durchgerechnet, denn sonst wäre der Satz ja sinnlos.

Der Koalitionsvertrag enthält auch Ausführungen zum Sondervermögen. Und sicherlich nur zufällig fehlt in der Aufzählung, wofür das Sondervermögen genutzt wird (Krankenhäuser, Schulen, Brücken und Schienen) ganz zufällig Klimaschutz und Klimaanpassung. Klimaschutz scheint tatsächlich als Hobby der Grünen angesehen zu werden. Da ist es dann auch normal, dass die vereinbarten 100 Milliarden Euro für den Klima- und Transformationsfonds „schrittweise“ zugeführt werden. Dieses schrittweise heißt dann “jedes Jahr (…) rund zehn Milliarden Euro“. Damit wird diese Koalition also statt 100 Milliarden Euro lediglich 40 Milliarden Euro in den Klima- und Transformationsfonds geben. So war das wohl eigentlich nicht gedacht und die Mittel wären auch dringend schneller erforderlich. Auch hier muss allerdings berücksichtigt werden, was schon zu den Steuereinnahmeoptionen geschrieben steht – es saß offensichtlich Niemand am Verhandlungstisch, dem das so wichtig gewesen ist.

Die Haushaltskonsolidierung soll unter anderem durch die Kürzung bei den freiwilligen Beiträgen zu internationalen Organisationen und Einsparungen beim Bürgergeld stattfinden. Angesichts der Nutzung fehlender Einnahmeoptionen (siehe weiter oben) ist das auch ein politisches Statement. Eine steuerliche Entlastung wird es für Gastronomie (Umsatzsteuer auf sieben Prozent abgesenkt) und Bäuerinnen und Bauern mit Trecker (Agrardiesel-Rückvergütung vollständig wieder eingeführt) geben.

 

Klima

Angesichts mancher Töne im Wahlkampf könnte fast aufgeatmet werden, wenn im Koalitionsvertrag ein Bekenntnis „zu den deutschen und europäischen Klimazielen“ steht und das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 in Deutschland verfolgt wird.

Das Ziel der Koalition „sind dauerhaft niedrige und planbare, international wettbewerbsfähige Energiekosten“. Ich würde jetzt einen Plan zum Ausbau der erneuerbaren Energien erwarten, vielleicht auch etwas zum Thema „wie wird geheizt“, aber zunächst wird angekündigt „umgehend nach Beginn der Wahlperiode ein Gesetzespaket“ zu beschließen, „dass die Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS) insbesondere für schwer vermeidbare Emissionen des Industriesektors und für Gaskraftwerke ermöglicht.“ An den beschlossenen Ausstiegspfaden für die Braunkohleverstromung bis spätestens 2038 wird festgehalten, das war ja alles andere als sicher angesichts mancher Äußerungen aus der Union. An anderer Stelle wird dann immerhin im Koalitionsvertrag verankert, dass „alle Potenziale der Erneuerbaren Energien“ genutzt werden sollen. Wie bei einer vermutlichen Kanzlerwahl Anfang Mai 2025 ein Monitoring in Auftrag gegeben werden soll, mit dem „bis zur Sommerpause 2025 der zu erwartende Strombedarf sowie der Stand der Versorgungssicherheit, des Netzausbaus, des Ausbaus der Erneuerbaren Energien, der Digitalisierung und des Wasserstoffhochlaufs als eine Grundlage der weiteren Arbeit überprüft“ werden soll, ist mir schleierhaft. Manchmal wären realistische Angaben sinnvoller. Schließlich sollen Unternehmen und Verbraucher in Deutschland dauerhaft „um mindestens fünf Cent pro kWh“ entlastet werden. Die Stromsteuer wird auf das europäische Mindestmaß gesenkt und die Umlagen und Netzentgelte reduziert, die Gasspeicherumlage wird für alle abgeschafft.

Erfreulich ist, dass nicht mehr streitig zu sein scheint, dass Innenstädte und soziale Infrastruktur dem Klimawandel angepasst werden müssen. Aber bei dieser Allgemeinheit bleibt es dann auch. Gleiches gilt für die Erwähnung, es sollen Anreize für einfaches, klimafreundliches und kostenreduziertes Bauen geschaffen werden. Das Thema Klimaziele und Gebäudesektor scheint angekommen zu sein. Das ist nicht nichts. Das danach kommt: „Wir werden das Heizungsgesetz abschaffen“ lässt nur den Kopf schütteln. Es gibt kein Heizungsgesetz, die Abschaffung des Gebäudeenergiegesetzes ist das Gegenteil von sinnvoll. Aber das soll ja auch nicht abgeschafft werden, sondern „technologieoffener“. Der spannende Punkt wäre nun, was das konkret heißt, aber dafür muss sich wohl noch ein wenig geduldet werden, klar ist nur, die „erreichbare CO2-Vermeidung soll zur zentralen Steuerungsgröße werden“. Vielleicht heißt das am Ende dann doch wieder Wärmepumpe.

Interessant wird sein, wie die neue gesetzliche Grundlage zur Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) aussehen wird, das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz soll jedenfalls für innovative Ansätze wie eine Magnetschwebebahn geöffnet werden. Beruhigend ist, dass das Deutschland-Ticket über 2025 hinaus fortgesetzt wird, beunruhigend hingegen, dass es ab 2029 schrittweise und sozialverträglich erhöht werden soll. Aber 2029 ist ein Wahljahr, vielleicht überlegt es sich die Koalition noch mal.

 

Soziales

Die Bestandsaufnahme, dass viele soziale Leistungen „unzureichend aufeinander abgestimmt“ sind, ist zutreffend. Der Befund könnte noch ergänzt werden, dass sie den vielfältigen Lebens- und Familienmodellen häufig nicht gerecht werden. Grundsätzlich ist der Ansatz „Leistungen zusammenfassen und besser aufeinander abstimmen“ zu wollen deshalb begrüßenswert.

Es dürfte spannend werden, was die einzusetzende „Kommission zur Sozialstaatsreform“ bereits im vierten Quartal an Ergebnissen präsentieren wird. Die Kommission würde nur ein halbes Jahr arbeiten können, ich bin mir nicht sicher, ob das zu seriösen Ergebnissen führen kann.

Auf den ersten Blick hört sich sicherlich gut an, wenn in den Bereichen der Sozialgesetzen Praxis-Checks durchgeführt und Berichtspflichten und Datenerhebungen weitestmöglich reduziert werden. Auf den zweiten Blick können dann aber Kampagnen wie die zu angeblichen Totalverweiger/innen beim SGB II nicht mehr oder deutlich schwieriger mit Fakten widerlegt werden.

Ganz wesentlich auf dieser genannten Kampagne beruht auch die Aussage, dass das „bisherige Bürgergeldsystem“ umgestaltet wird „zu einer neuen Grundsicherung für Arbeitssuchende“. Es scheint als wird dies das zentrale sozialpolitische Vorhaben der Koalition. Das Ergebnis überrascht nicht, verstehen sich doch beide Koalitionspartner als Parteien der Mitte, welche die „hart arbeitende Bevölkerung“ im Blick haben und dort hat die genannte Kampagne verfangen. Nach dem Koalitionsvertrag muss sich jede „arbeitslose Person“ aktiv um Beschäftigung bemühen. Da steht nicht „arbeitsfähige“ Person, es steht explizit „arbeitslose Person“. Sicherlich kein Versehen. Das bedeutet, dass auf physische und psychische Erkrankungen ebensowenig Rücksicht genommen werden muss, wie auf persönliche Lebensumstände (Alleinerziehend, Pflegend). Damit zusammenhängend werden Mitwirkungspflichten im Sinne des Prinzips Fördern und Fordern verschärft. „Sanktionen müssen schneller, einfacher und unbürokratischer durchgesetzt werden können.“ Die Folge: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen. Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten.“ Auf einem der sozialen Netzwerke las ich den völlig zutreffenden Satz, dass diese beiden Sätze nicht zusammengehen. Zu den direkten Sanktionen kommen noch indirekte, denn nichts anderes ist die Abschaffung der Karenzzeit für Vermögen. Das bedeutet zum Beispiel für Menschen die als Selbständige tätig sind und wegen fehlender Aufträge zeitlich befristet die neue Grundsicherung für Arbeitssuchende in Anspruch nehmen, keine Karenzzeit für Vermögen mehr vorhanden ist.  Der/Die hart arbeitende Selbständige freut sich sicherlich sehr, dass sein/ihr Vermögen sofort verbraucht werden muss, wenn es mal eine Auftragsflaute gibt. Immerhin gibt es noch eine Wohnung, aber wenn die Kosten „unverhältnismäßig“ hoch sind, entfällt dort ebenfalls die Karenzzeit und es kommt ganz schnell die Umzugs- oder Kostensenkungsaufforderung.

Überraschend, weil angesichts vorheriger Äußerungen der Union nicht erwartbar, steht die Koalition zum gesetzlichen Mindestlohn, die Mindestlohnkommission wird sich im Rahmen einer Gesamtabwägung sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren und so soll ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreicht werden. Das ist noch kein Versprechen eines Mindestlohns von 15 Euro, aber eine Richtung, in die es gehen soll. Im Jahr 2026 wird klar sein, ob es wirklich 15 Euro Mindestlohn gibt.

Ratlos lässt mich folgender Satz zurück: „Gebrochene Erwerbsbiografien und Abwanderung gehörten für viele Menschen zu den Folgen des Zusammenbruchs der maroden DDR-Wirtschaft nach 1990.“ Diesem Satz folgt Nichts. Gar Nichts.

Die Mietpreisbremse in angespannten Wohnungsmärkten wird für vier Jahre verlängert, angesichts vorheriger Äußerungen der Union muss das schon fast als Erfolg gewertet werden, was ziemlich bitter ist. Und ob die „Expertengruppe mit Mieter- und Vermieterorganisationen, die Harmonisierung von mietrechtlichen Vorschriften, eine Reform zur Präzisierung der Mietwucher-Vorschrift im Wirtschaftsstrafgesetz und eine Bußgeldbewehrung bei Nichteinhaltung der Mietpreisbremse“ bis 31.12.2026 vorbereiten soll nicht ein Verschiebebahnhof ist, muss sich zeigen. Wenigstens nicht in die verkehrte Richtung geht die Absicht, in angespannten Wohnungsmärkten „möblierte und Kurzzeitvermietungen einer erweiterten Regulierung“ zu unterwerfen, auch wenn im Detail geschaut werden muss, wie das dann aussieht. Was mit der Modernisierungsumlage passiert, bleibt unklar, es soll dafür Sorge getragen werden, „dass zum einen wirtschaftliche Investitionen in die Wohnungsbestände angereizt werden und zum anderen die Bezahlbarkeit der Miete künftig besser als jetzt gewährleistet“ bleibt. Die Umsetzung des Aktionsplans gegen Wohnungslosigkeit sollte eine Selbstverständlichkeit sein und das zur Verhinderung von Obdachlosigkeit die Schonfristzahlung einmalig eine ordentliche Kündigung abwenden können soll ist längst überfällig.

Das Themenfeld Gesundheit kommt erst auf Seite 105. Auf der einen Seite ist das berechtigt, weil die wesentlichen Entscheidungen im Gesundheitswesen auf Grund der Selbstverwaltung nicht von der Politik, sondern vom Gemeinsamen Bundesausschuss und der Kassenärztlichen Vereinigung getroffen werden. Auf der anderen Seite scheint mir die Gesundheitsversorgung dort, wo Politik wirklich was zu entscheiden hat, einen deutlich höheren Stellenwert verdient zu haben. Das reale Problem mit (Fach)Arztterminen will die Koalition lösen („sorgen für einen schnelleren Zugang zu Terminen“), allerdings hat Politik nur bedingt Einfluss auf die Vergabe von Kassenarztsitzen und Vorschriften, welche Termine die Ärzte/innen anbieten. Ich bin neugierig, wie die Koalition die Wartezeiten in der ambulanten Versorgung verringert. Hier steht im Koalitionsvertrag nicht „wollen“, sondern „werden“. Ob das größte Problem wirklich der Facharztbesuch ohne Überweisung von dem/der Hausarzt/Hausärztin ist, wage ich zu bezweifeln, aber das wird sich ja zeigen, wenn zukünftig „auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte in der Hausarztzentrierten Versorgung“ gesetzt wird (Ausnahme Augenheilkunde und Gynäkologie). Und das für Menschen mit „spezifischen schweren chronischen Erkrankungen“ geeignete Lösungen erarbeitet werden lässt die Menschen mit chronischen Erkrankungen, die weder spezifisch noch schwer sind, sicherlich ruhig schlafen. Im Hinblick auf die Ausgaben bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) soll unter anderem die Ausgabendynamik gestoppt werden. Was aber von der GKV bezahlt wird, entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss.  Ein kleiner Hoffnungsschimmer ist die beabsichtigte Stärkung der Versorgung und Forschung im Hinblick auf des myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom, Long- und PostCOVID und PostVac. Eigentlich eine gute Idee ist die Aufarbeitung der Corona-Pandemie im Rahmen einer Enquete-Kommission, insbesondere um daraus Lehren für zukünftige pandemische Ereignisse abzuleiten. Ob dies aber wirklich gelingt, hängt ein wenig davon ab, ob dabei nicht allein vom heutigen Erkenntnisstand aus geurteilt wird, sondern jede Maßnahme vor dem Hintergrund des damaligen Erkenntnisstandes betrachtet wird.

 

Rechtsstaat

Grundsätzlich finde ich den Ansatz richtig, Gesetze und Verordnungen und Regelungen, die nicht gemacht werden müssen, nicht zu machen und Gesetze, die ihren Zweck nicht erfüllen zu streichen. Hier fehlt aber jeglicher Zeithorizont.

Der Koalitionsvertrag holt die Genehmigungsfiktion aus dem Schattendasein, diese soll in Zukunft gelten, „sofern sie nicht spezialgesetzlich ausgeschlossen wird“. Hier müssen die Rechtspolitiker/innen sehr aufmerksam sein, denn die Genehmigungsfiktion kann ziemlich sinnvoll sein, zum Beispiel wenn auf einen Antrag auf Sozialleistungen oder Einbürgerung oder Asyl nicht innerhalb der Frist entschieden wird und der Antrag dann als genehmigt gilt. Sie kann aber auch sehr gefährlich sein, wenn sie nämlich zu Lasten der Bürger/innen ausgestaltet wird, beispielsweise wenn Zweckentfremdung genehmigt werden muss. Insofern wäre aus meiner Sicht hier ein sehr genaues Monitoring angebracht, was mit der Genehmigungsfiktion passiert und zu wessen Gunsten bzw. Lasten sie geregelt wird.

Ob die Zuordnung der Rechtsgebiete Wohngeld, BAföG und Unterhaltsvorschuss zur Zuständigkeit der Sozialgerichtsbarkeit so schlau ist, würde ich einmal hinterfragen. Die Sozialgerichte sind bereits jetzt nicht unterausgelastet und werden so noch weiter belastet.

Ein kleiner Satz mit vielen Fragen findet sich auch: „Der Verbraucherschutz zur Durchsetzung von Mieterrechten für junge Menschen wird gestärkt,“ Was sind Mieterrechte für junge Menschen und wie lange ist ein Mensch jung? Warum wird beim Verbraucherschutz zwischen Jung und Alt unterschieden und wie ist das mit Artikel 3 GG vereinbar?

Im klassischen Justizbereich geht es ganz schön zur Sache, manchmal in einem Absatz sehr widersprüchlich. Da steht, dass der Zugang zum Recht erleichtert werden soll (sinnvoll) und gleichzeitig sollen die Rechtsmittelstreitwerte erhöht und der Zugang zur zweiten Tatsacheninstanz begrenzt werden.

Der Innenbereich ist ein großes Fest für Freunde/innen von Law & Order und eine erwartbare Enttäuschung für Bürgerrechtler/innen. Es kommt eine Speicherpflicht für IP-Adressen und Portnummern, die Bundespolizei erhält zur Bekämpfung schwerer Straftaten die Quellen-TKÜ, unter bestimmten Bedingungen soll einen biometrischen Abgleich mit öffentlich zugänglichen Internetdaten möglich sein. Auch hier muss wieder auf den Anfang verwiesen werden, es saß kein Verhandlungspartner am Tisch, der hier eine Gegenposition eingebracht hätte.

Unter der Überschrift, was interessiert mich Rechtsstaatlichkeit, wenn ich mir die Aufgabe gebe, keine Ausländer/innen ins Land zu lassen wird über die Begrenzung der Migration geschrieben. „Wir werden in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn Zurückweisungen an den gemeinsamen Grenzen auch bei Asylgesuchen vornehmen.“ Medienberichten zufolge musste selbst das mit der Abstimmung mühsam der Union abgerungen werden.  Die Aussage, „alle rechtsstaatlichen Maßnahmen“ zu ergreifen um die irreguläre Migration zu reduzieren“ klingt wie ein Hohn, wenn als nächstes  die Fortsetzung der Grenzkontrollen zu allen deutschen Grenzen bis zu einem funktionierenden Außengrenzschutz und der Erfüllung der bestehenden Dublin- und GEAS-Regelungen durch die Europäische Gemeinschaft genannt wird, die Liste der sicheren Herkunftsstaaten erweitert wird und der Aufenthalt beendet wird, wenn der „ Aufenthalt in Deutschland missbraucht, indem (jemand) hier nicht unerheblich straffällig wird oder gewalttätige Stellvertreterkonflikte auf deutschem Boden austrägt“. Der negative Höhepunkt der angeblichen Rechtsstaatlichkeit der Mittel ist die Abschaffung des „verpflichtend beigestellten Rechtsbeistand vor der Durchsetzung der Abschiebung“. Waffengleichheit im Recht sieht anders aus. Zur bitteren Wahrheit dieses gruseligen Kapitels gehört aber, dass es wohl die Mehrheit, der bei der Bundestagswahl 2025 Wählenden repräsentiert. Das ist das eigentlich erschütternde.

Rechtsstaatlich bedenklich ist auch eine Verquickung von Folgen für ein Handeln, die in keinem Zusammenhang mit diesem Handeln stehen. Unterhaltsschuldner müssen selbstverständlich dazu gebracht werden, ihren Unterhalt zu zahlen, aber der Weg dies „durch härtere Strafen“ zu erreichen, „zum Beispiel durch Führerscheinentzug“ ist dann wohl eher Hilflosigkeit.

 

Infrastruktur

Für die Infrastruktur gibt es das Sondervermögen, das muss bei der Bewertung berücksichtigt werden. Das Planungsrecht wird verändert, für identischen, erweiterten und vollseitigen Ersatzneubau bei Infrastrukturvorhaben soll es eine Ausnahme von der Pflicht eines Planfeststellungsverfahrens geben. Gerade bei Erweiterung wäre doch aber eigentlich sinnvoll noch mal in Ruhe zu schauen, ob sich nicht Rahmenbedingungen verändert haben. Für wesentliche Infrastrukturvorhaben soll es gar einen vorzeitigen Maßnahmenbeginn zur Aufrechterhaltung einer funktionierenden Infrastruktur im laufenden Planverfahren geben. Warum dann aber noch ein Planverfahren stattfindet, ist unlogisch.

Der Wohnungsbau soll angekurbelt werden. Na gut, dass steht vermutlich in jedem Koalitionsvertrag. Immerhin in den ersten 100 Tagen sollen die Vorschriften zum Umwandlungsschutz und die Bestimmung der Gebiete mit angespanntem Wohnungsmarkt um fünf Jahre verlängert werden. Das ist notwendig, aber nicht ausreichend. Der Koalitionsvertrag sieht zudem eine Stärkung des Vorkaufsrechts der Kommunen in Milieuschutzgebieten und bei Schrottimmobilien vor. Neu ist, das wohl 15 EUR Miete pro Quadratmeter als angemessene Miete in angespannten Wohnungsmärkten angesehen werden, denn durch die „Beteiligung des Bundes, zum Beispiel durch Garantien“ sollen die Finanzierungskosten so gesenkt werden, „dass gemeinsam mit der Wohnungswirtschaft in großer Zahl Wohnungen in angespannten Wohnungsmärkten für unter 15 EUR pro Quadratmeter entstehen können“. Bei den Kosten der Unterkunft werden die 15 Euro pro Quadratmeter aber wohl kaum gelten.

Beim Thema Verkehr will die Koalition einen Kreislauf einführen, nachdem Einnahmen dem jeweiligen Verkehrsträger zugutekommen sollen und zudem soll ein „Drei-Säulen-Modell aus Haushaltsmitteln, Nutzerfinanzierung und privatem Kapital (…)  in begrenztem Umfang eingeführt werden. Meine Frage ist, wie die Nutzerfinanzierung bei der Nutzung von Straßenland und Autobahn aussieht.

 

Gesellschaftlicher Zusammenhalt und Vielfalt

Sicherlich gut gemeint, aber schlecht formuliert ist die Passage, nach der die Erhöhung der Erwerbsbeteiligung von Frauen ein entscheidender Faktor zur Fachkräftesicherung ist. Es geht primär bei Erwerbstätigkeit von Frauen um Unabhängigkeit und Emanzipation, wenn das zur Fachkräftesicherung beiträgt, ist das ein sehr sinnvoller Nebeneffekt. So wie es im Koalitionsvertrag steht, werden Frauen nicht als Subjekte mit eigenen Interessen wahrgenommen. Das in diesem Zusammenhang auch „qualifizierte Einwanderung“ genannt wird, macht das Bild dann Rund – Verwertbarkeit steht immer noch an erster Stelle. Immerhin wäre hier eine Option für eine sinnvolle Genehmigungsfiktion gegeben, wenn nämlich ein „einheitliche Anerkennungsverfahren innerhalb von acht Wochen“ von Berufs- und Studienabschlüssen eingeführt werden soll.

Inwieweit es wirklich gelingen wird, die „Schere zwischen der Entlastungswirkung der Kinderfreibeträge und dem Kindergeld schrittweise“ zu verringern wird sich ebenso zeigen, wie die Absicht, durch „eine gesetzliche Regelung“ sicherzustellen, „dass bei einer Erhöhung des Kinderfreibetrags auch eine adäquate Anhebung des Kindergelds erfolgt“ und die „finanzielle Situation von Alleinerziehenden durch Anhebung oder Weiterentwicklung des Alleinerziehenden-Entlastungsbetrags“ zu verbessern. Sinnvoll und richtig ist die Klarstellung, dass häusliche Gewalt eine Kindeswohlgefährdung darstellt und dies zulasten des Gewalttäters im Sorge- und Umgangsrecht maßgeblich zu berücksichtigen ist.

Der Abbau von Hürden für Flüchtlinge bei der Beschäftigungsaufnahme und die Reduzierung der Arbeitsverbote -wenn sie überhaupt gemacht werden- auf maximal drei Monate ist eigentlich eine gute Sache, die aber konterkariert wird, wenn „Asylbewerber aus sicheren Herkunftsstaaten“ und „Dublin-Fälle“ davon ausgenommen werden.

Elektrisiert hat mich der Satz „Der Katalog der gemeinnützigen Zwecke wird modernisiert.“. Noch zu Beginn des Jahres hätte ich diesen Satz ignoriert, aber nach 551 Fragen zur Gemeinnützigkeit seitens der Union verbinde ich mit „modernisiert“ nicht unbedingt eine gute Absicht.

Bedauerlicherweise, wenn auch wenig überraschend, ist das Kapitel zu Migration und Einwanderung ausgrenzend und diskriminierend. Wenig zum gesellschaftlichen Zusammenhalt wird beitragen, wenn die Mär vom „Anreiz, in die Sozialsysteme einzuwandern“ bedient und eine Reduzierung dieses angeblichen Anreizes durch den deutschlandweiten Einsatz der Bezahlkarte erreicht und ihre Umgehung verhindert werden soll. Angesichts mancher Töne aus den Reihen der Union ist es beschämend, dass bei einem Satz wie „Das Grundrecht auf Asyl bleibt unangetastet“ schon fast Erleichterung hervorgerufen wird. Doch die ganzen weiteren Punkte in dem Kapitel bauen auf der angeblichen Einwanderung in die Sozialsysteme auf. Das eine Kampagne, die an niedere Instinkte in Menschen appelliert so erfolgreich ist und leider bei der Mehrheit der Wählenden eine Unterstützung findet, mach die politische Auseinandersetzung nicht einfacher.  Die Begrenzung der Migration soll durch die Wiederaufnahme der „Steuerung“ im Aufenthaltsgesetz gelingen. Was dabei auffällt, wie in der gesellschaftlichen Debatte unterscheidet der Koalitionsvertrag nicht zwischen Flucht/Asyl auf der einen Seite und Migration/Einwanderung auf der anderen Seite, sondern wirft munter alles durcheinander. Die ganze Absurdität dieses Kapitels wird deutlich, wenn sich angeschaut wird, was unter der Überschrift „Legale Zugangswege“ steht: Freiwillige Aufnahmeprogramm beenden, Familiennachzug subsidiär Schutzberechtigter für zwei Jahre aussetzen, zur Steuerung der legalen Zuwanderung und zur Sicherstellung der Rücknahmebereitschaft Migrationsabkommen abschließen, Westbalkan-Regelung für reguläre Migration auf 25.000 Personen begrenzen. Eigentlich wird hier schon gesagt: Sie müssen leider draußen bleiben und so geht es dann unter der Überschrift Begrenzung der Migration weiter (siehe insoweit Rechtsstaat). Die Rücknahme der angeblichen „Turboeinbürgerung“ nach drei Jahren und die Regelung, dass Flüchtlinge mit Aufenthaltsrecht nach der Massenzustrom-Richtlinie, die nach dem 01.04.20253 eingereist sind wieder Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhalten, machen den negativen Eindruck des Kapitels komplett.

Für Betroffene enttäuschend, am Ende wohl aber auch der beschriebenen Mehrheitskonstellation geschuldet, ist das Kapitel zu queerem Leben. Das dieses vor Diskriminierung geschützt werden soll, wäre eigentlich keine Erwähnung wert, aber auch hier waren im Wahlkampf verstörende Töne zu hören, dass durchaus gespannt geschaut werden kann, welche Maßnahmen zur Bewusstseinsschaffung, Sensibilität und zum Zusammenhalt die Koalition ergreifen wird, um klarzumachen, dass „alle Menschen, unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung (…) gleichberechtigt, diskriminierungs- und gewaltfrei leben“ können. Das fehlende Bekenntnis zum Selbstbestimmungsgesetz ist es schon mal nicht. Auch hier scheint mir aber hat eine gesellschaftliche Kampagne verfangen zu haben und die Evaluierung irgendwie eine Beruhigungspille für alle Seiten zu sein.

 

Grundsätzliches

Vielleicht kommt doch irgendwann noch der Punkt, wo Koalitionspartner/innen sich auf 5-10 gemeinsame Projekte einigen und diese in einen Koalitionsvertrag packen. Der Rest regelt sich dann im parlamentarischen Verfahren. Dann könnte auch auf die in jedem Koalitionsvertrag stehenden Sätze: „Im Deutschen Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind.  Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ verzichtet werden. Diese schränken nämlich die Abgeordneten der Koalition in ihren Rechten ein und machen das Parlament gerade nicht zu einem Ort, in dem das bessere Argument zählt.

Da mein Herz für das Wahlrecht schlägt, bin ich sehr neugierig, welche Vorschläge die neu einzusetzende Wahlrechtskommission unterbreitet, wie jeder Bewerber (und jede Bewerberin) mit Erststimmenmehrheit in den Bundestag einziehen kann und der Bundestag unter Beachtung des Zweitstimmenergebnisses grundsätzlich bei der aktuellen Größe verbleiben kann.  Wenn hier mal die SPD nicht das Grabenwahlrecht eingekauft hat, denn das ist das eigentliche Ziel der Union, sie wehrt sich seit vielen Jahren gegen die Alternative der Wahlkreisreduzierung. Bei der Prüfung, wie die gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen im Parlament gewährleistet werden kann, da hätte ich eine Idee, aber die müsste ohne Wahlkreise auskommen.

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