Die BaföG-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist öffentlich nur eine Randnotiz. Das wird ihr aber nicht gerecht, denn sie stellt einen fundamentalen Bruch mit dem Prinzip der Bildungsgerechtigkeit dar. Das Aufstiegsversprechen ist vorbei. Zukünftig gilt wieder, wenn Du zu arm bist, um zu studieren, ist das Dein Problem. Schlimmer noch, das BVerfG schreib fest, dass aus dem Sozialstaatsprinzip kein subjektiver Anspruch auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten hergeleitet werden kann.
BaföG und Sozialstaat
Ein Fünftel, bis ein Sechstel der Studierenden erhalten Leistungen nach dem BaföG (vgl. Rz. 6). Wer bisher dachte, dass BaföG ein Studium ermöglichen sollte, wird vom BVerfG eines Besseren belehrt. In Rz. 36 wird in bürokratischer Eiseskälte formuliert, dass das Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht darauf gerichtet ist, „mittellosen Hochschulzugangsberechtigten ein Studium durch Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und der Ausbildungskosten zu ermöglichen.“
Seichte formuliert, am Ende aber mit dem gleichen Ergebnis heißt es in Leitsatz 1: „Der Anspruch auf existenzsichernde Leistungen nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) sichert die menschenwürdige Existenz derjenigen, die hierzu selbst nicht in der Lage sind, und ist auf die dazu unbedingt notwendigen Mittel beschränkt. Er besteht nicht, wenn diese Bedürftigkeit etwa durch Aufnahme einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit beendet oder vermieden werden kann, auch wenn dann die Ausübung bestimmter grundrechtlicher Freiheiten wie die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Durchführung eines Hochschulstudiums nicht möglich sein sollte.“
Der Spruch: „Geh doch arbeiten“ bekommt eine ganz neue Bedeutung. Wenn Mami und Papi ein Studium finanzieren können ist es fein, wenn nicht, geht ein Studium halt nicht. Pech gehabt.
Oder um es mit dem BVerfG (Rz. 39) zu sagen: „Es berührt nicht die Menschenwürde, wenn eine Hochschulausbildung wegen fehlender Mittel nicht möglich ist und zur Vermeidung von Bedürftigkeit einer existenzsichernden Ausbildung oder beruflichen Tätigkeit nachgegangen werden muss. Soweit mittellose Zugangsberechtigte tatsächlich und rechtlich nicht in der Lage sind, eine existenzsichernde Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder Hilfebedürftigkeit auf andere Weise zu vermeiden, haben sie wie alle Menschen, die ihre Existenz nicht selbst sichern können, Anspruch auf die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unabdingbar notwendigen Leistungen. Diese Leistungen sind dann jedoch nicht dazu bestimmt, eine angestrebte oder begonnene Hochschulausbildung zu ermöglichen, sondern dienen allein der Bewältigung der existenzgefährdenden Notlage.“
Offensichtlich hatte das BVerfG gar nicht auf dem Schirm, dass das BaföG mindestens in seinem Darlehensteil zurückgezahlt werden muss. Es hätte das BaföG auch als (Teil)Kredit bewerten können, statt den als Existenzsicherung und so Bildungsdurchlässigkeit erhalten können.
Die gefundene Auslegung begründet das BVerfG mit einer rein formellen Anwendung des Gleichheitssatzes. Danach, so Leitsatz 2, gewährleistet das Recht der Hochschulzugangsberechtigten aus Art. 12 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG auf gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot lediglich „eine gleichheitsgerechte Verteilung der tatsächlich zur Verfügung gestellten Ausbildungskapazitäten, umfasst aber kein Recht auf staatliche Leistungen zur Beseitigung von den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldeten Hindernissen für den Zugang zum Studium.“
Die Ausführungen dazu machen genau eine Randnummer aus und ich frage mich ernsthaft warum und weshalb hier so getan wird, als gäbe es keine juristische Debatte, dass Artikel 3 auch eine materielle Anwendung erlaubt. Weil ohne materielle Anwendung Ungleichheiten zementiert werden, statt sie abzubauen.
Im Jahr 1987 hatte das BVerfG entschieden: „Das Verbot des Art. 3 Abs. 3 GG gilt mithin nicht absolut; es verbietet, wie sich schon aus seinem Wortlaut ergibt (>wegen<), nur die bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung, nicht aber einen Nachteil oder einen Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist.“ (BVerfGE 75, 40, Rz. 10). Bereits nach dieser Rechtsprechung könnte argumentiert werden, dass eine Benachteiligung wegen der Herkunft vorliegt. Das korrespondiert mit der Entwicklung der Rechtsprechung hin zu einem materiellen Gleichheitsverständnis. „Der Gleichberechtigungsgrundsatz ist in der bisherigen Rechtsprechung bevorzugt als Abwehrrecht zur Unterbindung von Diskriminierungen angewendet worden. In neuerer Zeit wird erörtert, ob nicht dem Gleichberechtigungsgebot ebenso wie anderen Grundrechten neben dem Charakter als Abwehrrecht auch positive Verpflichtungen des Gesetzgebers zur Förderung und Unterstützung der Grundrechtsverwirklichung zu entnehmen sind. Im Zusammenhang damit wird das Sozialstaatsprinzip als für den Gesetzgeber verpflichtend in Betracht gezogen, dass im besonderen Maße auf positive staatl. Tätigkeit statt auf bloße Enthaltsamkeit im Sinne einer Respektierung vorgefundener gesellschaftlicher Strukturen und Verhältnisse bezogen.“ (BVerfGE 74, 163, Rz. 45 ff.)
Wenn das BVerfG im Leitsatz 4 dann formuliert: „Angesichts der besonderen Bedeutung sozialer Durchlässigkeit der Bildungs- und Ausbildungswege folgt aus Art. 12 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip ein Auftrag des Staates zur Förderung gleicher Bildungs- und Ausbildungschancen. Dieser Förderauftrag verdichtet sich zu einer objektiv-rechtlichen Handlungspflicht, wenn ganze Bevölkerungsgruppen faktisch keine Chance auf Zugang zu bestimmten Ausbildungs- und Berufsfeldern haben.“ ist das nicht mal Schadensbegrenzung. Denn die objektiv-rechtliche Handlungspflicht bleibt ohne Folgewirkung, wie sich bereits an der intertemporalen Freiheitssicherung zeigt. Denn Klimaschutz und Klimawandelanpassung werden bis heute nicht so betrieben, wie es eigentlich notwendig wäre.
Der Angriff auf das Sozialstaatsprinzip
Unabhängig von der Frage des BaföG leitet das BVerfG aber auch eine Wende in der Frage des Sozialstaatsprinzips ein. In Leitsatz 3 a) wird unter Hinweis auf die Begrenztheit der finanziellen Mittel dem Gesetzgeber eine Priorisierung der aus dem Sozialstaatsprinzip sich ergebender vielfältiger Aufgaben zuerkannt. Im Kern sagt das BVerfG: „Aus dem Sozialstaatsprinzip können (…) grundsätzlich keine subjektiven Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten hergleitet werden.“
Hallelujah. Der Abriss des Sozialstaates in juristische Floskeln gegossen. Doch das BVerfG wird noch deutlicher: „Das schließt – abgesehen vom Recht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip – verfassungsrechtliche Ansprüche auf staatliche Leistungen zur Beseitigung sozialer, eine chancengleiche Verwirklichung grundrechtlicher Freiheit hindernder Ungleichheiten grundsätzlich aus.“ (Rz.43)
Ende mit Chancengleichheit. Solidarität und Abbau von benachteiligenden Ausgangsbedingungen war gestern.
Der Verweis auf die Begrenztheit finanzieller Mittel ist aus meiner Sicht besonders infam. Es gibt vollkommen ungerechte Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Mensch könnte zum Beispiel mal über eine Lohnobergrenze nachdenken oder glaubt jemand ernsthaft 200.000 EUR pro Jahr können wirklich „verdient“ werden? Und solange solche Gehälter rausgeballert werden, soll mir Niemand sagen, es sei nicht ausreichend Geld für Daseinsvorsorge vorhanden.
Es gäbe verschiedene Stellschrauben, an denen gedreht werden könnte, um finanzielle Mittel zur Verfügung zu haben. Das BVerfG selbst erwähnt die Schuldenbremse und den Erhalt der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit der Steuer- und Beitragszahlenden (Rz. 50). Die Ausführungen zu Letzterem sind erschreckend, entsprechen wohl aber gerade dem Zeitgeist. Das BVerfG stellt defacto das Sozialstaatsgebot zur Disposition, wenn es formuliert (Rz. 50): „Das gilt auch für die hier in Rede stehende Aufgabe des Staates gemäß dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (vgl. BVerfGE 100, 271 <284>). Dieser Aufgabe kommt von Verfassungs wegen kein Vorrang vor der Verwirklichung der anderen staatlichen Aufgaben zu. Faktische Grenzen ergeben sich insoweit auch aus der Notwendigkeit, die für die Verwirklichung einer gerechten Sozialordnung unabdingbare Bereitschaft der Steuer- und Beitragszahler zur Solidarität mit sozial Benachteiligten zu erhalten (,,,).“
Welche Bereitschaft zur Solidarität? Steuern und Beiträge sind doch keine Freiwilligkeit, sondern gesetzliche Regelungen. Angesichts der gesellschaftlichen Diskurse in letzter Zeit in Bezug auf Geflüchtete und Empfangende von Bürger*innengeld macht hier das BVerfG ein Tor auf für eine komplette Spaltung der Gesellschaft. Die Bezugnahme auf die „Bereitschaft der Steuer- und Beitragszahler zur Solidarität“ ist ein ganz gefährliches Pflaster, bietet sie doch autoritären Populisten*innen und Rechtsextremen eine Chance zum „Aufruhr gegen die Solidarität mit Schmarotzer*innen“.
Einem solchen Ansatz muss konsequent begegnet werden. Denn die Gleichheit aller Menschen ist unverhandelbar.