Das neue Bundeswahlrecht – Genese, Missverständnisse und Bewertung

 

Dieser Text wird sehr lang werden.

Vorbemerkung

Die Debatte zum Wahlrecht am 17. März 2023 und die Verabschiedung des neuen Bundeswahlgesetzes wurde hoch emotionalisiert geführt, dabei gerieten auch einige Fakten durcheinander. Die sachliche Darstellung des derzeitigen Wahlrechts und seine Herleitung fielen dabei unter den Tisch. Das ist schade.

Der aus meiner Sicht akzeptable Grundentwurf des Ampel-Vorschlages wurde durch die kurzfristige Streichung der Grundmandatsklausel leider in seiner Akzeptanz untergraben. Und das vor allem wegen des Verfahrens (auch in der Sache finde ich die Streichung falsch, aber dazu komme ich noch). Am Sonntag sickerten erste Informationen durch, am Freitag wurde beschlossen. Das Wortprotokoll der Anhörung zum Gesetzentwurf, der eine Grundmandatsklausel enthielt, lag noch gar nicht vor.  Die Ampel hat durch das schnelle Verfahren verhindert, dass sich seriös mit der Grundmandatsklausel und den Folgen ihres Wegfalls beschäftigt wurde. Sie hat so einen Beitrag geleistet, dass ein Gefühl des „überfahren werden“ entstanden ist. Es wäre überhaupt nicht schlimm gewesen, sich einfach zwei Wochen mehr Zeit für die Beschlussfassung zu nehmen. Mal abgesehen davon ist es auch kein guter parlamentarischer Stil.

Kein guter Stil ist es auch, ein Wahlrecht zu beschließen, obwohl die Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit mit ihrer Arbeit noch gar nicht fertig ist. Der Abschlussbericht steht noch aus. Der Zwischenbericht der Kommission hat sich nicht abschließend zu einem Wahlrecht positioniert. In den Empfehlungen S. 21 auf wird z.B. in der Nummer 5 deutlich, dass es verschiedene Modelle der Nichtzuteilung eines Wahlkreismandates an den oder die Erstplatzierte gibt. (Und im Übrigen heißt es in Nummer 6: „Über die Fortgeltung und die verfassungskonforme Ausgestaltung der bislang bestehenden Grundmandatsklausel zur Teilnahme von Parteien an der Sitzverteilung des Bundestages muss politisch entschieden werden.“) Es ist aus meiner Sicht vorab schon mal zu konstatieren, dass durch die Entscheidung im Bundestag auch die Kommission delegitimiert wurde.

Wie funktionierte das bisherige Wahlrecht

Das bisherige Wahlrecht sah vor, dass 299 Mandate in Direktwahlkreisen vergeben wurden und -theoretisch- weitere 299 Mandate über Landeslisten der Parteien, soweit diese die Sperrklausel von 5% überwunden hatten oder drei Direktmandate erzielten.

In den Wahlkreisen reichte die relative Mehrheit für ein Mandat. Es lohnt sich mal einen Blick auf die Wahlkreisgewinnenden zu werfen. In Baden-Württemberg wurde kein Direktmandat mit mehr als 40% vergeben, ein Direktmandat wurde mit knapp mehr als 25% gewonnen. Auch in Bayern gibt es kein Direktmandat, welches mit mehr als 50% gewonnen wurde. Gern kann hier noch tiefer eingestiegen werden in das Zahlenmaterial.

Die Zusammensetzung des Bundestages richtete sich nach dem Anteil der Zweitstimmen. Das bedeutet: Wenn in einem Land einer Partei 6 Mandate zustehen, werden zunächst die Direktmandate einer Partei auf diese 6 Mandate angerechnet. Wenn es vier Direktmandate gibt, dann werden nur noch 2 Mandate aus der Landesliste vergeben.

Problematisch wurde es, wenn eine Partei mehr Direktmandate errungen hatte als ihr an Zweitstimmen nach Mandaten zustehen. Wenn also eine Partei 8 Direktmandate gewinnt, ihr nach Zweitstimmen aber nur 6 Mandate zustehen. Die erste Folge ist, dass von der Landesliste keine Mandate mehr vergeben werden können, die zweite Folge ist dann aber, dass diese zwei Überhangmandate zu Ausgleichsmandaten führen. Ausgleichsmandate bedeutet, dass alle anderen Parteien soviel Mandate bekommen, bis die „zwei zusätzlichen Mandate“ so ausgeglichen sind, dass die Mandate wieder dem Zweitstimmenanteil der Parteien entspechen.

Die sog. Überhangmandate sind das eigentliche Problem des bisherigen Wahlrechts, denn sie sind der Grund für den ständig größer werdenden Bundestag. Bei der Bundestagswahl 2021 gab es folgende Überhangmandate: CDU 12, CSU 8, SPD 10 und AfD 1. Dies führte zu 104 Ausgleichsmandaten.

Kurz gefasst: Im bisherigen Wahlrecht galt Direktmandat First, Listenmandat Second.

Wie funktioniert das neue Wahlrecht

Das neue Wahlrecht sieht eine Größe des Bundestages von 630 Abgeordneten vor und stellt sicher, dass diese Größe nicht überschritten wird.

Mit dem neuen Wahlrecht gibt es keine Direktmandatsgewinnende, es gibt lediglich Wahlkreisbeste. Ein Mandat für den Bundestag bekommen nur die Wahlkreisbesten, deren „Wahlkreissieg“ auch Zweitstimmengedeckt ist (soweit die jeweilige Partei die Sperrklausel überwindet).

Wenn ich das Beispiel vom alten Wahlrecht aufnehme und einer Partei stehen nach Zweitstimmen 6 Mandate zu und sie hat 4 Wahlkreisbeste, dann erhalten diese Wahlkreisbesten ihre Mandate und es kommen noch zwei Mandate von der Liste hinzu. Wenn diese Partei nun aber 8 Wahlkreisbeste hat, dann fallen Mandate für die Liste denklogisch aus, aber es werden jetzt nicht einfach 8 Wahlkreismandate vergeben, sondern die Mandate gehen an die 6 Wahlkreisbesten dieser Partei. Die Ermittlung dieser Wahlkreisbesten-Reihenfolge findet statt, indem die Wahlkreisstimmen durch die Gesamtzahl der gültigen Wahlkreisstimmen geteilt wird.

Wenn allerdings eine Partei die Sperrklausel nicht überwindet, dann erhalten die Wahlkreisbesten dieser Partei, selbst wenn mathematisch eine Zweitstimmendeckung vorliegt, keine Mandate. Warum das falsch ist, habe ich hier im Detail ausgeführt. Ausgenommen sind Einzelbewerbende.

Auch hier gilt am Ende: Wahlkreisbeste First, Liste Second.

Was ist die Grundmandatsklausel

Nach dem bisherigen Wahlrecht war es so, dass eine Partei nur dann in den Bundestag einzieht, wenn sie die Sperrklausel von 5% überwunden hatte. Das bedeutet, dass eine Partei mindestens 5% der Zweitstimmen erzielen musste. Wenn sie allerdings drei Direktmandate errungen hatte, dann konnte sie auch ohne die Sperrklausel in den Bundestag einziehen.

Im ursprünglichen Gesetzentwurf zum neuen Wahlrecht war vorgesehen, dass eine Partei auch dann in den Bundestag einzieht, wenn sie die Sperrklausel von 5% der Zweitstimmen nicht erreicht, aber drei Wahlkreisbeste vorzuweisen hat und diese drei Wahlkreisbesten eine Zweitstimmendeckung durch ihre Partei nachweisen können.

Ich habe hier deutlich gemacht, warum das eigentliche Problem die Sperrklausel ist und nicht die Grundmandatsklausel. Diese hat nämlich die Wirkung der Sperrklausel nur abgeschwächt. Die Sperrklausel ist der eigentliche Systemfehler, nicht die Grundmandatsklausel. Soweit argumentiert wird, dass der Systemfehler im neuen Wahlrecht die Grundmandatsklausel ist, ist das einer Binnensicht geschuldet, welche die eigentliche Ursache der Grundmandatsklausel ausklammert. Wer die Grundmandatsklausel streicht, kann mE mit dem neuen Wahlrecht nicht an der Sperrklausel festhalten.

Ich halte das neue Wahlrecht ohne Grundmandatsklausel ebenso für nicht mit der Verfassung vereinbar, wie das neue Wahlrecht mit Sperrklausel. Denn die Integrationswirkung einer Wahl wird nicht mehr gewährleistet. Die Option, dass relevante politische Meinungen mit diesem Wahlrecht Gefahr laufen im Parlament nicht mehr vertreten zu sein, ist hier deutlich zu groß und reicht von CSU über FDP bis LINKE.

Wenn der SV Meinel in der Wahlrechtskommission im Hinblick auf die Zweitstimmendeckung argumentiert (S. 10)

„Diese Beeinträchtigung ist nach Art und Gewicht vergleichbar mit der Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit durch die Sperrklausel des § 6 Abs. 3 S. 1 BWG in Bezug auf die Zweitstimme: Während die Zweitstimme mit dem Vorbehalt behaftet ist, nur relevant zu werden, wenn die gewählte Partei die Fünf-Prozent-Hürde überschreitet, wäre hier die Erststimme mit dem Vorbehalt behaftet, nur relevant zu werden, wenn die Partei des Wahlkreiskandidaten einen hinreichend großen Zweitstimmenanteil erringt. Bei der
Sperrklausel haben diejenigen Stimmen, die für Parteien abgegeben werden, welche die Fünf-Prozent-Hürde nicht überwinden, keinen Erfolgswert bei der Zusammensetzung des Bundestages. Und ähnlich bei der verbundenen Mehrheitsregel: Diejenigen Stimmen, welche für den Erstplatzierten abgegeben werden, haben – genauso als würden sie unter der Fünf-Prozent-Hürde liegen – keinen Erfolgswert und somit auch keine Relevanz bei der Ermittlung des Wahlkreisgewinners.“

dann macht er indirekt deutlich, dass es sich um eine „doppelte 5%-Sperrklausel“ handelt. Auch aus diesem Grund glaube ich, dass die Sperrklausel in diesem Gesetzentwurf verfassungsrechtlich nicht zu halten sein wird.

Im Rahmen der Anhörung im Innenausschuss äußerten sich lediglich die Sachverständigen Austermann und Grzeszick sowie Schmahl ablehnend gegen die Grundmandatsklausel. Die Sachverständigen Puckelsheim und in einer gemeinsamen Stellungnahme die Sachverständigen von Achenbach, Meinel und Möllers sprachen sich für die Beibehaltung der Grundmandatsklausel aus. Die anderen Sachverständigen äußerten sich überhaupt nicht zur Grundmandatsklausel.

Ausweislich der Beschlussempfehlung des Innenausschusses wurde der Wegfall der Grundmandatsklausel mit der Anhörung im Innenausschuss begründet.

„In der Sachverständigenanhörung zum Gesetzentwurf wurde deutlich, dass die Fortgeltung der angepassten Grundmandatsklausel im System der Zweistimmendeckung einen stärkeren Systembruch darstellt, als dies bisher der Fall war. Denn die Wahl in den Wahlkreisen dient der vorrangigen Besetzung der von den Parteien nach ihrem Zweitstimmenergebnis errungenen Sitze und nicht wie bisher der Personenwahl. Eine Ausnahme für Parteien, die im Wahlgebiet weniger als 5 % der abgegebenen Zweitstimmen, aber in drei Wahlkreisen die meisten Erststimmen erhalten haben, mit der Folge, dass diese nach dem Verhältnis ihrer Zweitstimmen einzieht, ist im System der Zweitstimmendeckung verfassungsrechtlich nur schwer zu rechtfertigen. Die Grundmandatsklausel soll deshalb im Gesetzentwurf entfallen.“

Aus dem bisher Geschriebenen ergibt sich, dass ich das nicht nachvollziehen kann und rechtlich auch nicht für tragfähig halte.

Der geringstmögliche Eingriff wäre im Übrigen gewesen, wenn gesagt worden wäre: Die Wahlkreisbesten einer Partei, die Zweitstimmengedeckt sind können auch dann ihr Mandat behalten, selbst wenn ihre Partei nicht über die Sperrklausel kommt, allerdings bedeutet das nicht, dass sie damit der Partei selbst zum Einzug in den Bundestag verhelfen.

Genese des neuen Wahlrechts

Das dieses neue Wahlrecht kommt, ist nicht überraschend.

Am 16. März 2022 hat der Bundestag eine Wahlrechtskommission eingesetzt. Im Einsetzungsbeschluss wurde formuliert:

„Die Kommission soll sich auf der Grundlage der Prinzipien der personalisierten Verhältniswahl mit Vorschlägen befassen, die eine effektive Verkleinerung des Bundestages in Richtung der gesetzlichen Regelgröße bewirken und nachhaltig das Anwachsen des Bundestages verhindern.“

Die Wahlrechtskommission hat sich in drei Sitzungen mit der Verkleinerung des Bundestages beschäftigt. Diese fanden am 19. Mai 2022, am 2. Juni 2022 und am 23. Juni 2022 statt.

Unmittelbar vor der ersten Sitzung der Kommission veröffentlichten die Ob-Leute der Ampel in der FAZ ihren Vorschlag zur Wahlrechtsreform. Das bestimmte leider die Debatte der Wahlrechtskommission, die somit in meiner Wahrnehmung nicht mehr ergebnisoffen debattierte. Der damalige Vorschlag der Ampel sah für die Wahlkreismandatsvergabe schon eine Zweitstimmendeckung vor, allerdings auch eine Ersatzstimme.

In der ersten Sitzung hatte die SV Schönberger vorgeschlagen:

„Eine Möglichkeit läge beispielsweise in einem Modell, in dem weiterhin die Listenwahl über Landeslisten mit der Personenwahl in Ein-Personen-Wahlkreisen verbunden würde und weiterhin die Hälfte der Mandate über diese Wahl in Wahlkreisen vergeben würde, die Entscheidungsregel für die Vergabe der Wahlkreismandate allerdings nicht die relative Mehrheit wäre, sondern vielmehr eine Wahlkreisbestenliste. Aus dieser Wahlkreisbestenliste, die für jede Partei in jedem Land nach dem Stimmergebnis erstellt würde, würde dann die Hälfte der einer Partei nach ihrem Stimmergebnis zustehenden Mandate besetzt.“

Der SV Vehrkamp schlug die „verbundene Mehrheitsregel“ vor:

„Die >verbundene Mehrheitsregel< verknüpft das Ergebnis der Personenwahl in den Wahlkreisen mit dem Ergebnis der Verhältniswahl. Sie stellt den Erfolg der Personenwahl im Wahlkreis unter den Vorbehalt eines ausreichenden Zweitstimmenanteils aus der Verhältniswahl, oder, etwas anders formuliert: Sie konditioniert den Erfolg im Wahlkreis durch die Zweitstimmendeckung.“

Aus den Protokollen der drei Sitzungen ergibt sich, dass die Wahlrechtskommission vor allem das Ampel-Modell hoch und runter debattierte. Im Ergebnis wurde auf die Ersatzstimme verzichtet. Zum Glück.

Im Zwischenbericht der Kommission wird unter dem Punkt 2.2.3. die Frage der Verkleinerung des Bundestages und dazu unterbreiteter Vorschläge behandelt. Als Empfehlung wird dort ausgeführt:

„Für den Fall der Nichtzuteilung eines Wahlkreismandats an den oder die Erstplatzierte, soll der Wahlkreis nicht unbesetzt bleiben. Es sind verschiedene Zuteilungsmechanismen für die alternative Zuteilung des Wahlkreismandats möglich:“

Wie leicht ersichtlich ist, ging es zum Zeitpunkt des Zwischenberichts noch um Regelungen, wie sichergestellt werden kann, dass ein Wahlkreis nicht unbesetzt bleibt. In meinem Sondervotum habe ich deutlich gemacht, dass ich gegen eine Vorfestlegung bin und vorgeschlagen: „Soweit ein Modell gewählt wird, in welchem nicht zwingend jeder Wahlkreis mit einem/einer Wahlbewerbenden im Bundestag vertreten sein muss, erfolgt die Verteilung der Mandate einer Partei zur Hälfte oder in einem anderen Verhältnis über eine Wahlkreisbestenliste der Partei und über die Landesliste.“

Der Gesetzentwurf der Ampel datiert auf den 24. Januar 2023. In diesem entfiel zum Glück die Ersatzstimme, weswegen ich ihn hier auch positiv bewertet habe. Der Gesetzentwurf sah vor, dass die Zahl der Sitze, die auf eine Landesliste entfallen, die Höchstzahl der erfolgreichen Wahlkreisbewerbenden dieser Partei, die in dem Land aus dem Wahlkreis heraus einen Sitz erringen können, definiert. Der Gesetzentwurf hielt an der Sperrklausel fest und enthielt in § 4 Abs. 2 Nr. 2 die Grundmandatsklausel.

Die öffentliche Anhörung im Innenausschuss fand am 6. Februar 2023 statt.

Im Änderungsantrag der Ampel wurde dann die Grundmandatsklausel gestrichen und die gesetzliche Anzahl der Mitglieder des Bundestages auf 630 Personen erhöht. Der Ausschuss beschloss am 15. März 2023. Die Abstimmung über den Gesetzentwurf fand am 17. März 2023 statt.

Verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Zweitstimmendeckung

Es gibt einen Reflex, der mir nicht unbekannt ist, nachdem die Zweitstimmendeckung und damit die Option, dass Wahlkreisbeste kein Mandat erhalten, für unzulässig anzusehen. In meiner ersten Stellungnahme in der Debatte zur Verkleinerung des Bundestages argumentierte ich noch: „Der an verschiedenen Stellen diskutierte Vorschlag, dass in bestimmten Situationen der/die Wahlkreissieger*in kein Mandat erhält, dürfte unzulässig sein. Im Jahr 2012 hat das BVerfG hierzu ausgeführt: >Durch die Wahl der Wahlkreiskandidaten soll zumindest die Hälfte, der Abgeordneteneine engere persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben (…). Dieses Ziel kann nur verwirklicht werden, wenn der erfolgreiche Kandidat sein Wahlkreismandat auch dann erhält, wenn das nach Proporz ermittelte Sitzkontingent der Landesliste seiner Partei nicht zur Verrechnung nicht ausreicht.< (BVerfGE 131, 316; Rdn. 133)“.

Ich habe mich überzeugen lassen, dass diese Position mit dem neuen Wahlrecht nicht aufrecht zu halten ist, weil sich die Aussage des BVerfG auf ein konkretes Wahlsystem bezog und jetzt ein anderes Wahlsystem gefunden wurde. Kurz, ich halte den Ampelvorschlag der Zweitstimmendeckung für Wahlkreisbeste als Bedingung für die Mandatszuteilung mittlerweile für Verfassungsgemäß.

Das BVerfG hat immer wieder betont, dass der Gesetzgeber in seiner Entscheidung für ein Wahlsystem grundsätzlich frei ist. Die Frage, für welches von vielen verschiedenen verfassungsrechtlich möglichen Wahlrechtssystemen er sich entscheidet, ist eine politische Entscheidung.

Es muss also geschaut werden, ob das vom Gesetzgeber gewählte Wahlsystem verfassungsrechtlich zulässig ist.

Die SV Schönberger hat in ihrer Stellungnahme dazu unter anderem ausgeführt:

Die Frage, welche Personenwahl genau der Wähler mit Wahrnehmung seiner Erststimme trifft, d.h. zwischen welchen Wahlalternativen genau er sich entscheidet, scheint auf den ersten Blick banal: Da er mit seiner Erststimme einen Wahlkreisabgeordneten wählt, muss seine Wahlmöglichkeit diejenige zwischen den verschiedenen als Wahlkreisbewerbern zugelassenen Kandidaten sein. Eine solche einfache Wahlalternative würde sich bei Ausübung der Erststimme allerdings tatsächlich nur dann stellen, wenn es sich bei dem Wahlsystem des Bundeswahlgesetzes um eine mit der Verhältniswahl unverbundene Personenwahl handeln würde. Dadurch, dass die Ergebnisse der Personenwahl mit denen der Verhältniswahl verrechnet werden, die Erststimme also nicht für sich alleine wirkt, sondern immer eine Wechselwirkung mit dem Ergebnis der Zweitstimmen zeitigt, ist eine solche eindimensionale Betrachtung der Wirkungsweise der Erststimme allerdings stark verkürzt und gibt die Wahlalternativen nicht zutreffend wieder. Die Erststimme kann hinsichtlich der Auswahl, die mit ihr getroffen wird, daher nur zusammen mit der Zweitstimme richtig erfasst werden. Der Wähler entscheidet nämlich mit seiner Erststimme nicht nur, ob Direktkandidat A oder Direktkandidat B in den Bundestag einzieht, sondern im gleichem Maße auch darüber, ob die der A-Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen
zustehenden Mandate durch den Direktkandidaten oder vielmehr durch einen Listenkandidaten besetzt werden soll
.“

Sie ergänzt, dass ein Stimmensplitting auf ein doppeltes Stimmgewicht gerichtet ist.

Der Wähler will zum einen, dass die A-Partei möglichst viele Listenmandate im Bundestag erhält, und zielt gleichzeitig darauf ab, dass die B-Partei durch Überhangmandate ebenfalls einen möglichst hohen Anteil an den Bundestagsmandaten erringt. Genau diese strategische Option ist allerdings verfassungsrechtlich problematisch, weil überaus fraglich ist, ob diese Möglichkeit, eine Gleichheitsverzerrung im Wahlrecht taktisch zu nutzen, überhaupt mit der Verfassung vereinbar ist.“

Prof. Meinel hat in seinem Rechtsgutachten dargelegt, dass sich die Garantie der Erfolgswertgleichheit „nur auf gleiche Erfolgschancen innerhalb des jeweiligen Wahlsystems beziehen“ kann (S. 7). Er führt aus (S. 14):

„Das derzeit geltende Bundeswahlgesetz verbindet nicht zwei strikt voneinander getrennte Teil-Systeme, sondern stellt vielfältige Überschneidungen beider Elemente her, wobei, wie bereits angedeutet, das Bundesverfassungsgericht in der Gesamtbetrachtung das Element der Verhältniswahl hervortreten lässt. So spricht das Bundeswahlgesetz in § 1 Abs. 1 S. 2 BWG von einer >mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl< und gerade nicht von einer >mit der Verhältniswahl verbundenen Personenwahl<. Die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht für die Verfassungsmäßigkeit des Wahlsystems den Ausgleich von Überhangmandaten zur Wiederherstellung des Proporzes als Maßstab erklärt, unterstreicht die grundsätzliche Klassifizierung als Verhältniswahl. Schon jetzt werden gem. § 6 Abs. 4 S. 1 BWG die Ergebnisse der Erststimme mit denen der Zweitstimmen verrechnet und somit miteinander verschränkt – es gibt also bereits bei der Erststimme eine >Wechselwirkung mit dem Ergebnis der Zweitstimmen<, was belegt, dass die losgelöste Betrachtung einer >reinen< Personenwahl verkürzt wäre. Durch die verbundene Mehrheitsregel würde vielmehr die Verrechnung auch in die >andere Richtung< umgesetzt, somit Personen- und Verhältniswahl noch weiter verschränkt werden und im Endeffekt ein stringentes Mischsystem entstehen.“

In der 5. Sitzung der Kommission hat Prof. Behnke ausgeführt:

„Es gebe zwei wesentliche Missverständnisse dieses Systems. Das erste laute, dass der Sieger kein Wahlkreismandat mehr bekomme. Die Regeln würden jedoch bestimmen, wer der Sieger sei. Auch bei einem Wettlauf gewinne nicht zwangsläufig der schnellste Läufer, wenn dieser gedopt sei und damit gegen die Regeln verstoße. Die Kritik, die behaupte, dass der Sieger eines Wahlkreises kein Direktmandat erhalte, treffe diese Aussage unter der Annahme, dass das Wahlsystem im Kern dasselbe bliebe und inkohärent ein neues Verfahren eingeführt werde. Dies sei jedoch nicht der Fall.“

Und die SV von Achenbach sagte in dieser Sitzung:

Das Demokratieprinzip verpflichte weder zur Gewährleistung der Personenwahl, noch verpflichte es im Rahmen eines personalisierten Wahlrechts, zur Gewährleistung der Überhangmandate. (…) Die vorgeschlagene Bindung der Direktwahl an die Verhältniswahl sei eine verfassungsrechtlich zulässige Ausgestaltung des personalisierten Verhältniswahlrechts und verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Bei der Direktwahl werde grundsätzlich keine Gleichheit der Erfolgschancen gewährleistet. Dass Mandate nicht an Kandidierende vergeben würden, wenn diese nicht durch entsprechende Zweitstimmenergebnisse gedeckt seien, führe auch nicht zu einer verfassungswidrigen Ungleichheit. Es gebe im Wahlrecht nicht einen natürlichen Sieger im engeren Sinne, sondern einen regelbasierten Erfolg. Das Prinzip der Mehrheitswahl sei für das Personalwahlrecht kein naturgegebenes Gesetz und könne im Bundeswahlgesetz geändert werden. Wenn es durch die Bindung an das Zweitstimmenergebnis dazu kommen würde, dass einzelne Wahlkreise im Bundestag nicht durch ein Wahlkreismandat vertreten wären, sei dies verfassungsrechtlich nicht unzulässig (…). Selbst wenn sie als Eingriff in die Gleichheit gewertet werden würde, kämen die dargelegten Rechtfertigungserwägungen zum Tragen. Die Gleichheit der Wahl begründe kein absolutes Differenzierungsgebot. Differenzierungen könnten durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sei, das der Wahlgleichheit die Waage halten könne.“

In der sechsten Sitzung der Kommission erläuterte die SV von Achenbach:

Die Tatsache, dass ein Mandat mit den meisten Erststimmen nicht gewonnen werde, sei kontraintuitiv, weil die Gesellschaft in dieses Verständnis der Mehrheitswahl als relative Mehrheitswahl reinsozialisiert worden sei. Dies sei jedoch keineswegs vorgegeben und auch nicht verfassungsrechtlich verpflichtend. Die Bedingungen, unter denen ein Mandat gewonnen werde, lege der Wahlgesetzgeber fest. Es seien auch keine verfassungsgerichtliche Judikatur oder sonstige verfassungsrechtlich zwingende Gebote ersichtlich, die dieser Koppelung entgegenstünden. Prof. Dr. Christoph Möllers habe
darauf hingewiesen, dass die Verbindung von Direkt- und Listenwahl im Moment dazu führe, dass die direkte personale Vertretung eine geringere Bedeutung habe, als ihr vom Grundkonzept zustehe. Bislang sei die Koppelung eine Einbahnstraße, weil die Listenwahl unter dem Vorrang der Direktwahl stehe. Die vorgeschlagene Bindung der Direktwahl an den Zweitstimmenanteil komplettiere letztlich das System und bedeute eine doppelte Absicherung der Legitimation des Direktmandats.“ (…) Die Vorstellung, dass die Bindung der Direktwahl an das Zweitstimmenergebnis ein Übergriff der Verhältniswahl auf die Direktwahl sei, überzeuge sie nicht. Wenn ein Wahlsystem sich klar an der Verhältniswahl ausrichte, sei eine Zweitstimmendeckung bei der Wahl in den Wahlkreisen kein Eingriff in diese, sondern eine Ausgestaltung dieser. Die bloße Änderung des gegebenen Systems der Wahl in den Wahlkreisen sei für sich genommen kein Eingriff, da es keine verfassungsrechtliche Verfestigung des Wahlrechts gebe.“

In der siebten Sitzung der Kommission zu diesem Thema argumentierte die SV von Achenbach:

„Es sei ein Missverständnis, dass es einen Anspruch aus der relativen Mehrheit auf den Mandatsgewinn geben würde. Einen Mandatsanspruch, der aus der relativen Mehrheit folge, würde es nicht geben, sondern der Wahlgesetzgeber würde dies regeln, was auch umfasse, dass er das Mehrheitsprinzip qualifizieren könne. Es gebe auch andere Qualifikationen des Mehrheitsprinzips, wie die Stichwahl. Mehrheit sei nicht das Nonplusultra der Demokratie, Proportionalität sei ein ebenso wichtiger Gedanke der Repräsentation und der demokratietheoretischen Evidenz.“

Der Gesetzentwurf der Ampel argumentiert:

„Zu beachten sind namentlich die Wahlrechtsgrundsätze des Artikel 38 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Im Zentrum der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung steht dabei die Wahlrechtsgleichheit. Anerkannt ist, dass sich der jeweilige Gleichheitsmaßstab nach der Entscheidung für ein Wahlsystem richtet. Mit der Entscheidung für ein reines Verhältniswahlrecht gilt damit neben dem Gebot der Zählwertgleichheit auch der Maßstab der Erfolgswertgleichheit, der besagt, dass jeder Stimme >ein anteilsmäßig gleicher Erfolg< zukommt (BVerfGE 131,316, 338 [2012]). Die Einhaltung dieses Maßstabs ist durch das in diesem Entwurf vorgesehene Verteilungsverfahren über Landeslisten, das den Anteil der Hauptstimmen abbildet, in jeder Hinsicht gesichert. Keinen eigenen Gleichheitsmaßstab liefert das Verfassungsrecht dagegen für die Zuteilung der Wahlkreise. Die
Wahl von Wahlkreisbewerbern dient im vorliegenden Entwurf nur einer Vorauswahl der Kandidaten, die aufgrund ihres Hauptstimmenergebnisses in den Bundestag gewählt werden. Damit stellt der Entwurf einen verfassungsrechtlich zulässigen Übergang hin zu einem nunmehr streng durchgeführten Verhältniswahlrecht dar, das zwar durch die Landeslisten weiterhin eine föderative und durch die lokale Aufstellung der Wahlkreiskandidaten eine örtliche Komponente hat, dessen politisches Prinzip der proportionalen Mehrheitsbildung aber nur noch durch die 5-Prozent-Sperrklausel sowie gegebenenfalls durch die Wahl von parteiunabhängigen Bewerbern modifiziert wird.“

In der Anhörung im Innenausschuss argumentierte Prof. Schönberger :

Stimmen, die eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit anmahnen, führen
insofern im Wesentlichen an, der Erfolgswert der Stimmen der Wahlberechtigten im Wahlkreis mit einem nicht zugeteilten Direktmandat wäre im Vergleich zu dem Erfolgswert der Stimmen in einem Wahlkreis, in dem das Direktmandat zugeteilt wird, ungerechtfertigter Weise unterschiedlich. Der Erfolgswert wäre nämlich gleich „Null“. (…) Keines der Argumente kann verfassungsrechtlich überzeugen. Soweit sich die Argumentation auf eine vermeintlich verfassungswidrige Ungleichbehandlung der Wähler in verschiedenen Wahlkreisen in Bezug auf den Erfolgswert ihrer Stimme stützt, verkennt sie die verfassungsrechtlichen Anforderungen der Wahlgleichheit bei der Mehrheitswahl. Die Wahlgleichheit erfordert, dass alle Bürger ihr Wahlrecht in formal gleicher Weise ausüben können. Die Stimme eines jeden Wahlberechtigten muss grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben. Dieser für alle Wahlsysteme einheitliche Maßstab verlangt, dass der Wahlgesetzgeber Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet gewährleistet, und dass das von ihm festgelegte Sitzzuteilungsverfahren in allen seinen Schritten seine Regeln auf jede Wählerstimme gleich anwendet und dabei auch die Folgen so ausgestaltet, dass jeder Wähler den gleichen potentiellen Einfluss auf das Wahlergebnis erhält. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gleichheit der Erfolgschance hängen dabei von der Ausgestaltung des Wahlrechts ab. Ist das Wahlsystem als Mehrheitswahl ausgestaltet, fordert Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG lediglich die gleiche Erfolgschance aller Stimmen. Diese erschöpft sich in der Gewährleistung annähernd gleich großer Wahlkreise und der gleichen Zählung und Gutschreibung jeder gültig abgegebenen Wählerstimme.  Diese Anforderungen sind durch das vorgeschlagene Modell ohne Weiteres erfüllt, da weder die Größe der Wahlkreise noch die Zählung der gültigen abgegebenen Wählerstimmen modifiziert würde. Ein Grundsatz, dass durch die nach Grundsätzen der Mehrheitswahl organsierte Wahl in den Wahlkreisen auch in jedem Fall zwingend ein Wahlkreismandat vergeben werden müsste, ist der Wahlgleichheit schlicht nicht zu entnehmen. (…) Wenn hingegen zum Teil angeführt wird, dass der Erfolgswert der Erstimmen in einem Wahlkreis, für den kein Wahlkreismandat zugeteilt wird, >Null< sei und dies gegen die Wahlgleichheit verstoße, so verkennt die Argumentation, dass das Fehlen eines solchen Erfolgswerts im System der Mehrheitswahl für einen Großteil der Wähler, mitunter sogar für die Mehrheit der Wähler in einem Wahlkreis, zwingend angelegt ist. Denn schon im jetzigen System beträgt der Erfolgswert der Erststimme bei allen Wählern, die ihre Stimme für einen am Ende unterlegenen Kandidaten abgegeben haben, genau >Null<. Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht auch betont, dass die Gleichheit des Erfolgswerts im System der Mehrheitswahl nicht verfassungsrechtlich geboten (und auch gerade nicht realisierbar) ist, sondern vielmehr allein die gleiche Erfolgschance sichergestellt werden muss. (…) Denn bereits nach dem geltenden Wahlrecht existieren Fallkonstellationen, in denen in einem Wahlkreis keine der abgegebenen Erststimmen zu einer Mandatszuteilung führt. § 48 Abs. 1 BWahlG sieht schon jetzt vor, dass in dem Fall, dass ein gewählter Wahlkreisbewerber sein Mandat nicht annimmt oder ein Wahlkreisabgeordneter verstirbt, eine Nachbesetzung durch die Landesliste der jeweiligen Partei stattfindet. Auch in diesem Fall haben die Erststimmen der Wähler im betroffenen Wahlkreis keinen Einfluss mehr auf die Zusammensetzung des Bundestages. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung ausdrücklich für verfassungskonform erklärt.

Im zuständigen Ausschuss erläuterte auch Prof. Volkmann

„Auch gegen die mit der vollständigen Durchsetzung der Verhältniswahl im gewählten >Kappungsmodell< verbundene Folge, dass künftig nicht mehr alle in ihrem Wahlkreis siegreichen Kandidaten in den zu wählenden Bundestag einziehen werden, lassen sich keine ernsthaften verfassungsrechtlichen Bedenken erheben. Soweit demgegenüber geltend gemacht worden ist, dies sei >eine Durchbrechung der Wahl nach Mehrheit im Wahlkreis, die verfassungsrechtlich als kohärente Ausgestaltung der Gleichheit der im Wahlkreis stattfindenden Mehrheitswahl geschützt sei< hat sich mir bereits nicht erschlossen, wo hier überhaupt ein Anknüpfungspunkt für einen verfassungsrechtlichen Vorwurf liegen soll. Bereits die >Wahl nach Mehrheit im Wahlkreis< ist verfassungsrechtlich nicht garantiert, sondern hängt jedenfalls in ihrer tatsächlichen Auswirkung, also dem Einzug in das Parlament, davon ab, an welche Bedingungen das Wahlrecht diesen Einzug einfachgesetzlich knüpft. So wie das Wahlrecht dann diesen Einzug unproblematisch daran knüpfen kann, dass statt einer beliebigen relativen Mehrheit ein bestimmtes Quorum an Stimmen erreicht sein muss, kann es diesen Einzug auch davon abhängig machen, dass er von dem Hauptstimmenergebnis für die Landesliste der betreffenden Partei gedeckt ist, so wie es nun im § 1 Abs. 3 E-BWahlG vorgesehen ist. Der Anspruch auf Einzug in das Parlament besteht insoweit immer nur nach Maßgabe des jeweiligen Wahlrechts und ist durch dieses vermittelt, liegt ihm aber eben auch umgekehrt verfassungsrechtlich nicht voraus. (…)  Werden hingegen wie im Ampel-Entwurf die Wahlkreisergebnisse im Sinne eines reinen Verhältniswahlsystems nach dem >Kappungsmodell< an die Hauptstimmen gekoppelt, steht auch der Erfolgswert der für einen erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgegebenen Wahlkreisstimme notwendig unter dem Vorbehalt, dass eine entsprechende Deckung durch die Hauptstimmen erreicht ist. Auch in diesem Fall ist aber das System vollkommen kohärent verwirklicht und die Wahlgleichheit aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nicht verletzt, weil diese immer nur innerhalb und nach Maßgabe des jeweiligen Systems besteht.“

Falschinformationen

In den sozialen Netzwerken und in den Debatten gab und gibt es jede Menge Falschinformationen.

  • Es ist unzutreffend, dass der SSW (Partei nationaler Minderheit) nicht mehr in den Bundestag einziehen kann. Der Gesetzentwurf der Ampel enthält explizit die Regelung, dass die Sperrklausel „keine Anwendung auf Listen, die von Parteien nationaler Minderheiten eingereicht wurden“ findet .
  • Es ist unzutreffend, dass mit dem neuen Wahlrecht Ostdeutsche weniger im Bundestag vertreten sein werden. Die Anzahl der auf die neuen Bundesländer entfallenden Mandate verringert sich nicht.
  • Es ist falsch, dass verfassungsrechtlich vorgegeben ist, dass jeder Wahlkreis im Bundestag vertreten sein muss (siehe dazu auch oben). Im Gegenteil. Der Gesetzgeber ist nicht verpflichtet, föderale Belange bei der Gestaltung des Wahlrechts zum Bundestag zu berücksichtigen (BVerfGE 131, 316). Ich sehe die Überhöhung der Direktmandate ähnlich wie Prof. Schönberger, die in ihrer Stellungnahme für die Wahlrechtskommission ausführte: „Dass das Instrument der Wahlkreismandate auf der einen Seite zu einer engeren Beziehung des Wahlkreisabgeordneten zu seinem Wahlkreis und damit – dies ist wohl das eigentliche Ziel –zu den Interessen und Bedürfnissen der örtlichen Bevölkerung führt, und auf der anderen Seite eine engere persönliche Bindung der Wähler an ihren Abgeordneten stärkt, letztendlich also dem im Demokratieprinzip wurzelnden Repräsentationsgedanken dient, ist zunächst nicht mehr als eine Hypothese.“ Ausführlicher habe ich mich hier mit der Frage der Direktmandate auseinandergesetzt.

Es gibt viele Möglichkeiten eines verfassungsrechtlich zulässigen Wahlrechts

Grundsätzlich ist das Problem, dass das Wahlrecht häufig zuerst aus parteipolitischen Erwägungen heraus betrachtet wird.

Aus meiner Sicht muss es andersherum laufen. Es muss zunächst geschaut werden, welche Möglichkeiten eines Wahlrechts gibt es. Da gibt es eine ganze Breite von Wahlrechtsmöglichkeiten, die alle verfassungsrechtlich zulässig wären. Auf der Seite von wahlrecht.de findet sich eine schöne Übersicht, wieviel verschiedene Möglichkeiten eines Wahlrechts es gibt. Es gibt nämlich neben der grundsätzlichen Entscheidung zwischen Mehrheits- und Verhältniswahlrecht jede Menge „Untertypen“ und Ausgestaltungsmöglichkeiten. Die Vielfalt von Wahlsystemen wird auch bei einem Blick ins Ausland deutlich.

In einem zweiten Schritt sollte meiner Meinung nach geschaut werden, welche die demokratietheoretisch beste der verfassungsrechtlich möglichen Lösungen wäre. Auch da gibt es verschiedene Optionen, hier ist vor allem zu entscheiden, wie die Repräsentation stattfinden soll. Aus meiner Sicht ist es nötig, möglichst die ganze Breite der politischen Ansichten im Parlament vertreten zu haben. Deswegen stehe ich einem Mehrheitswahlrecht kritisch gegenüber, erkenne aber an, dass auch ein Mehrheitswahlrecht ein demokratisches Wahlrecht ist.

Ich hätte mir für die Wahlrechtskommission gewünscht, dass diese zunächst einmal eine Bestandsaufnahme aller Optionen eines Wahlrechts zusammenträgt und dann abgeschichtet debattiert, was demokratietheoretisch die beste Lösung wäre. Dies habe ich in meiner Stellungnahme für die erste Debatte zur Verkleinerung des Bundestages auch deutlich gemacht und in der Stellungnahme zur zweiten Debatte in der Wahlrechtskommission zur Verkleinerung des Bundestages noch mal spezifiziert. Dann hätte beispielsweise auch debattiert werden können, ob es nicht auch demokratietheoretisch denkbar ist, ein Wahlrecht zu schaffen, welches die Nichtwählenden berücksichtigt.

Ich mache kein Geheimnis daraus, dass aus meiner Sicht die beste Lösung ein reines Verhältniswahlrecht mit der Möglichkeit der Veränderung der Listen durch die Wählenden wäre. Durch Landeslisten wäre auch sichergestellt, dass jedes Bundesland ausreichend vertreten ist. Hier wäre für mich auch denkbar die Anzahl der Mandate pro Bundesland so zu vergeben, dass eine absolute Zahl an Stimmen gemessen an den Wahlberechtigten ein Mandat ergibt. Je mehr Nichtwählende, desto weniger Mandate.

Fazit

Das nunmehr beschlossene Wahlrecht ist vom Grundansatz her besser als das bisherige Wahlrecht, leidet aber am Systemfehler der Sperrklausel. Die Streichung der Grundmandatsklausel als Abmilderung des Systemfehlers Sperrklausel macht das nunmehr beschlossene Wahlrecht aus meiner Sicht verfassungsrechtlich angreifbar. Das wäre nicht nötig gewesen.

Die beste Variante eines Wahlrechts bleibt für mich allerdings ein Verhältniswahlrecht mit durch Wählende veränderbaren Listen ohne Sperrklausel.

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