Die Debatte um die eigentlich längst geklärte juristische Frage der Identität von Würde des Menschen und des Schutzes des Rechts auf Leben, die um die Wahl von Frauke Brosius-Gersdorf zum Bundesverfassungsgericht (BVerfG) aufgeführt wurde, hat sich an der Frage Schwangerschaftsabbruch festgemacht.
Art. 1 Abs. 1 GG (Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlicher Gewalt) und Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 3 GG (Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.) wurden in den vergangenen Tagen von 80 Millionen Spontanverfassungsrechtler*innen als identisch interpretiert, das Recht auf Leben als absolut und nicht mit andern Rechtsgütern abwägbar dargestellt. Vielleicht ist mir etwas entgangen, aber ich kenne keine*n Verfassungsrechtler*in, die diese Position vertritt.
Ich gebe gern zu, für Nichtjurist*innen ist die Sache mit der Würde und dem Schutz des Rechts auf Leben, in welches durch Gesetz eingegriffen werden darf, nicht ganz einfach zu verstehen. Es ging aber nie um eine rechtliche Debatte, es ging um die Instrumentalisierung einer angeblichen Rechtsposition für eine bestimmte Rechtslage, hier den Schwangerschaftsabbruch. Für andere Fallkonstellationen würde die vorgenommene Positionierung schlichtweg verneint werden.
Die Debatte um Identität von Würde des Menschen und Schutz des Rechts auf Leben, welches nicht abwägbar ist, hat einen Aspekt nur am Rande beleuchtet: Welche Auswirkungen wären mit dieser Position im Hinblick auf den Durchgriff des Staates auf Lebensentwürfe von Frauen und den weiblichen Körper verbunden. Es scheint tendenziell eine Position zu existieren, dass dieser Durchgriff eine Selbstverständlichkeit ist. Nach der Schwangerschaft ist nämlich vor dem Leben und der Verantwortung für ein Kind – und die Lasten tragen vor allem Frauen.
I.
Wenn es um Würde, den Schutz des Rechts auf Leben und die Unabwägbarkeit und damit Absolutheit von beidem geht stellt sich auch ohne juristische Vorbildung allein aus logischen Gründen eine Frage: Warum gibt es eigentlich den Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG mit der Einschränkung in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG, wenn doch Art. 1 Abs. 1 GG das Recht auf Leben absolut schützt? Wenn die Würde des Menschen identisch mit dem Schutz des Rechts auf Leben ist, dann ist Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG überflüssig. Er steht aber dennoch im Grundgesetz.
Vereinfachend besagt Art. 1 Abs. 1 GG, also die Würde des Menschen, dass Niemand zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf (Objektformel). In fast jeder juristischen Arbeit zu Art. 1 GG wird sich genau dieses Zitat finden, mit im Wesentlichen den gleichen Verweisen auf die Fundstellen. Das ist dann aber kein Plagiat, sondern sauberes juristisches Arbeiten.
Das im Grundgesetz abgegebene Bekenntnis zur Menschenwürde „steuert die Auslegung des gesamten Grundgesetzes“. (BeckOK GG/Hillgruber GG Art. 1 Vorb). Die Menschenwürde besagt, dass eine Person keine verfügbare Sache ist und niemandem gehört. In der juristischen Wissenschaft wird gestritten, ob Art. 1 Abs. 1 GG ein subjektives Grundrecht enthält oder „nur“ objektiver Verfassungsgrundsatz ist. Der Streit kann aber dahinstehen, denn in Literatur und Rechtsprechung ist anerkannt, dass eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit einem einschlägigen Grundrecht eingereicht werden kann.
Die Würde des Menschen ist unantastbar heißt, es gibt keine Möglichkeit der Abwägung. Dies bedeutet, dass die Verpflichtung zur Menschenwürde absolut gilt, die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen ist in aller Regel ausgeschlossen. Dies ist mehrfach in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts festgehalten worden und soweit ersichtlich einheitliche Meinung in der juristischen Literatur.
Bei einer Gleichsetzung von Würde nach Art. 1 Abs. 1 GG und Schutz des Rechtsb auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entstehen juristische und praktische Folgen, die sich nicht auflösen lassen, denn durch die Gleichsetzung ist auch das Recht auf Leben und sein Schutz absolut und keiner Abwägung zugänglich. Darauf haben seriöse Jurist*innen hingewiesen, so auch Frauke Brosius-Gersdorf. An dieser Stelle ein Zitat des eher konservativ einzuordnenden ehemaligen Verfassungsrichters Di Fabio: „Das Recht auf Leben und die Würde des Menschen sind keineswegs immer kongruent.“ (Dürig/Herzog/Scholz/Di Fabio GG Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 14)
Und jetzt sind wir beim Kern der Sache. Wer den Schutz des Rechts auf Leben mit der Menschenwürde gleichsetzt und damit unabwägbar macht, landet schlichtweg in einer Situation, in welcher der Mensch oder die befruchtete Eizelle oder der Embryo zum Objekt staatlichen Handelns gemacht wird. Das widerspricht aber der Menschenwürde. Dem Staat wird damit sogar den Weg geebnet unter Berufung auf seine Schutzpflicht den autoritären Staatsdurchgriff zu realisieren.
Um das zu sehen, muss nur von der aktuellen Debatte um die Absolutheit des Schutzes des Rechts auf Leben einer befruchteten Eizelle oder eines Embryos abstrahiert und die Absolutheit des Schutzes des Rechts auf Leben zu Ende gedacht werden. Seriöse Jurist*innen und Politiker*innen haben in den vergangenen Tagen auf vielfältige Beispiele hingewiesen, in denen es durch die Absolutheit zu kuriosen und nicht nachvollziehbaren Ergebnissen kommt (und nein, ich teile nicht alle nachfolgend aufgeführten Positionen, ich weise auf die Folgen einer Auffassung hin).
Noch mal kurz zurück zum Schwangerschaftsabbruch. Die persönliche individuelle Entscheidung, unter keinen Umständen einen Schwangerschaftsabbruch zu machen, ist selbstverständlich zu respektieren. Um diese individuelle Entscheidung geht es aber in der Debatte nicht. Wenn die gerade genannten Prämissen zur Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben gelten, dann gibt es im Fall, wo der Schwangeren durch die Schwangerschaft Lebensgefahr droht, einen unauflösbaren Konflikt. Ihr steht das Recht auf Leben unabwägbar zu, was streng genommen zu einer staatlichen Schutzpflicht führt, die zwingend einen Schwangerschaftsabbruch im Fall der Lebensgefahr durch Schwangerschaft vorschreiben müsste. Auf der anderen Seite soll das Recht auf (zukünftiges) Leben, welches keiner Abwägung zugänglich ist auch der befruchteten Eizelle/dem Embryo zustehen, mit der Folge, dass aus der staatlichen Schutzpflicht auch für dieses Leben selbst in einem Fall der Lebensgefährdung durch Schwangerschaft ein striktes Verbot des Schwangerschaftsabbruchs bestehen müsste. Welcher der beiden Schutzpflichten, die beide unabwägbar sind, soll der Staat hier nachkommen? Es ist offensichtlich, dass eine Auflösung des Konflikts unmöglich ist. Es können nicht beide jeweiligen Rechte auf Leben durchgesetzt werden.
Wird der Schutz des Rechts auf Leben mit der Menschenwürde als identisch angesehen und ist nicht abwägbar, darf unter gar keinen Bedingungen bei einer Person, bei welcher der Hirntod festgestellt worden ist, ein Behandlungsabbruch stattfinden und dürften somit die Geräte nicht abgeschaltet werden.
Das Urteil des BVerfG vom 20. Februar 2020 wäre schlicht verfassungswidrig, denn es normiert „als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ und erlaubt, sich dafür bei Dritten Hilfe zu suchen und soweit sie angeboten wird auch in Anspruch zu nehmen. Das BVerfG nimmt sogar auf die Menschenwürde Bezug.
Besonders spannend wird es, wenn die Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben auf Grund der Identität mit der Menschenwürde auf Corona-Maßnahmen angewendet werden würde. Das hätte nämlich zu ganz anderen Maßnahmen führen müssen. Wer ernsthaft eine Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben vertritt, kann nicht gegen eine Impfpflicht oder noch härtere Maßnahmen sein.
Die Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben auf Grund der Identität mit der Menschenwürde würde es verbieten in kriegerischen Auseinandersetzungen von der Waffe Gebrauch zu machen und auf andere Menschen zu schießen.
Auch ohne Unabwägbarkeit des Rechts auf Leben ergibt sich im Übrigen aus der Rechtsprechung des BVerfG eine aus Art. 1 Abs. 1 GG hergeleitete Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (und weil sich das eigentlich aus grundsätzlichen Anstandsnormen ergibt), welche den Entzug materieller Grundlagen für Bürgergeldempfangende und Asylsuchende nicht zulässt.
Die politische Instrumentalisierung der juristischen Debatte wird hier ganz klar deutlich. Wer der Meinung ist, Menschen könne das materielle Existenzminimum genommen werden, andererseits aber darauf abstellt, dass der Schutz des Rechts auf Leben absolut gilt, der dreht und wendet das Recht wie es ihm/ihr gerade nutzt.
II.
Es ist offensichtlich, dass die Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben Konsequenzen hätte, die unauflösbar und für eine demokratische Gesellschaft auch nicht wünschenswert sind.
Deswegen gibt es den Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 3 GG. In der juristischen Literatur und auch der Rechtsprechung ist unumstritten, dass Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG das Lebensrecht unter einen Gesetzesvorbehalt stellt – im Gegensatz zu Art. 1 Abs. 1 GG. Um es deutlich zu sagen, mit Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG ist es möglich das Recht auf Leben einzuschränken, aber selbstverständlich nicht mal so Hopplahopp, sondern unter strengen Regeln im Rahmen einer Abwägung. Einer Abwägung, der die Menschenwürde in Art. 1 GG nicht zugänglich ist.
Das BVerfG hat aus dem Grundrecht des Artikel 2 Abs. 2 GG die Pflicht des Staates „sich schützend und fördernd“ vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit zu stellen abgeleitet (vgl. BVerfGE 88, 203/251). Die Möglichkeit der Abwägung des Rechts auf Leben wird in der juristischen Literatur unter anderem damit begründet, dass sich die „Notwendigkeit staatlicher Tötung“ zum Beispiel im Polizeirecht und im Rahmen der Landesverteidigung nicht ausschließen lasse (vgl. BeckOK GG/Hillgruber GG Art. 1 Rn. 19). Andererseits folgt nach der Rechtsprechung des BVerfG aus der Menschenwürde, dass auch zur Abwehr eine Terrorangriffs Unschuldige nicht getötet und „für das Gemeinwohl geopfert“ werden (vgl. BVerfGE 115, 118) dürfen.
Der gewiss nicht linke Jurist und ehemalige Verfassungsrichter Di Fabio formuliert so: „Mit der Schutzpflicht des Staates eröffnet sich ein weites Feld von Fragen. Wie weit reicht die Schutzpflicht im Fall der Selbsttötung, wie weit im Fall der Abtreibung, der Lebensverlängerung unheilbar Kranker oder des wissenschaftlichen Experiments mit befruchteten Eizellen? (…) Steht die Plicht, menschliches Leben zu schützen, dem Grunde nach fest, beginnt die Diskussion um die verfassungsrechtlich gebotenen und erlaubten Mittel, im Untermaß und Übermaß. Einige dieser Probleme bekommt die Verfassungsdogmatik gut in den Griff, anderes bleibt als Grenzproblem nur näherungsweise juristisch lösbar“. (Dürig/Herzog/Scholz/Di Fabio GG Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 8). Im Ergebnis kommt nicht nur Di Fabio, sondern die ganz herrschende Meinung zum Ergebnis, dass das Recht auf Leben nicht schrankenlos gilt und die öffentliche Gewalt als ultima ratio menschliches Leben beenden oder Dritten erlauben kann, dies zu tun (vgl. Dürig/Herzog/Scholz/Di Fabio GG Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 37). Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz aus dem Jahr 2006 in Rn. 85 ausgeführt: „Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistet das Recht auf Leben als Freiheitsrecht (…). Mit diesem Recht wird die biologisch-physische Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit, gegen staatliche Eingriffe geschützt. (…) Obwohl es innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung einen Höchstwert darstellt (vgl. BVerfGE 39, 1 <42>; 46, 160 <164>; 49, 24 <53>), steht allerdings auch dieses Recht nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG unter Gesetzesvorbehalt. Auch in das Grundrecht auf Leben kann deshalb auf der Grundlage eines förmlichen Parlamentsgesetzes (vgl. BVerfGE 22, 180 <219>) eingegriffen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass das betreffende Gesetz in jeder Hinsicht den Anforderungen des Grundgesetzes entspricht.“
Juristisch unterliegt der Staat beim Schutz des Rechts auf Leben einer Abwägung, nur so können sich die praktischen Umsetzungsprobleme die bei einer Unabwägbarkeit auftreten, auflösen lassen. Di Fabio weist darauf hin, dass es bei Eingriffen in das Recht auf Leben auf die Verwertungsumstände, Interessenzusammenhänge, Zweck und Ziel ankommt – die Rechtsordnung darf menschliches Leben aber nicht als bloßes Objekt opfern. „Menschliches Leben darf in einigen Fällen von Dritten und in seltenen Fällen vom Staat beendet werden: Nothilfe, Notwehr, militärischer Einsatz. Die Erschießung des die Geisel tödlich bedrohenden Geiselnehmers nimmt ihm nichts von seiner Würde, die Tötung ist in seiner Tat als Risiko, als mögliche, als wahrscheinliche Folge von ihm selbst angelegt und verantwortet. Wer medizinische Hilfe einem Menschen nicht mehr leistet, der elend und aussichtslos vor dem Tod steht und ersichtlich keine Hilfe mehr will, wahrt dessen Würde und doch >tötet< er ihn bei nüchtern kausaler Betrachtung. Die Würde des Menschen verlangt insofern keinen absoluten Lebensschutz.“ (Dürig/Herzog/Scholz/Di Fabio GG Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 15).
Die Abwägung geschieht im Übrigen durch die sog. „Praktische Konkordanz“, d.h. ein Interesse darf nicht komplett hinter das gegenteilige Interesse zurücktreten, beide Interessen müssen zum Ausgleich gebracht werden. Das wiederum ist etwas, was eigentlich jede*r Politiker*in, zumindest wenn er/sie schon mal in einer Koalition war, verstehen müsste. Wenn sich immer nur eine Seite und das komplett durchsetzt, wird so eine Koalition nicht lange halten.
III.
An dieser Stelle lohnt sich noch mal ein Blick zurück in das Frühjahr 2020 und vor allem was die Absolutheit des Schutzes des Rechts auf Leben durch den Staat und damit die Unabwägbarkeit dieses Lebensschutzes im Hinblick auf Corona-Maßnahmen zur Folge gehabt hätte.
Im Frühjahr 2020, zu Beginn von Corona, gab es die heute fast vergessene Situation: Übertragungswege unklar, Anzahl der schwer erkrankten Personen mit zum Teil intensivmedizinischer Behandlung steigend, Anzahl der an und mit Corona sterbenden Menschen steigend, Anzahl der zur Verfügung stehenden Krankenhaus- und Intensivbetten inklusive nötigem Personal unklar. Klar war zu diesem Zeitpunkt nur eines: Es gibt eine erhebliche Infektionsgefahr, es ist nicht prognostizierbar wie der Verlauf bei einer Infektion sein wird, eine Infektion kann potentiell tödlich sein, ist aber nicht zwingend tödlich.
Vor diesem Hintergrund wurden Maßnahmen in den ersten Monaten verordnet, die aus bürgerrechtlicher Sicht die Haare zu Berge stehen ließen.
Bayern: Absolute Versammlungsverbote, auch für religiöse Zusammenkünfte, Betriebsuntersagung soweit sie Freizeitgestaltung dienen, Schließung von Ladengschäften des Einzelhandels mit Ausnahmen, Untersagung von Besuchen in Krankenhäusern, Ausgangsbeschränkungen („Das Verlassen der Wohnung ist nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt“.)
Berlin (Zusammenstellung von Verordnungen): Versammlungsverbote mit Ausnahmemöglichkeiten, Schließung von Ladengeschäften des Einzelhandels mit Ausnahmen u.a. Buchläden, Untersagung des Sportbetriebes, Untersagung von Krankenhausbesuchen mit Ausnahmen, Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum (allein, im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts, zusätzlich höchstens einer haushaltsfremden Person)
Im Vergleich zu diesen Eingriffen in die Grund- und Freiheitsrechte sind spätere Regelungen, die noch heute in einem bestimmten Spektrum für Aufregung sorgen, Pillepalle. Wer sich nicht impfen wollte, musste sich nicht impfen lassen (es gab nur die einrichtungsbezogene Impfpflicht) und konnte trotzdem weitgehend am sozialen Leben teilhaben, weil dies auf Grund der G-Regelungen auch mit einem Genesenennachweis oder einem Test möglich war.
Ausgangssperren, Besuchsverbote in Krankenhäusern, Versammlungsverbot – so laut wie einige Menschen heute gegen Maskenpflicht und Impfen wettern, so leise waren sie zum damaligen Zeitpunkt. Es ist menschlich, in dieser Zeit latent panisch gewesen zu sein, nur so war ja auch die Akzeptanz der Maßnahmen zu erklären. Es ist armselig, zu einem Zeitpunkt, in dem klar wurde, dass vor allem vulnerable Personen von schweren Verläufen und Todesfällen betroffen waren, die eigene Freiheit zu entdecken und diese absolut zu stellen.
Damals, also zu Beginn von Corona, wurde unter anderem formuliert: „Die Freiheitsrechte der Einwohner*innen müssen nach der Dogmatik des Grundgesetzes abgewogen werden gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Gewährleistung einer ausreichenden medizinischen Versorgung. Es gibt nach der Dogmatik des Grundgesetzes kein >Supergrundrechte<, so dass dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Beispiel kein Absolutheitsrang zusteht, dem alles nachgeordnet wird. (…) Allein die Würde des Menschen ist nach Art. 1 des Grundgesetzes (GG) unantastbar.“ Das gab ganz schön Haue. Noch schlimmer wurde es im September 2020 mit dem Hinweis, dass es kein Supergrundrecht auf Gesundheit und Leben gibt, Absolutheitsrang allein der Menschenwürde zukommt und „Eine Politik des Lebensschutzes, die darauf zielt, jegliches Risiko des Sterbens auszuschalten oder gar über den Willen von Menschen hinweg über deren Weiterleben zu entscheiden, wird dem Grundgesetz nicht gerecht und entspricht auch nicht der Rechtslage.“
Wenn nun aber der Schutz des Rechts auf Leben wegen der Identität mit Artikel 1 GG unantastbar wäre, dann wäre –wie bei der befruchteten Eizelle oder dem Embryo- eine staatliche Schutzpflicht gegeben gewesen, wirklich alles zu tun, um eine potentiell tödliche Infektion zu vermeiden, inklusive Impfpflicht, Ausgangssperren oder wegsperren infizierter Personen. Eine Horrorvorstellung, die aber Folge der Unabwägbarkeit der staatlichen Schutzpflicht für das Recht auf Leben ist.
Es ist ganz einfach: Wer für die Unabwägbarkeit des Rechts auf Leben gegenüber anderen Rechtsgütern und einer sich daraus ergebenden absoluten Schutzpflicht des Staates eintritt, kann nicht gegen eine Impfpflicht bei einer (potentiell) tödlichen Infektion sein.
IV.
Die angeblich juristische Debatte zur Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben wurde vor der Folie Schwangerschaftsabbruch geführt. In der Debatte ging es aber nicht darum, dass mit einer staatlich vorgeschriebenen Regelung zu diesem Thema die staatliche Verfügungsgewalt über Frauen(körper) verbunden ist. Es wurde auch nicht darüber debattiert, ob die Folge einer Gleichsetzung von Schutz des Rechts auf Leben mit der Menschenwürde und damit der Unabwägbarkeit des Schutzes des Rechts auf Leben im Hinblick auf die befruchtete Eizelle/den Embryo zur Begründung einer Austragungspflicht auch bei drohender Lebensgefahr für die Schwangere diese nicht zum „bloßen Objekt“ macht.
Ich weiß nicht woher die Selbstverständlichkeit kommt, mit der eine Gesellschaft meint entscheiden zu dürfen, wie eine Frau zu leben hat. Typen, die sich gar nicht mehr einbekommen wenn irgendwo auf einer Straße eine Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt wird und sie mit ihrer Karre nicht mehr durch die Gegend brettern können, meinen die Berechtigung zu haben zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen eine Frau ein Kind auszutragen (und später zu erziehen und zu betreuen) hat?
Die Entscheidung über die Austragung der Schwangerschaft sollte allein bei der Frau liegen. Die körperlichen und psychischen Folgen treffen allein sie. Eine gesellschaftlich vorgeschriebene, bei Zuwiderhandlung mit Strafe bedrohte, Austragungspflicht an Stelle der Frau zu treffen ist nicht nur anmaßend, sondern auch bevormundend.
Dies um so mehr, als es nicht wenige Erzeuger gibt, die keinerlei Verantwortung übernehmen. Es wäre ein spannendes Experiment zu sehen, wie die Entscheidung zur Austragungspflicht aussehen würde, wenn der Erzeuger (aus dem absoluten Schutz des Rechts auf Leben folgend) mit der Zeugung die Pflicht eingehen müsste, in gleichem Umfang wie die Frau Elternzeit zu nehmen, den gleichen Anteil an Care-Arbeit (als Betreuungs- und Erziehungsarbeit) zu leisten und in gleichem Umfang die Erwerbsarbeitszeit zu reduzieren.
Die Verfügung über die Frau endet nämlich derzeit nicht damit, dass eine Schwangerschaft auszutragen ist, sie geht nach der Geburt weiter. Irgendwer muss schließlich die Care-Arbeit machen. Frauen tragen diese ganz wesentlich, sie geben (zeitweilig) ihre Erwerbsarbeit auf oder reduzieren ihre Arbeitszeit – die Folge sehen sie, wenn sie irgendwann auf ihren Rentenbescheid schauen. Die Entscheidung für ein Kind ist immer eine Entscheidung deren Folgen viele Jahre nachwirken, wer sollte dies Entscheidung anders treffen als die Betroffene.
Es ist wohlfeil, wenn Männer sich darüber äußern und entscheiden, was Frauen zu tun haben, während sie selber sich ohne größere Anstrengungen jeglicher Verantwortung für das zu gebärende Leben und das geborene Leben entziehen können (Und komme jetzt keiner mit Unterhalt, das ist ja wohl das Mindeste).
Die Debatte um Schwangerschaftsabbrüche ist eigentlich eine um eine Austragungspflicht. Sie ist am Ende eine Debatte, in der Männer definieren wollen, wie Frauen zu leben haben. Vielleicht wird sie auch deshalb in dieser Heftigkeit geführt.
Ganz großer Text!
In IV wirst Du ganz kurz etwas emotional, aber sonst sehr sachlich und pointiert.
Danke!