Auf die Wissenschaft hören

Was früher in der Politik das „auf die Wähler:innen hören“ war, ist heute das „auf die Wissenschaft hören“.  Aber was meint das konkret?

Parteien sollen, so Artikel 21 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz, an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Das setzt zunächst erst mal voraus, dass Parteien zuhören müssen. Sie sollen sich anhören, was Wähler:innen zu sagen haben und auch was Wissenschaft und Wissenschaftler:innen zu sagen haben. Sie werden dann schnell feststellen, dass es weder DIE Wähler:innen noch DIE Wissenschaft gibt. Wähler:innen haben unterschiedliche Interessen und in der Wissenschaft gibt es unterschiedliche Wissenschaftszweige und -disziplinen. Diese sehen jeweils zunächst erst mal nur ihren Bereich und schauen zunächst nicht darauf, was die Folgen in anderen Bereichen sind. Das macht auch Sinn.

Politik muss meines Erachtens abwägen. Zwischen den verschiedenen Interessen der Wähler:innen und den verschiedenen Empfehlungen und Erkenntnissen aus der Wissenschaft. Voraussetzung für eine Abwägung ist aber, dass alle wichtigen Informationen bekannt und zur Kenntnis genommen werden. Soll heißen, wer wissenschaftliche Erkenntnisse ignoriert wird nicht abwägen können und wenn wissenschaftliche Erkenntnisse nicht öffentlich zugänglich sind kann auch nicht abgewogen werden.

Der Ruf nach der Wissenschaft war und ist insbesondere während der Corona-Pandemie laut geworden. Doch hier waren ganz häufig verschiedene Wissenschaften gemeint, auf die gehört werden soll. In den vergangenen knapp 1,5 Jahren gab es immer wieder neue Erkenntnisse. Das ist Wissenschaft und insofern ist es völlig normal, dass Wissenschaftler:innen auch mal Aussagen revideren. Während der Corona-Pandemie wurden viele Maßnahmen ergriffen, um Menschen zu schützen (kritische Auseinandersetzung dazu finden sich hier). Maßstab dabei war wahlweise die Anzahl der Infektionen oder die Überlastung des Gesundheitswesens oder beides. Der Kampf gegen Corona und der Schutz von Menschen vor einem tödlichen Verlauf ist Aufgabe von Politik. Und diese soll dabei unbedingt auf die Wissenschaft hören. Nun empfehlen aber aber möglicherweise die Epidemiologen:innen das eine und die Kinderärzte:innen, Kinderpsychologen:innen und Sozialwissenschaftler:innen etwas anderes. Auf welche Wissenschaft soll Politik dann aber hören?

Natürlich ist es völlig richtig, dass die Epidemiologen:innen aus ihrer wissenschaftlichen Sicht sagen, was aus epidemiologischer Sicht getan werden muss um die Verbreitung des Virus oder die Erkrankung zu verhindern oder zu erschweren. Die Kinderärzte:innen, Kinderpsychologen:innen und Sozialwissenschaftler:innen wiederum sollen bitte unbedingt artikulieren, was ihre Erkenntnisse im Hinblick auf ergriffene Maßnahmen und deren Folgen sind. Weil Politik nur aus diesem Mix an Erkenntnissen und Empfehlungen eine Abwägung zu treffen kann. Es ist ihre Aufgabe zu entscheiden, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, was sich langfristig ändern muss und wo besondere Intervention und Hilfe erforderlich ist.

In der Corona-Pandemie wurde im Hinblick auf Maßnahmen vor allem auf die Zahl der Infektionen und Erkrankungen geschaut. Die Aufforderung der Wissenschaft zu folgen war im Kern eine Aufforderung den Empfehlungen der Epidemiologen:innen zu folgen. Notwendig wäre aber m.E., dass auch die anderen Wissenschaftsdisziplinen gehört und deren Erkenntnis einbezogen werden, damit sich  Politik um langfristige Lösungen (und um globale Lösungen) bemüht  – um Resilienz. Es gab und gibt viel zu wenig Debatten was sich an Infrastruktur ändern müsste, um insbesondere eine Überlastung des Gesundheitswesens zu vermeiden. Wo sind die Investionen in Luftfilter in Schulen und Kindertageseinrichtungen? Wo ist der Ausbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes? Wo ein neuer Ansatz von Public Health? Was passiert konkret zur (auch langfristigen) Entlastung des Pflegepersonals? Wo sind die unkonventionellen Ideen um Kindern und Jugendlichen eine angemessene (Aus)Bildung zukommen zu lassen und den Kontakt mit Gleichaltrigen zu ermöglichen? Welche Einschränkungen im Hinblick auf Kinder und Jugendliche und ihre Chancengleichheit ist eine Gesellschaft bereit hinzunehmen? Welche Auswirkungen haben die Corona-Maßnahmen auch langfristig auf die menschliche Psyche?

Ich habe mal ein wenig im Internet gesucht und bin zum Beispiel auf die Leitlinien zur Prävention und Kontrolle der SARS-CoV-2-Übertragung in Schulen gestoßen. Hier wird aus meiner Sicht schön plastisch der Schaden und Nutzen von Maßnahmen aufgeschlüsselt und so Politik die Möglichkeit gegeben, in Kenntnis all dieser Fakten zu entscheiden. Besonders deutlich ist dies auf Seite 17, wo es um mobile Luftreinigungsgeräte geht. Einer wahrscheinlich positiven Wirkung auf den Infektionsschutz werden hier zum Beispiel ökologisch negative Folgen in Form eines hohen Ressourcenverbrauches gegenübergestellt. Und das zeigt auf, was Politik machen muss und wie schwer manchmal Entscheidungen sein können. Sollen ökologisch negative Folgen für den Infektionsschutz in Kauf genommen werden? In welchem Umfang?

Eine andere Forschung kommt zu dem Ergebnis, dass die „Schnelltests entscheidend für die sinkenden Infektionszahlen“ waren. Warum also sollten diese nicht zur neuen Normalität gehören? Zumal sie mittlerweile nicht mehr sehr teuer sind und aus meiner Sicht die Finanzierung derselben mindestens für Transferleistungsempfangende übernommen werden müsste.

Kurz und gut: „Auf die Wissenschaft hören“ bedeutet alle wissenschaftlichen Erkenntnisse soweit bekannt einzubeziehen, auch widersprüchliche.

 

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