Das Bundesverfassungsgericht hat eine Chance vertan. Es entschied am 23. Juli 2014 zum sog. menschenwürdigen Existenzminimum.
Schon ein Blick auf die Leitsätze macht deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht sich um eine klare Entscheidung herummogeln wollte. Das Bundesverfassungsgericht formulierte:
- Zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) dürfen die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden und muss die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein.
- Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich in Orientierung am Warenkorbmodell einzelne Positionen herauszunehmen. Der existenzsichernde Regelbedarf muss jedoch entweder insgesamt so bemessen sein, dass Unterdeckungen intern ausgeglichen oder durch Ansparen gedeckt werden können, oder ist durch zusätzliche Leistungsansprüche zu sichern.
Das Bundesverfassungsgericht stellt zwar richtig fest, dass das Grundgesetz dazu verpflichtet „tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen“ aber erlaubt „aus der grundsätzlich zulässigen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen nachträglich (…) einzelne Positionen herauszunehmen„. Das ist in sich widersprüchlich. Entweder ist „tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen„, dann ist aber nicht nachvollziehbar, dass „aus der grundsätzlichen statistischen Berechnung der Höhe existenzsichernder Leistungen (…) Position“ herausgenommen werden dürfen oder der erste Leitsatz läuft leer.
Bei der Verfassungsbeschwerde ging es um die Berechnung des Regelsatzes bei Hartz IV. Nun bin ich ja dafür, dass für die Sicherstellung einer menschenwürdige Existenz ein Grundeinkommen, mindestens aber eine soziale Mindestsicherung eingeführt, mit anderen Worten Hartz IV überwunden werden sollte. Doch das mache ich natürlich nicht zum Maßstab der Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
Das Bundesverfassungsgericht führt zunächst in Randnummer 74 völlig zu Recht aus, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „dem Grunde nach unverfügbar“ ist. Um einmal kurz abzuschweifen: Die Konsequenz aus dier Aussage wäre die sofortige Aufhebung der Sanktionen bei Leistungsbeziehenden und die Gewährung gleicher Leistungen für alle hier lebenden Menschen. Das würde im Übrigen bedeuten auch Asyluchenden und Geflüchteten die selben Leistungen zu zahlen, wie den Leistungsbeziehenden nach SGB II und SGB XII. Ich halte das für politisch richtig und angemessen.
Das Bundesverfassungsgericht führt in Randnummer 75 weiter aus, dass der Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums „sich nur auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung sowohl der physischen Existenz als auch zur Sicherung eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ erstreckt. Dem Gesetzgeber, so das Bundesverfassungsgericht stehe ein Gestaltungsspielraum in dieser Frage zu, aber es dürfe „keine Methode gewählt werden, die Bedarfe von vornherein ausblendet, wenn diese ansonsten als existenzsichernd anerkannt worden sind“ (Rdn. 78). Das Bundesverfassungsgericht will nur eine Kontrolle auf evidente Unzulässigkeit vornehmen und formuliert diesbezüglich in Randnummer 81: „Evident unzureichend sind Sozialleistungen nur, wenn offensichtlich ist, dass sie in der Gesamtsumme keinesfalls sicherstellen können, Hilfebedürftigen in Deutschland ein Leben zu ermöglichen, das physisch, sozial und kulturell als menschenwürdig anzusehen ist.“
Soweit so gut. Doch dann kommt in Randnummer 86 die Aussage: „Es lässt sich nicht feststellen, dass die Leistungen evident unzureichend festgesetzt sind.“ Und in Randnummer 87 heißt es dann: „Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lässt nicht erkennen, dass der existenzsichernde Bedarf offensichtlich nicht gedeckt wäre.“
Die Aussage ist so mindestens mutig. Das Bundesverfassungsgericht macht sich nicht die Mühe mit Statistischem Material zu belegen, dass der existenzsichernde Bedarf tatsächlich gedeckt ist. Hier hätte es ja einfach mal die realen Ausgaben den für Leistungsbeziehende angedachten Ausgaben gegenüberstellen können. Das Bundesverfassungsgericht formuliert in Randnummer 90 lediglich: „Es ist nicht zu erkennen, dass er relevante Bedarfsarten übersehen hätte.“ Das mag sein, aber es kommt nicht darauf an, ob relevante Bedarfsarten übersehen wurden, sondern darauf ob die angenommenen Beträge ausreichend sind den Bedarf zu decken. Darauf lässt sich das Bundesverfassungsgericht aber gar nicht ein. Es formuliert abstrakt: „Der Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts dient nach der Definition in § 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II dazu, die physische Seite des Existenzminimums zu sichern und dessen soziale Seite abzudecken, denn er umfasst auch die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens einschließlich der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Die Vorgaben der § 5 Abs. 1 Nr. 2a und § 10 SGB V, § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2a und § 25 SGB XI tragen der Fürsorgepflicht bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit Rechnung. Zudem sind nach § 21 SGB II auch besondere Mehrbedarfe zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz gedeckt und mit § 21 Abs. 6 SGB II liegt eine Regelung vor, die einen Anspruch auf Leistungen für einen unabweisbaren, laufenden, nicht nur einmaligen besonderen Bedarf vorsieht. Nach § 22 Abs. 1 SGB II werden die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen. Mit § 28 SGB II berücksichtigt der Gesetzgeber für Kinder und Jugendliche auch Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft.“
Es gibt sicherlich viele Dinge, die an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zu kritisieren wären, aber eine Sache will ich besonders hervorheben. In Randnummer 113 heißt es: „Die Entscheidung des Gesetzgebers, Ausgaben für Kraftfahrzeuge, alkoholische Getränke und Tabakwaren, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, Kantinenessen, chemische Reinigung, Vorstellungsgespräche sowie Prüfungsgebühren nicht als regelbedarfsrelevant anzuerkennen, begegnet keinen verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken.“ Ich frage mal umgekehrt: Welche verfassungsrechtliche Rechtfertigung gibt es denn, diese Sachen nicht als regelbedarfsrelevant anzusehen? Was bitte -um mal das einfachste Beispiel zu nehmen- machen Leistungsbeziehende nach dem SGB II bzw. SGB XII die in einer Gegend wohnen, wo es so gut wie keinen Anschluss an den Öffentlichen Personennahverkehr gibt? Ein Kraftfahrzeug ist doch hier die notwendige Bedingung um überhaupt am gesellschaftlichen Leben außerhalb der eigenen Gemeinde teilzunehmen. Aber hier gilt offensichtlich: Pech gehabt. Das erkennt das Bundesverfassungsgericht auch, denn es formuliert in Randnummer 114: „Mobilität ist nicht nur soziokulturell bedeutsam, um Teilhabe zu ermöglichen, sondern zum Beispiel in Lebenssituationen außerhalb der Kernortschaften mit entsprechender Infrastruktur auch mitunter erforderlich, um die Bedarfe des täglichen Lebens zu sichern. Künftig wird der Gesetzgeber auch mit Blick auf die Lebenshaltungskosten sicherstellen müssen, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf tatsächlich gedeckt werden kann.“ Und bis dahin? Wenn das Bundesverfassungsgericht hier ein Problem sieht, dann wäre es konsequent dies auch im Urteil so zu benennen und nicht einfach auf die Zukunft zu verweisen.
Mindestens interessant ist auch die Aussage in Randnummer 119: „Gegen die Regelung in § 20 Abs. 1 Satz 4 SGB II, wonach Bedürftige Mittel zur Bedarfsdeckung eigenverantwortlich ausgleichen und ansparen müssen, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht grundsätzlich nichts einzuwenden. Ein solches Modell ist mit dem Grundgesetz vereinbar, wenn die Höhe der pauschalen Leistungsbeträge für den monatlichen Regelbedarf es zulässt, einen Anteil für den unregelmäßig auftretenden oder kostenträchtigeren Bedarf zurückzuhalten. Es ist vorliegend jedenfalls nicht erkennbar geworden, dass existenzgefährdende Unterdeckungen eintreten.“ Woher nimmt das Bundesverfassungsgericht diese Weisheit? Oder erkennt das Bundesverfassungsgericht selber, dass das nicht stimmen kann. In Randnummer 120 führt es dann nämlich aus: „Nach der vorliegenden Berechnungsweise des Regelbedarfs ergibt sich beispielsweise die Gefahr einer Unterdeckung hinsichtlich der akut existenznotwendigen, aber langlebigen Konsumgüter, die in zeitlichen Abständen von mehreren Jahren angeschafft werden, eine sehr hohe Differenz zwischen statistischem Durchschnittswert und Anschaffungspreis. So wurde für die Anschaffung von Kühlschrank, Gefrierschrank und -truhe, Waschmaschine, Wäschetrockner, Geschirrspül- und Bügelmaschine (Abteilung 05; BTDrucks 17/3404, S. 56, 140) lediglich ein Wert von unter 3 € berücksichtigt. Desgleichen kann eine Unterdeckung entstehen, wenn Gesundheitsleistungen wie Sehhilfen weder im Rahmen des Regelbedarfs gedeckt werden können noch anderweitig gesichert sind.“ Wenn aber eine solche Gefahr besteht, dann muss doch gehandelt werden. Das Bundesverfassungsgericht setzt aber weder eine Frist bis zu einer neuen Berechnung noch erklärt es vor diesem Hintergrund diese Regelung als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Es sagt einfach: Es gibt durchaus eine Gefahr, aber nun gut, die nehmen wir jetzt einfach mal hin.
Mein Eindruck ist, dass das Bundesverfassungsgericht an der einen oder anderen Stelle tatsächlich ernste Probleme sieht, aber am Ende dies -vorläufig- konsequenzlos lassen wollte. Damit hat das Bundesverfassungsgericht eine Chance vertan.
Das wichtigste, nämlich die Abschaffung von Sanktionen, ist mit diesem Urteil wieder nicht geschehen. Man kann zwar daraus erkennen, dass Sanktionen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, aber mehr leider auch nicht. Ich wünschte mir endlich mal eine Grundsatzentscheidung dazu, weil das ist der Punkt, der die größten Existenzängste bei Beziehern von Sozialleistungen auslöst.
Dass der Satz generell zu niedrig ist, ist sicher auch wichtig, aber einige könnten schon wieder aufatmen, wenn die Sanktionen erst einmal weg wären.
die abschaffung der sanktionen -darauf verweise ich ja auch- wäre angemessen und richtig. die sanktionen sind ein zentraler bestandteil von hartz IV und deshalb hast du recht und sie gehören abgeschafft. allerdings konnte das bundesverfassungsgericht im konkreten nicht über die sanktionen entscheiden, weil die verfassungsbeschwerde sich nur auf den regelsatz bezog.