Die Entscheidung ist für mich aus vielerlei Gründen nicht wirklich nachvollziehbar. Geklagt hatten Parteien, die auf Grund einer Regelung im Wahlgesetz für einen Antritt zur Bundestagswahl Unterstützungsunterschriften beibringen müssen. Ich halte dies schon grundsätzlich für problematisch (1.) im konkreten Pandemiefall aber noch einmal mehr (2.).
Grundsatzproblem mit Unterstützungsunterschriften
In der herrschenden Literatur und vor allem in der Rechtsprechung ist die Voraussetzung, für einen Wahlantritt Unterstützungsunterschriften beibringen zu müssen (§ 20 Abs. 2 Satz 2 und § 27 Abs. 1 Satz 2 BWahlG), unstrittig. Zu Unrecht, finde ich.
Das Erfordernis von Unterstützungsunterschriften für parlamentarisch nicht vertretene Parteien stellt sich nach dem BVerfG (Rdn. 37) als Eingriff in das Recht auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG dar. Das ist richtig, denn es werden die Wahlvorschläge nicht zur Wahl zugelassen, die nicht die erforderlichen Unterstützungsunterschriften haben, was eine Einschränkung der Möglichkeit der Wahlteilnahme darstellt. (Das ist auf dieser Ebene der Abstraktheit im Übrigen genau dasselbe, wie die Nichtzulassung von nicht geschlechterparitätischen Listen).
Es kommt aber nicht auf den Eingriff an, sondern ob dieser gerechtfertigt ist. Und so wiederholt der 2. Senat in Randnnummer 38:
„Der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG unterliegt aber keinem absoluten Differenzierungsverbot. Zwar folgt aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der Parteien, dass dem Gesetzgeber nur ein eng bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt (…). Differenzierungen im Wahlrecht können aber durch Gründe gerechtfertigt sein, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann (…).“
Und damit fangen dann in Bezug auf das Unterschriftenquorum meine grundsätzlichen Bedenken an. Denn welcher von der Verfassung legitimierter Grund von gleichem Gewicht wie die Wahlrechtsgleichheit soll den Ausschluss von Parteien vor der Wahl rechtfertigen?
Der 2. Senat argumentiert nun (Rdn. 38) unter Verweis auf die ständige Rechtsprechung mit den mit der Parlamentswahl verfolgten Zielen, „zu denen insbesondere die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung gehören„.
Ausgeblendet wird aber, dass allein mit einer faktischen Sperrklausel (es ist überhaupt eine bestimmte Anzahl an Stimmen für einen Parlamentsitz erforderlich) und der politisch im Wahlgesetz verankerten Sperrklausel bereits ein zweifacher Schutz vorhanden ist. Wenn das BVerfG formuliert (Rdn. 38)
„Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Chancengleichheit liegt hingegen vor, wenn (…) die getroffene Regelung nicht geeignet und erforderlich ist, um die zulässigerweise verfolgten Ziele zu erreichen (…).“,
dann ist das hier sowas von offensichtlich gegeben. Doch anders wird dies vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung gesehen. Danach ist das Unterschriftenquorum gerechtfertigt, wenn und soweit es dazu dient (Rdn. 39)
„den Wahlakt auf ernsthafte Wahlvorschläge zu beschränken und so der Gefahr der Stimmenzersplitterung vorzubeugen„.
Das ist aus meiner Sicht vor dem Hintergrund des doppelten Schutzes (und auch, wenn man wie ich die politische Sperrklausel für falsch hält) paternalistisch vormundschaftlich vom Allerbesten. „Ernsthaft“ ist an dieser Stelle wohl tendenziell eher nicht als Gegensatz zu „spaßhaft“ zu verstehen, sondern als Gegensatz zu „erfolgreich“. Dies schlussfolgere ich aus der Randnummer 40. Der/Die Bürger:in soll also gar nicht in die Verlegenheit kommen, ihre/seine Stimme an eine Partei zu vergeben, die gar keine Chance hat ins Parlament zu kommen – weil das ist gleichwertig mit der Chancencengleichheit. Na holla. Undd damit das gar nicht erst passiert, schützt Vater Staat (zweifach) vor der Versuchung doch diejenigen zu wählen, die einem politisch am nähesten stehen, auch wenn diese Wahl möglicherweise nicht erfolgreich ist. Aus meiner Sicht zählt es aber zur Wahlfreiheit genauso dazu, völlig aussichstlose Kandidaturen zu unterstützen, wenn diese der politischen Überzeugung entsprechen. (Ob das politisch klug ist angesichts der faktischen Sperrklausel, ist eine andere Frage).
Absurd wird es allerdings wenn -in ständiger Rechtsprechung- argumentiert wird, dass das Unterschriftenquorum der Sicherstellung diene, dass die Wählenden nur ernsthafte Parteien wählen. Hier werde auch der Zweck verfolgt, „die Bildung handlungsfähiger und repräsentativer Verfassungsorgane zu ermöglichen“ und deshalb sei das Quourm „folglich auf die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments gerichtet„. Das Unterschriftenquorum hat damit Null komma Null damit zu tun.
Doch die absurde Argumentation ist noch nicht zu Ende. Der Wahlrechtsgleichheit gleichwertig ist nämlich auch der Aspekt der Verhinderung (Rdn. 40),
„dass die Stimmzettel unübersichtlich oder unhandlich werden und die Auswertung dadurch übermäßig erschwert wird.“
Hier übernimmt der 2. Senat mal am Rande eine Rechtsprechung des BayVerfGH ohne weitere Argumentation. Es kann doch nicht ernsthaft ein Argument sein, dass „die Auswertung übermäßig erschwert wird“. Welcher verfassungsrechtlich legitimierte Grund ist hier eigentlich gemeint?
Unterstützungsunterschriften in der Pandemie
Unabhängig von den Ausführungen zuvor herrschen nun aber mit der Pandemie besondere Zeiten. Zunächst aus meiner Sicht zutreffend und richtig ist, dass der 2. Senat in Rdn. 28 festhält, dass soweit „dem Grunde nach eine Handlungspflicht des Gesetzgebers besteht, (…) ihm bei der Wahrnehmung dieser Pflicht in der Regel ein weiter Gestaltungsspielraum eröffnet (ist). (…) Nur in seltenen Ausnahmefällen lässt sich der Verfassung eine konkrete Handlungspflicht entnehmen, die zu einem bestimmten Tätigwerden zwingt.“
Unabhängig von der Frage, ob die klagenden Parteien ihrer Substantiierungspflicht ausreichend nachgekommen sind. Scheint mir, dass die Ausführung in Randnummer 32 vom BVerfG nicht auf den konkreten Sachverhalt angewendet worden ist. Demnach hat der Gesetzgeber
„eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, wenn deren verfassungsrechtliche Rechtfertigung durch neuere Entwicklungen infrage gestellt wird. (…) Bei dem ihm gemäß Art. 38 Abs. 3 GG obliegenden Ausgleich der Wahlrechtsgrundsätze und der sonstigen Verfassungsgüter hat er sich an der politischen Wirklichkeit zu orientieren. (…) Folglich ist der Gesetzgeber verpflichtet, bei neu auftretenden Entwicklungen, die unvorhergesehene Gefahren für die Integrität der Wahl als zentralem demokratischen Legitimationsvorgang mit sich bringen können, die von ihm geschaffenen Regelungen zu überprüfen (…).“
Nun wird kaum jemand bestreiten, dass die mit der Corona-Pandemie einhergehenden Kontaktbeschränkungen, noch einmal verstärkt durch die Regelungen des § 28b IfSG, das Sammeln von Unterstützungsunterschriften deutlich erschweren. Wenn aber wegen dieses Umstandes nich ausreichend Unterschriften gesammelt werden können und deshalb eine Partei nicht zur Wahl antreten kann, gefährdet das aus meiner Sicht auch die Integrität der Wahl. Es scheint mir offensichtlich, dass hier eine ganz massive Einschränkung der Parteien stattfindet, die für einen Wahlantritt Untereschriften zu sammeln haben. Explizit verweist der 2. Senat darauf, dass schon für die Sperrklausel anerkannt ist, diese könne „nicht ein für alle Mal abstrakt beurteilt werden„. Vielmehr sei es so, dass „wenn sich die vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen (ändern) oder sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellten Prognosen als irrig (erweisen)„, der Gesetzgeber zu entscheiden habe, ob er die Normen beibehält oder anpasst.
Genau das ist hier aber m.E. gegeben und aus meiner Sicht muss, wenn der Gesetzgeber sich diese Frage nicht stellt, eben ein Gericht entscheiden. Der 2. Senat kommt aber gar nicht so weit. Er weist in Randnummer 48 darauf hin, die klagenden Parteien hätten die Pandemie-Verordnungen der einzelnen Länder und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Sammlung von Unterstützungsunterschriften darlegen müssen. Warum dies nun zwingend erforderlich sein soll, wenn der 2. Senat doch selbst erkennt, dass die „in der Vergangenheit vorrangig eingesetzten Möglichkeiten des persönlichen Kontakts und der spontanen Gesprächsaufnahme auf der Straße, auf öffentlichen Plätzen oder bei Veranstaltungen mit dem Ziel, Personen zur Abgabe von Unterstützungserklärungen zu gewinnen (…) in erheblich geringerem Maße eröffnet (sind) als unter normalen Umständen.“ Er sieht sogar, dass es „nicht fernliegend (ist), dass aus Angst vor einer Infektion eine geringere Zahl an Parteimitgliedern für das Sammeln von Unterschriften im öffentlichen Raum zur Verfügung steht„.
Um nun aber der sich aus meiner Sicht ergebenden Schlussfolgerung, Unterstützungsunterschriften herabsetzen oder für diese Wahl streichen zu entgehen, argumentiert der 2. Senat streng formalistisch (Rdn 52), dass die klagenden Parteien nicht hinreichend dargelegt haben, dass es eine Verengung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers dahin gibt, das Unterschriftenquorum auszuseten oder herabzusenken. Ich finde hingegen, dass das offensichtlich ist.
PS: Es ist ausgesprochen interessant, dass der Senat, der bei der Entscheidung zum Mietendeckel das explizit vorgetragene Argument des § 558 Abs. 2 Satz 2 BGB komplett ignoriert, nun einen ungenügenden Vortrag rügt.