Das BVerfG hat eine Entscheidung zu Eilanträgen in Bezug auf Ausgangssperren wegen der Corona-Pandemie getroffen. Also zu Ausgangssperren nach der Bundesnotbremse des § 28b IfSG, nicht zu den Ausgangssperren nach §28a der Länder. Also vielleicht.
Beide Aussage sind nicht trivial. Zum einen wird in Eilanträgen nicht so intensiv geprüft wie im Hauptsacheverfahren und zum anderen sind die Voraussetzungen für die Ausgangssperren der Länder in § 28a IfSG höher gesetzt als in der Bundesnotbremse des § 28b IfSG. Darauf hatte ich bereits hier hingewiesen.
Bei Eilanträgen geht es immer um die Frage, ob eine Regelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt wird. Eilanträge sind nur selten erfolgreich. Eine Aussetzung findet nämlich nur dann statt, wenn dies „zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist“. Kurz: Die Klagenden müssen nicht nur in der Sache Recht haben können, sie müssen auch so doll Recht haben, dass es de facto auf der Hand liegt, dass keine andere Entscheidung möglich ist. Das BVerfG beschreibt das immer so:
„Wegen der häufig weittragenden Folgen einer einstweiligen Anordnung ist regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (…). Wird die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt, gelten dafür besonders hohe Hürden (…). Denn das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen oder bereits das Inkrafttreten eines Gesetzes vorläufig zu unterbinden, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt.“
Das BVerfG muss bei einer Eilentscheidung also eine „was wäre wenn“ Abwägung machen. Diese sieht so aus:
„Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (…). Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile irreversibel oder auch nur sehr erschwert revidierbar sind.“
Im Hinblick auf diesen Maßstab sagt das BVerfG dass die Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet ist, d.h. die Klagenden könnten mit ihrer Verfassungsbeschwerde im Hauptsacheverfahren durchaus erfolgreich sein. Konkret heißt es beim BVerfG (Rdn. 27):
„Es ist offen, ob die angegriffenen Regelungen ‒ etwa hinsichtlich der formellen Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren betreffend die Mitwirkung des Bundesrats und der Verhältnismäßigkeit der Ausgangsbeschränkung ‒ mit der Verfassung vereinbar sind.“
Das BVerfG geht davon aus, dass es „nicht eindeutig und unzweifelhaft“ auf der Hand liegt, dass Ausgangssperren „zur Bekämpfung der Pandemie unter Berücksichtigung des Einschätzungsspielraums des demokratischen Gesetzgebers offensichtlich nicht geeignet, nicht erforderlich oder unangemessen“ sind. Das bedeutet nun aber nicht, dass es nicht doch auch so sein kann, dass Ausgangssperren nicht geeignet, nicht erforderlich oder unangemessen sind – es ist nur nicht eindeutig und unzweifelhaft so. Untersetzt wird das dadurch, dass das BVerfG deutlich macht, dass es hinsichtlich der Ausgangssperren noch einige offene Fragen gibt, die es dann wohl in der Hauptsacheentscheidung bewerten wird. So soll im weiteren Verfahren geklärt werden, ob wegen der vorgesehenen Testungen von Schüler- und Lehrerschaft bei Durchführung von Präsenzunterricht nicht eine Zustimmung des Bundesrates nötig gewesen wäre. Diese Frage sei als offen einzustufen (Rdn. 31). Die Geeignetheit der Ausgangssperren, das anvisierte Ziel zu erreichen, ist fachwissenschaftlich umstritten. (Rdn. 36). Und im Hauptsacheverfahren wird die Verhältnismäßigkeit der Ausgangssperren eingehender Prüfung bedürfen (Rdn. 39).
Für die Ablehnung der Eilanträge scheint mir das entscheidende Argument in Randnummer 48 aufgeschrieben zu sein.
„Allerdings ist auch der von der Ausgangsbeschränkung erfasste Zeitraum bei der Beurteilung der von ihr ausgehenden Belastungen in den Blick zu nehmen. Derzeit lässt sich davon ausgehen, dass die Mobilitätsrate unter Einschluss beruflich veranlassten Aufenthalts außerhalb der eigenen Wohnung im von der Regelung erfassten Zeitraum bei etwas mehr als 7% und jedenfalls unter 10% liegt (…). Die Ausgangsbeschränkung fällt damit in einen Zeitraum, in dem nach den bisherigen Verhaltensmustern Aktivitäten außerhalb einer Wohnung oder Unterkunft keine ganz erhebliche quantitative Bedeutung haben. Sie betrifft den Zeitraum von 22 Uhr bis 5 Uhr und lässt körperliche Bewegung im öffentlichen Raum noch bis 24 Uhr zu. Der Gesetzgeber hat die Beschränkung auf die regelmäßigen Ruhens- und Schlafenszeiten begrenzt (…).“
Das ist aus meiner Sicht jetzt nicht völlig absurd, die Besonderheiten der Entscheidung kommen aber erst noch. Das Bundesverfassungsgericht kommt nämlich im Hinblick auf die Abgrenzung zwischen den Landesausgangssperren und den Bundesausgangssperren zu einem Ja, Nein, Vielleicht.
Für die Bundesausgangssperren wird in § 28b Abs. 1 Nr. 2 wird als Voraussetzung lediglich normiert, dass in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an 3 aufeinderfolgenden Tagen die Inzidenz je 1000.000 Einwohner:innen innerhalb von 7 Tagen den Schwellenwert von 100 übersteigt. Die Ausgangssperren der Länder nach § 28a Abs. 2 Nr. 2 hingegen sind „nur zulässig, soweit auch bei Berücksichtigung aller bisher getroffenen anderen Schutzmaßnahmen eine wirksame Eindämmung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erheblich gefährdet wäre“. Die Hürden für Ausgangsbeschränkungen der Länder sind (theoretisch) also höher als in der Bundesregelung. Das BVerfG weist auf die unterschiedlichen Anforderungen an die Ausgangsbeschränkungen in § 28a und in § 28b hin (Rdn. 39) :
„Den in der Rechtsprechung einiger Oberverwaltungsgerichte angelegten Maßstäben verhältnismäßige Ausgangsbeschränkungen auf landesrechtlicher Grundlage (…) kommt hier schon wegen der in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG einerseits und § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG andererseits unterschiedlichen Voraussetzungen von Ausgangsbeschränkungen keine unmittelbare Bedeutung zu.“
Was die Abgrenzung nun angeht, wird es zumindest in meinen Augen dann aber ein wenig widersprüchlich. Zunächst heißt es in Randnummer 25, dass
„die vorläufige Außervollzugsetzung der bundesrechtlichen Ausgangsbeschränkung nicht die auf Grundlage des Landesrechts weiterhin bestehenden Grundrechtseingriffe beseitigen“
würden. Also mit anderen Worten: Selbst wenn die Bundesausgangssperre durch das BVerfG außer Kraft gesetzt werden würde, gibt es ja noch die Landesausgangssperren. In den Randnummern 51/52 wiederum wird dann argumentiert:
„Würde § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG durch einstweilige Anordnung vorläufig außer Vollzug gesetzt, erwiese sich die Regelung aber später als verfassungsgemäß, entfiele die Ausgangsbeschränkung als bundeseinheitlich wirkende Maßnahme der Infektionsbekämpfung, was ebenfalls Nachteile von erheblichem Gewicht verursachen könnte. Damit stünde ein für die gesetzgeberische Gesamtkonzeption der Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung nach § 28a und § 28b IfSG bedeutsames Instrument nicht mehr zur Verfügung.“
Das BVerfG nimmt bei der Argumentation, das Instrument der Ausgangssperre würde nicht mehr zur Verüfgung stehen, den §28a IfSG und damit die Landesausgangssperre explizt mit auf. Obwohl doch in Randnummer 25 etwas anderes steht. In der nachfolgenden Randnummer 53 argumentiert das BVerfG dann aber wieder anders.
„An der Beurteilung ändert auch der Umstand nichts, dass auf der Grundlage von § 28a Abs. 1 und 2 IfSG durch landesrechtliche Regelungen auch bei Außervollzugsetzung von § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG weiterhin Ausgangsbeschränkungen angeordnet werden können.“
Ja was denn nun? Steht das Instrument der Ausgangssperre nach § 28a IfSG nun zur Verfügung oder nicht. Klar ist jedenfalls etwas anderes.
Das BVerfG hat aber auch noch zwei andere interessante Ausführungen parat. Zum einen erklärt es, warum angeblich Ausgangssperren und Berufsausübung unterschiedlich behandelt werden dürfen. In Randnummer 35 heißt es nämlich:
„Gerade bei privaten Zusammenkünften würden die allgemeinen Regeln zur Vermeidung von Infektionen (Abstands- und Lüftungsregeln sowie das Tragen von Masken) weniger zuverlässig eingehalten als etwa bei beruflichen Kontakten am Tage.“
Woher es diese interessante These nimmt, bleibt unklar, denn an dieser Stelle wird einfach nur auf die Gesetzesbegründung verwiesen. Aber vielleicht ist das auch nicht weiter relevant, denn darauf kommt es ja nicht an. Denn das BVerfG sagt in Randnummer 36:
„Zum einen ist ohnehin grundsätzlich nicht in jedem Fall erforderlich, dass der Gesetzgeber seine Einschätzung auf wissenschaftliche Studien stützen kann oder im Gesetzgebungsverfahren darauf gestützt hat.“
Das ist schon ein ziemlicher Hammer. Weil worauf soll sich denn bitte Pandemiebekämpfung stützen, wenn nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Um nicht falsch verstanden zu werden, ich bin sehr dafür im Rahmen der Pandemiebekämpfung (vor allem aber auch im Hinblick auf Resilienz) vielfache wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Also Erkenntnisse z.B. von Virologen:innen, Aerosolforscher:innen, Psychologen:innen, Sozialaforscher:innen, Armutsforscher:innen und Rechtswissenschaftler:innen. Nur eine Berücksichtigung verschiedener Wissenschaftsdisziplinen und eine Abwägung aller gesellschaftlichen Folgen von Maßnahmen ist aus meiner Sicht eine grundgesetzkonforme Pandemiebekämpfung, denn es gibt keine Supergrundrechte, allein die Würde des Menschen ist der Handlungsmaßstab.
Angesichts dieser Aussagen ist ja schon fast erleichternd festzustellen, dass das BVerfG immerhin in Randnummer 47 anerkennt, dass die Ausgangssperren eine harte und tiefe Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten darstellen und darauf hinweist, dass die
„mit der Ausgangsbeschränkung unmittelbar oder mittelbar verbundenen Beschränkungen der Ausübung unterschiedlicher Freiheiten (…) von den Betroffenen nicht außerhalb des von der Beschränkung erfassten Zeitraums oder nach dem Ende der Geltungsdauer der angegriffenen Regelung kompensiert werden (können). Die Möglichkeit der Wahrnehmung von Freiheiten während der Geltung der Ausgangsbeschränkung ist insofern unwiederbringlich verloren. Das erweist sich als erhebliche Belastung, die bei Ausbleiben einer einstweiligen Anordnung entweder bis zu einer Feststellung der Verfassungswidrigkeit in den Hauptsacheverfahren oder bis zum Ende der derzeitigen Geltungsdauer der Regelung (§ 28b Abs. 10 IfSG) anhält.“