Als ich zum ersten Mal von der Idee eines Paritätsgesetzes hörte, regte sich in mir spontan juristisches Unwohlsein. Wie soll das denn mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar sein? Ich kann insofern jede*n verstehen, der spontan rechtliche Bedenken entwickelt. Das ist legitim und über juristische Dinge lässt sich immer (und meist gut) streiten.
Nachdem nun der Brandenburger Landtag sein Paritätsgesetz beschlossen hat, begegnen mir aber zunehmend Spontanverfassungsrechtler. Meist hat deren Argumentation wenig mit rechtlichen Bedenken zu tun. Es geht eher um ein Gefühl der Diskriminierung von Männern.
Aber der Reihe nach. Was steht eigentlich im Gesetz (mann/frau muss bis auf S. 43 scrollen)?
1. Die Parteien müssen geschlechterparitätisch Listen aufstellen.
2. Ist die geschlechterparitätische Liste erschöpft, kann nur noch eine weitere Person auf der Liste benannt werden.
3. Personen, die nach dem Personenstandsgesetz weder dem einen, noch dem anderen Geschlecht zugeordet werden können, entscheiden für die Dauer der Wahlversammlung, ob sie auf der weiblichen oder auf der männlichen Liste kandidieren wollen.
4. Eine gibt eine Ausnahmeregelung für Parteien, die qua Satzung nur ein Geschlecht aufnehmen und vertreten wollen.
Würde ich nur in meiner Twitterblase leben, hätte mit dem Paritätsgesetz der wahlrechtliche Weltuntergang stattgefunden. Lauter Spontanverfassungsrechtler agitierten hinsichtlich der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Mit dem einen oder der anderen tatsächlichen Jurist*in war eine argumentative Auseinandersetzung durchaus möglich, ansonsten gab es aber mehrheitlich viel Oberflächliches zu lesen. Das fing schon damit an, dass immer gesagt wurde, es handelt sich um einen Eingriff in die Wahlrechtsgrundsätze. Das bestreitet aber so gut wie niemand. Ist es. Wie es auch an vielen anderen Stellen Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze gibt. Die Frage ist, ob es für diesen Eingriff in Wahlrechtsgrundsätze eine Rechtfertigung gibt. Ich meine, dass dies der Fall ist.
Ich interessiere mich seit Jahren für das Wahlrecht (deswegen gibt es unter dem Stichwort Wahlrecht hier im Blog auch einiges zu finden), auch jenseits der Debatte um eine Paritätsgesetz. Ich habe als Sachverständige an der Anhörung zum Paritätsgesetz in Brandenburg teilgenommen und dort eine Stellungnahme abgegeben. Und ich hatte das Glück ein Jahr lang, rund um die Uhr, zum Thema Paritätsgesetz in der Bibliothek zu sitzen, zu recherchieren und dazu zu schreiben (das Ergebnis dieser Tätigkeit ist an der Uni Kassel eingereicht).
Im Kern gibt es aus meiner Sicht vier Argumentationsstränge, die für die Verfassungsmäßigkeit des Paritätsgesetzes sprechen. Aber es ist gut, wenn die Frage von einem Verfassungsgericht geklärt wird.
1. Es gibt eine strukturelle Diskriminierung von Frauen in der Politik. Das ist keine juristische Feststellung, sondern eine, die sich im realen Leben in der Politik immer wieder zeigt, mittlerweile aber auch in der Soziologie und anderen Wissenschaften debattiert und untersucht wird. Genau das wird aber von sehr vielen der Spontanverfassungsrechtler nicht gesehen. Ich empfehle diesen deshalb mal ungeordnet: Hoecker, ZParl 2011, S. 50 ff.; Schmidt, Der Fortschritt ist eine Schnecke; Chojecka, Deutschlandreport: Eine Analyse der Aufstellung von Kandidatinnen und Kandidaten für die Bundestagswahl 2013 unter Gleichstellungsaspekten; Eimer, Lokale Disparitäten: Ursachen der Frauen(unter‐)repräsentanz in deutschen Stadträten; Schöler-Macher, Elite ohne Frauen. Erfahrungen von Politikerinnen mit einer männlich geprägten Alltagswirklichkeit in Parteien und Parlamenten und Hoecker, Politische Partizipation zwischen Konvention und Protest. Wer dem einen oder anderen Literaturhinweis nachkommt, wird das magische Dreieck aus Sozio-ökonomischen Faktoren (Bildung, Erwerbsarbeit, Einkommen, Zivilstand), institutionellen Faktoren (Regierungs-, Partei- und Wahlsystem, Systemen der Interessenvermittlung, Karrieremustern, Nominationspraktiken) und Politischer Kultur/Sozialisation (Werte, Einstellungen, Normen über Politik und politisches Verhalten, Geschlechterstereotypen, exkludierende Verhaltensweisen, Handlungsorientierungen) stoßen, die zur strukturellen Diskriminierung von Frauen in der Politik beitragen.
2. Es gibt Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz und in Brandenburg Art. 12 Abs. 3 S. 2 Landesverfassung. Der Artikel 3 Abs. 2 S. 2 enthält einen Handlungsauftrag an den Staat. Er lautet:
„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“
Gleiches gilt für Artikel 12 Abs. 3 S. 2 der Verfassung Brandenburg. Dieser wiederum lautet:
„Das Land ist verpflichtet, für die Gleichstellung von Frau und Mann in Beruf, öffentlichem Leben, Bildung und Ausbildung, Familie sowie im Bereich der sozialen Sicherung durch wirksame Maßnahmen zu sorgen.“
Vergleichbare Handlungsaufträge gibt es weder für Jugendliche noch für Menschen mit Migrationshintergrund.
Im Hinblick auf ein Paritätsgesetz hat der Bayrische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2018 entschieden:
„Es genügt festzuhalten, dass Art. 118 Abs. 2 Satz 2 BV zwar im Grundsatz als Legitimationsgrundlage für eine gesetzliche Quotenregelung herangezogen werden kann, daraus aber in aller Regel nur ein Recht, keine Pflicht zu einer solchen Regelung erwachsen kann.“
Wenn nun aber Art. 118 Abs. 2 BV wortidentisch mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetz ist, hat ein Landesverfassungsgericht bereits entschieden, dass dieser zur Rechtfertigung (und um diese geht es) herangezogen werden kann. Der Bayrische Verfassungsgerichtshof sagt sogar, dass aus diesem Artikel ein Recht zu einer Paritätsregelung gezogen werden kann.
3. Das Demokratieprinzip des Grundgesetzes meint in Bezug auf die mittelbare, also parlamentarische Demokratie, dass mit den Wahlen die Bevölkerung Menschen mit der Repräsentation beauftragt. Es enthält also einen Repräsentationsaspekt. Mir scheint allerdings, dass vielen der Spontanverfassungsrechtler nicht bekannt ist, dass es bei diesem Repräsentationsaspekt sowohl darum geht, welche Rolle die Repräsentanten bei der Willensbildung spielen (inhaltliche Repräsentation), als auch wie sich die „Vertretung des ganzen Volkes“ darstellt (deskriptive Repräsentation). Letztere soll sicherstellen, dass die Vertretung bzw. Vermittlung der unterschiedlichen Willen der Gesamtbevölkerung gewährleistet ist, was aber zwingend voraussetzt, dass das Parlament auch irgendwie ein Abbild der Bevölkerung darstellt. Das ist derzeit nicht unbedingt gegeben. Zumindest mit Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG wäre aber eine Möglichkeit gegeben dies im Hinblick auf Frauen zu ändern.
4. Es gibt im Wahlrecht weit mehr Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze als durch ein Paritätsgesetz. Dies scheint den Spontanverfassungsrechtlern komplett entgangen zu sein. Es gibt Ausschlüsse vom Wahlrecht (also es werden komplett Gruppen von der Möglichkeit zu wählen oder gewählt zu werden ausgeschlossen). Für einen Teil davon gibt es eine -da wiederum zum Teil strittige- Rechtfertigung durch Regelungen im Grundgesetz, für andere findet sich diese nicht im Grundgesetz. Es gibt Eingriffe in das freie Wahlvorschlagsrecht, also das Recht zur Kandidatur anzutreten (Monopol der Parteien bei Listenaufstellung und Unterschriftenquorum für eine Kandidatur) und es gibt Eingriffe in die Wahlrechtsgrundsätze durch einen ungleichen Erfolgswert der Stimmen (Sperrklausel, Überhang- und Ausgleichsmandate).
In der ganzen Debatte scheint ein Missverständnis vorzuliegen. Das Missverständnis, Wahlrechtsgrundsätze seien nicht einschränkbar. Das sind sie aber. Das passiert derzeit schon. Die Anforderungen für Einschränkungen hat das Bundesverfassungsgericht (Rdn. 25 ff.) klar benannt:
„Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl unterliegt aber keinem absoluten Differenzierungsverbot. Aus Art. 38 Abs. 2 GG (…) ergibt sich nicht, dass der Gesetzgeber in Wahrnehmung seiner Regelungsbefugnis gemäß Art. 38 Abs. 3 GG nicht weitere Bestimmungen über die Zulassung zur Wahl treffen dürfte. Allerdings folgt aus dem formalen Charakter des Grundsatzes, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der aktiven und passiven Wahlberechtigung nur ein eng bemessener Spielraum für Beschränkungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Beschränkung gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen (…). Sie können nur durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens gleichem Gewicht wie die Allgemeinheit der Wahl sind (…). Es ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, verfassungsrechtlich legitime Ziele und den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl zum Ausgleich zu bringen (…). Das Bundesverfassungsgericht achtet diesen Spielraum. Es prüft lediglich, ob dessen Grenzen überschritten sind, nicht aber, ob der Gesetzgeber zweckmäßige oder rechtspolitisch erwünschte Lösungen gefunden hat (…). Das Bundesverfassungsgericht kann daher, sofern die differenzierende Regelung an einem Ziel orientiert ist, das der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts verfolgen darf, einen Verstoß gegen den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nur feststellen, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Zieles nicht geeignet ist oder das Maß des zur Erreichung dieses Zieles Erforderlichen überschreitet (…).“
Ob das Paritätsgesetz diesen Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts entspricht, ist juristisch umstritten. Ich bin davon überzeugt: Es ist so. Andere Juristen*innen sehen das anders. Über diese Frage lässt sich also trefflich streiten.
Die Spontanverfassungsrechtler waren aber von solchen Debatten weit entfernt. Die meisten von ihnen waren im Empörungsmodus. Es kamen nicht ein einziges Mal der Hinweis auf bestehende Einschränkungen der Wahlrechtsgrundsätze oder die Kriterien der Rechtfertigung des Bundesverfassungsgerichts. Stattdessen wurde entweder die Existenz struktureller Benachteiligung ignoriert oder auf „Qualifikation“ abgestellt, die auf einmal verloren gehen würde. Ich halte es da mit Wolfgang Kubicki: „Bei Aufstellungen zu Wahlen gibt es keinen objektivierbaren Qualitätsmaßstab, … .“
In der Sache, also in der Frage, ob ein Paritätsgesetz den rechtlichen Anforderungen an eine Einschränkung der Wahlrechtsgrundsätze gerecht wird, kann gestritten werden. Ich bin, Wiederholung, davon überzeugt. Dieses Mimimi ohne Argumente aber, weil es auf einmal so ist, dass nicht mehr auf jedem Platz ein Mann kandidieren kann, das ist einfach nur lächerlich und zeugt so ganz nebenbei auch von wenig Selbstbewusstsein.
(update: Am 8. Februar erschien in der Süddeutschen Zeitung dieser kurze und präzise Artikel der ehemaligen Verfassungsrichterin Hohmann-Dennhardt zur Verfassungsmßigkeit eines Paritätsgesetzes).
Alles richtig. Die Frage ist nur wenn man der Logik weiter folgt, ob man dann auch Quoten für Migranten, Behinderte, Menschen mit großer Nase oder kleiner Nase einführen muss. Ein Demokratieverständnis war immer, dass sich Menschen zur Wahl aufstellen lassen, die etwas zu sagen haben und sich als Volksvertreter für das Gemeinwohl sehen. Dieses erfolgt letztlich innerhalb von Parteien, die je nach ihren Interessen ihre Kandidaten selbst wählen, nach ihren Bedürfnissen und Interessen. Denn Parteien stehen für Interesse pur. Sie sind Interessenvertreter. Bei der FDP z.B. gilt das Interesse ihre Klientel der Zahnärzte und Rechtsanwälte zu vertreten. Bei der Linken das der Arbeiter und Prekären. Worum es in Politik geht ist völlig unabhängig von Gender sondern rein sozioökonomisch ein Interessensausgleich durch ein parlamentarisch demokratisches System.
zur frage: nein, es fehlt an einer art. 3 abs. 2 s. 2 gg vergleichbaren rechtfertigungsnorm… ich glaube das binäre bild von parteien ist überholt.
Bei der Entscheidung des bayrischen Verfassungsgerichtshofs muss man aber auch sehn, dass er ausdrücklich offen gelassen hat, ob bei der Parteienfreiheit eine Rechtfertigung von substanziellen Beschränkungen durch konkurrierende Verfassungsaufträge in Betracht kommt, und die näheren Ausführungen dazu klingen jedenfalls für mich eher verneinend. Außerdem sagt er auch noch, dass das Gebot innerparteilicher Demokratie selbst gegen von der Partei selber gesetzte Quoten steht (wenn auch nicht zwangsläufig ausschließt).
Meines Erachtens kann man einen Paritätsanspruch nur außerhalb der Parteienstrukturen realisieren, oder man muss eben die Parteienfreiheit im Grundgesetz so einschränken, dass letztlich nur noch breit aufgestellte Volksparteien zulässig sind. Wenn man nicht gleichzeitig den Parteien ein Politikmonopol gibt (das sie derzeit nicht haben), bleibt dann noch das Problem von Einzelbewerbern und dergleichen.
die einschätzung zum bayverfgh und der parteienfreiheit teile ich weitgehend – das wird die eigentlich spannende debatte, die er offen lässt. ich glaube für parteien in der form der wahlvorbereitungsorganisationen ist art. 3II2 ein rechtfertigung. einzelbewerber*innen sind nicht betroffen durch die regelung.
Ich glaub eigentlich eher, dass Eingriffe gerade bei „Parteien in der Form der Wahlvorbereitungsorganisationen“ besonders kritisch sind, weil da die Wahlrechtsgrundsätze noch dazukommen. Dass bei denen Eingriffe zu rechtfertigen sind, kann doch nicht heißen, dass es bei deren Hinzutreten insgesamt schwächer wird.
Allgemein scheint mir, dass du das Problem mit der Parteienfreiheit überwiegend oder ausschließlich auf der formellen Ebene siehst. Da kann man gewisse Sachen schon regeln, aber für mich geht es hier schon an die inhaltliche Substanz. Zumindest für manche Leute ist das ja gerade die Motivation, andere Inhalte in die Politik zu bringen oder die Schwerpunkte zu verschieben. Ich seh da durchaus einen Sinn, aber das kann man nicht allen Parteien gleichmäßig vorschreiben, ohne damit das politische System ganz grundlegend zu verändern, was dann eben auch eine Verfassungsänderung erfordert.
ich gebe dir insoweit recht, dass die rechtfertigung von parität über das parteienrecht noch schwieriger ist, als über das wahlrecht. allerdings sind parteien deshalb privilegiert, weil sie quasi als schnittstelle zwischen öffentlichem recht (wahlrecht) und parteien als privatorganisationen liegen. solange es nicht um wahlen geht, können die parteien weitgehend machen was sie wollen. allerdings, siehe auch parteienfinanzierung, wenn öffentliche aufgaben von parteien hinzukommen, dann glaube ich schon, dass es mögichkeiten gibt (geben muss) das öffentliche interesse zu berücksichtigen.
Wahlen sind halt das Kerngeschäft von Parteien; Wahlteilnahme ist nach PartG sogar Voraussetzung für ihre Existenz.
Öffentliche Aufgabe der Parteien ist neben der Wahlteilnahme eigentlich gerade die Einwirkung auf den Staat im Weg der Meinungsbildung. Das BVerfG hat die Parteienfinanzierung beschränkt, um sicherzustellen, dass sich das nicht umdrehn kann. Dass das BVerfG heute einer völlig konträren Argumentation was abgewinnen könnte, halt ich für ziemlich ausgeschlossen.
kein widerspruch. sehe das eher als ergänzung. gerade aus dieser hervorgehobenen rolle der parteien leitet sich ja m.e. ab, dass sie im falle der wahlbeteiligung verpflichtet werden können einen handlungsauftrag des staates umzusetzen.