Nach jeder Wahl gibt es die gleichen Aussagen. Politiker*innen aller Parteien sprechen davon, dass sie ihre Wähler*innen gewonnen oder verloren haben und dass es darum geht „unsere“ Wähler*innen wiederzugewinnen oder zu halten.
Das Wort „unsere“ macht nun einen Eigentums- oder Besitzanspruch deutlich, der m.E. ein wesentliches Element von Wahlen verkennt. Ein wesentliches Element von Wahlen ist, dass mit jeder neuen Wahl die Wähler*innen neu gewonnen werden müssen. Es gibt kein Abo auf ein Kreuz bei Wahlen. Ich kann mit meiner Politik Wähler*innen verlieren oder hinzugewinnen. Und die Wahlentscheidung für eine Partei hat bei den Einen den Grund X und bei den Anderen den Grund Y. Ein Verständnis von einer monolithischen Wählerschaft für Partei Z oder Partei A verkennt aus meiner Sicht die Differenzierungen innerhalb der Gesellschaft und politischen Einstellungen.
Um es mal praktisch zu machen: Für mich war bei der Europawahl entscheidend, ob eine Partei ein klares Bekenntnis zu Europa abgegeben hat. Ich selbst hätte gern die Republik Europa, aber soweit würde ich jetzt bei der Wahlentscheidung nicht gehen. Unter den Parteien, bei denen ich ein klares Bekenntnis zu Europa sah, habe ich dann nach glaubwürdigem Personal und Einzelpositionen geschaut. Wenn aber eine Partei kein klares Bekenntnis zu Europa abgegeben hat, dann schaute ich weder auf Personal noch auf Einzelpositionen. Andere Wähler*innen haben andere Prioritäten.
Bei der Bundestagswahl oder bei Landtagswahlen ist für mich in erster Linie entscheidend, ob eine Partei Bürgerrechte und Demokratie konsistent und glaubhaft verteidigt und dabei eine Position offener Grenzen vertritt. Für mich ist entscheidend, ob eine Partei im Gestus der Aufklärung Politik macht oder im Gestus des Populismus und der Vereinfachung. In einem zweiten Schritt schaue ich dann, was an weiteren Positionen (zum Beispiel in Bezug auf Klimawandel, Globalisierung, Sozialpolitik) hinzukommt und welches Personal zur Auswahl steht. Andere Wähler*innen haben andere Prioritäten.
Hinsichtlich der Präferenz von Wählenden gibt es vielfältige Untersuchungen seit vielen Jahren. Interessant aus meiner Sicht ist zum Beispiel diese Tabelle zur soziostrukturellen Merkmale der Wahlberechtigten nach Parteipräferenz im Jahr 2016 und zum Erwerbsstatus 2002 und 2016 (S. 598 und 599).
Seit nunmehr mehreren Jahren beobachte ich, wie in und um die Partei DIE LINKE. vertreten wird, diese müsse die Erwerbslosen und Arbeiter*innen endlich wieder vertreten, diese Wähler*innen zurückgewinnen. Nun weiß ich, dass es historisch so war, dass die Arbeiterparteien vor allem die Arbeiterklasse vertreten wollten. Wenn ich mir aber die Zahlen seit den 90er Jahren anschaue, gab es die große Anzahl der Wähler*innen aus Erwerbslosen und Arbeiter*innen für die PDS nie und blieben die Werte für die LINKE insbesondere bei den Arbeiter*innen bis 2009 konstant. Ein Blick auf die Statistik zeigt:
- 1990 waren unter den Wähler*innen der PDS/LL 1% Arbeiter*innen und 1% Angestellte.
- 1994 waren unter den Wähler*innen der PDS 12% Arbeitslose und 5% Arbeiter*innen
- 1998 waren unter den Wähler*innen der PDS 13% Arbeitslose und 6% Arbeiter*innen
- 2002 waren unter den Wähler*innen der PDS 11% Arbeitslosen und 4% Arbeiter*innen
- 2005 waren unter den Wähler*innen von DIE LINKE 25% Arbeitslose und 12% Arbeiter*innen
- 2009 waren unter den Wähler*innen von DIE LINKE 31% Arbeitslose und 35% Arbeiter*innen
- 2013 waren unter den Wähler*innen von DIE LINKE 21% Arbeitslose und 12% Arbeiter*innen
- 2017 waren unter den Wähler*innen von DIE LINKE 15% Arbeitslose und 10% Arbeiter*innen
Interessanterweise ist die Zahl der Wähler*innen der PDS/DIE LINKE unter den Angestellten ungefähr gleich groß wie die Zahl der Angestellten, im Jahr 2009 überstieg sie mit 40% aber noch die Zahl der Arbeiter*innen. Dass Zahlen nicht immer ganz einfach sind, zeigt sich auch an der Tabelle zum Ewerbsstatus 2002 und 2016 von Wähler*innen (S. 599). Demnach ging der Anteil der Erwerbslosen unter den PDS bzw. DIE LINKE-Wähler*innen von 16% auf 5% zurück und der Anteil der Arbeiter*innen von 35% auf 22%, während der Anteil der Angestellten stieg.
Es wird aus meiner Sicht bei Wahlauswertungen in der LINKEN häufig ein Mythos bedient. Der Mythos, die PDS/DIE LINKE. habe mal in großer Anzahl die Erwerbslosen und Arbeiter*innen vertreten und das sei verloren gegangen. Wer sich die Tabellen anschaut, wird feststellen, dass die Arbeiter*innenklasse noch immer überproportional ihre Stimme bei den anderen Parteien abgegeben hat. Wenn nun aber dieser Mythos ständig aufrechterhalten wird, ist keine zukunftsfähige Politik möglich. Statt diesen Mythos zu bedienen scheint es mir notwendig, sich der Differenziertheit der Gesellschaft zu stellen und zu versuchen, ein differenziertes Angebot an differenzierte Wähler*innen zu machen. Möglicherweise sogar Formen zu entwickeln, in denen differenzierte Wähler*innen ihr Anliegen direkt vortragen und einbringen können. Es ist m.E. notwendig deutlich zu machen, dass ein Kompromiss zwischen verschiedenen Wähler*inneninteressen (auch eine Partei) notwendig ist, wenn es ein großes Ganzes gibt, für das eine Partei steht. Aber weiß noch jemand, wofür DIE LINKE steht? Vielleicht müssen manche Fragen neu gestellt und beantwortet werden.
1. Die Arbeiterklasse ist heute differenzierter als noch vor 40 oder 90 Jahren. Der Facharbeiter in einem Autokonzern ist heute vielfach finanziell besser gestellt als viele kleine Selbständige oder Angestellte im Dienstleistungsgewerbe. Menschen, die als Click- und Crowdworker*innen arbeiten, Angestellte in kleinen Start-Ups sind materiell weniger abgesichert als Angestellte in großen Firmen mit Betriebsrat. Welche Arbeiterklasse meinen wir also?
2. Erwerbstätige im globalen Süden sind ebenso wie Menschen im globalen Süden durch Ausbeutung und Ungleichheit materiell deutlich schlechter gestellt als Menschen im globalen Norden. Wenn es um Menschen geht, die sozial schlechter gestellt werden, muss der Begriff Arbeiterklasse nicht international gesehen werden? Und wenn dem so ist, was bedeutet das für internationale und nationale Politik einer linken Partei?
3. Die stattfindenden Umbrüche in der Welt sind kaum noch nationale Phänomene. Ob Klimawandel, Globalisierung von Wirtschaft und Arbeit, Flucht oder Regulierung des Internets – der nationale Rahmen wird zu klein um grundlegende Veränderungen herbeizuführen. Welche Lösungsansätze kann eine linke Partei unter Berücksichtigung der Punkte 2. und 3. vertreten und welche Organisationsform ist angemessen?
4. Welche Rolle sollen/werden Parteien in Zukunft noch spielen? Wo ist ihr Unterschied zu zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen, jenseits der Frage dass die einen für Parlamente kandidieren und andere nicht?
Vielleicht müssen Parteien sich selbst neu überdenken und hinterfragen. Und vielleicht schaut sich die DIE LINKE noch mal das an. Vielleicht wird generell klar, dass es „die“ Wähler*innen eine Partei nicht gibt, sondern verschiedene Gründe zu verschiedenen Wahlentscheidungen führen.
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