4 Gründe warum Direktmandate nicht unproblematisch sind

Am gestrigen Abend war ich mit einer langjährigen Freundin aus und wir haben über viele Dinge debattiert. Neben Corona auch über das Wahlrecht und hier über Direktmandate. Was an ihnen problematisch ist und welche Missverständnisse existieren. Hier kurz und knapp 4 Dinge dazu:

1. Die Wahlkreissieger*innen vertreten in der Mehrzahl nicht die Mehrheit der Wähler*innen in ihrem Wahlkreis. Von den 299 bei der Bundestagswahl 2017 direkt gewählten Abgeordneten errangen lediglich 13 Abgeordnete ihr Direktmandat mit mehr als 50% der Erststimmen. Das heißt also, 286 Abgeordnete zogen über ein Direktmandat in den Bundestag ein, ohne dass eine Mehrheit in diesem Wahlkreis sie gewählt hat. Natürlich wäre das Problem behebbar, indem für ein Direktmandat die Mehrheit von 50% + 1 Stimme der abgegebenen gültigen Stimmen verlangt wird. Das allerdings führt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu jeder Menge Stichwahlen in einem Stichtwahlgang. Der/Die taktische Wähler*in schaut dann mal, ob er/sie seiner/ihrer Lieblingspartei ein paar Ausgleichsmandate organisiert, das Zweitstimmenergebnis steht ja schon fest und ist entscheidend für die Zusammensetzung des Bundestages.

2. Meine These ist, der Lebensmittelpunkt vieler Wahlkreissieger*innen liegt nur bedingt in ihrem Wahlkreis. Möglicherweise gibt es ja eine Studie, wieviel Wahlkreissieger*innen ihren ersten Wohnsitz in ihrem Wahlkreis haben und Auflistungen, in welchem Umfang Wahlkreissieger*innen sich tatsächlich in ihrem Wahlkreis aufhalten. Natürlich wäre auch dieses Problem behebbar, indem festgelegt wird, dass ein*e Wahlkreisbewerber*in in ihrem/seinen Wahlkreis den Hauptwohnsitz haben muss. Schwieriger wird dies schon bei der Frage des tatsächlichen Aufenthalts im Wahlkreis, wenn der/die Wahlkreisgewinner*in zum Beispiel auch noch Minister*in, Staatssekretär*in, Parteivorsitzende*r, Fraktionsvorsitzende*r oder Parlamentarische*r Geschäftsführer*in ist. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden und mindestens in diesen Funktionen wird es auch in den sog. Wahlkreiswochen schwierig sein, diese komplett im Wahlkreis zu verbringen.

3. Die Wahlkreissieger*innen meinen, sie vertreten ihren Wahlkreis im Bundestag. Das ist unzutreffend, sie sind Vertreter*innen der gesamten Bevölkerung. Art. 38 GG sagt explizit, Abgeordnete sind Vertreter*innen des ganzen Volkes. Um es mal an einem Beispiel fest zu machen: Wenn jemand für Rentenpolitik zuständig ist und einen Wahlkreis Niedersachsen hat, wird er/sie doch nicht nur Anfragen zur Rentenpolitik aus seinem/ihren Wahlkreis beantworten,  sondern generell Fragen zu Rentenpolitik. Wenn sich eine Bürger*in mit einem Rentenproblem an ihn/sie wendet, wird der/die Abgeordnete sich um das Anliegen kümmern, selbst wenn die Bürgerin vom Darß kommt. Wenn in dem Wahlkreis des/der Wahlkreissieger*in in Niedersachsen ein Problem mit einer Biogasanlage auftaucht, wird der/die Wahlkreissieger*in sich vermutlich an seinen/ihren Fachkollegen*in für diesen Bereich wenden und diese*r wird fachkundig die Antwort übernehmen. Selbstverständlich reist der/die Wahlkreissieger*in, der/die für Rentenpolitik zuständig ist nicht nur in seinem/ihrem Wahlkreis oder nur in Niedersachsen herum, um zu dem Thema Veranstaltungen zu machen, sondern im gesamten Bundesgebiet. Für die regionale Vertretung von Interessen gibt es eine Vielzahl von eingebundenen Institutionen: Vom Bundesrat über den Deutschen Landkreistag bis hin zum Deutschen Städtetag. Der Landreistag und der Städtetag nehmen beispielsweise durch Stellungnahmen zu Gesetzesentwürfen Einfluss auf die Gesetzgebung.

4. Die notwendigen Stimmen für ein Direktmandat variieren und im Verhältnis zu den notwendigen Stimmen für ein Listenmandat gibt es häufig eine ziemlich krasse Differenz. So haben von den 61.688.485 Wahlberechtigten bei der Bundestagswahl 2017 insgesamt 46.515.492 Wähler*innen eine gültige Stimme abgegeben. Für ein Mandat über eine Liste bei 299 zu vergebenden Listenplätzen waren also 155.570,20  Stimmen erforderlich. Bei der Bundestagswahl 2017 waren aber zur Erreichung eines Direktmandates zwischen 93.545 Stimmen bis 35.036 Stimmen erforderlich. Auch das wäre händelbar, in dem -wie bei der ersten Bundestagswahl- die Stimmen für den/die Direktkandidaten*in gleichzeitig auch der diese aufstellenden Partei zugerechnet werden (Wahl mit nur einer Stimme), was aber zum einen auch keine Überhangmandate verhindern würde (solange sich die Zusammensetzung des Bundestages anhand des Zweitstimmenergebnisses bemessen soll) und zum anderen den „Aufstellungsspielraum“ von Parteien erheblich einschränkt. Diese könnten ja nur Personen aufstellen, die in Wahlkreisen nominiert werden, was wiederum dazu führt, dass sich Kandidierende vor allem dort um eine Mehrheit bemühen werden und somit Gesamtinteressen einer Partei, zum Beispiel an einer Fraktion die alle Themengebiete abdeckt, vernachlässigt werden (könnten).

4 Replies to “4 Gründe warum Direktmandate nicht unproblematisch sind”

  1. Pingback: Fragen zum Wahlrechtsvorschlag der Großen Koalition – Blog von Halina Wawzyniak

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  3. die Frage ist ob die Macht der Parteien über Bundestag und Landtage gestärkt werden sollen, oder ob die wahlberechtigten Bürger das alleinige Recht über die Zusammensetzung der Parlamente zu erhalten.
    Meines Erachtens sind nur Direktmandate zulässig, wobei der künftige Abgeordnete über die Mehrheit der Stimmen seines Wahlekreises (50% +
    1 Stimme) verfügen muss. Die Einführung von Stichwahlen ist gegenüber der zunehmenden Macht der – nicht immer und bei jeder Abstimmung – „demokratischen“ Parteien unbedingt vorzuziehen.
    Der demokratische Grundgedanke erfordert zwingend mehr Einfluss der Bevölkerung gegenüber der Macht der Parteien. Und die Parteien haben Macht. Sie bestimmen im wesentlichen die Zusammensetzung der Parlamente mit Parteikader, wobei die Gewissensverantwortung des Grundgesetzes schon mal zugunsten eines erfolgreichen Listenplatzes zurück gestellt wird.
    Faszit : Die Bundesrepublik Deutschland wird nicht mehr von unabhängig gewählten Abgeordneten und den von Ihnen gewählten Regierungen regiert, sondern von Parteikadern, deren Abgeordnetendasein von dem Wohlverhalten gegenüber ihrer Partei abhängig ist.
    Parteienkonformität ersetzt die Demokratie.

  4. Mehr Einfluss der Bevolkerug ginge über veränderbare Listen bei der Verhältniswahl auch. Im Ubrigen ist nicht erkennbar, dass direkt gewählte Abgeordnete „aufmüpfiger“ gegenüber ihrer Partei sind als Listenabgeordnete.

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