Die Sache mit der Sozialisierung (in Berlin)

Am 6. April 2019 beginnt die Unterschriftensammlung für das Volksbegehren „DW Enteignen“. Und rund um diesen Zeitpunkt herum beginnt die Debatte, ob das denn überhaupt gehe. In der von mir durchaus sehr gern gelesenen Online-Zeitung FAZ Einspruch kamen gleich zwei Autoren*innen zu Wort, die Skepsis anmeldeten. Der Verband Berlin-Brandenburgischer Wohnungsunternehmer (BBU) legte gar ein ganzes Gutachten vor, aus dem sich die Verfassungswidrigkeit einer Sozialisierung ergeben soll. Drei von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen präsentierte Gutachten sehen das anders. Grund sich einmal etwas genauer mit der Angelegenheit zu beschäftigen.

Warum sagt das Gutachten des BBU eine Sozialisierung geht nicht?

Der Gutachter des BBU, Herr Prof. Sodan, sieht in mit Wohnimmobilien bebauten Grundstücken keine sozialisierungsfähigen Güter. Das Gesetz würde auch unverhältnismäßig in das Grundrecht der Eigentumsfreiheit der Wohnungswirtschaftsunternehmen eingreifen und somit einen Verstoß gegen  die Eigentumsfreiheit des Grundgesetzes darstellen.

In einem weiteren Begründungsschritt wird in dem Gutachten darauf verwiesen, dass die Verfassung von Berlin eine Bestimmung wie Art. 15 GG nicht kenne. Dies hindere den Landesgesetzgeber eine Vergesellschaftung in Berlin zu regeln. Ein Rückgriff auf die Ermächtung in Art. 15 GG sei durch die verfassungsmäßige Begrenzung der Landesstaatsgewalt ausgeschlossen.

Im Kern sagt das Gutachten also zwei Dinge: 1.  Es geht nicht, weil der mit Wohnimmobilien bebaute Grund und Boden nicht unter Art. 15 GG fällt und 2. Art. 15 GG ist in Berlin überhaupt nicht anwendbar.

Was ist mit Art. 15 GG?

Über den ein Schattendasein führenden Art. 15 GG gibt es tatäschlich einen Meinungsstreit. Das Gutachten des BBU nimmt aber die juristisch umstrittenen engen Auslegungen in zwei Punkten (siehe gleich) um zur Nichtanwendbarkeit von Art. 15 GG zu kommen. Kann man machen, ist dann aber eben inhaltlich auch extrem angreifbar und in dieser Kombinattion eine minoritäre Einzelmeinung.

Aber zunächst erst einmal, was unstrittig ist: Die Aufzählung der sozialisierungsfähigen Güter in Art. 15 GG ist abschließend[1]. Im Parlamentarischen Rat wurde die Vergesellschaftung kontrovers diskutiert[2]. Die Tatsache, dass Gegenstand der Initiative auch Wohnungsbestände sind die zuvor privatisiert wurden, steht einer Vergesellschaftung nicht entgegen[3].

Der erste Meinungsstreit ist der um den Begriff der Produktionsmittel in Art. 15 GG.

Unter Verweis auf die Entstehungsgeschichte wird auf ein enges Verständnis von Produktionsmitteln, im Sinne von „der Produktion unmittelbar dienenden Betriebsanlagen“ abgestellt. Im Parlamentarischen Rat sei die Debatte um Schlüsselindustrien gegangen und der Dienstleistungssektor ausgenommen worden. Schließlich sei der Grundgesetzgeber von der Formulierung aus der Weimarer Republik „privat wirtschaftliche Unternehmungen“ abgewichen[4]. Ergänzt wird diese Argumentation mit dem Hinweis, dass in den begleitenden Materialien zunächst auch „gleichartige Unternehmen“ erwähnt wurden, aber nicht im Grundgesetz auftauchen[5].

Dem steht eine Meinung gegenüber, die auf den reinen Wortlaut des Art. 15 GG abstellt und meint, diese lasse eine Interpretation zu, die nur die zur Produktion von Sachgütern erforderlichen Mittel erfasst, als auch eine Interpretation, nach der sämtliche Mittel zur Produktion oder Bereitstellung von Wirtschaftsgütern und damit auch Handels- und Dienstleistungsunternehmen erfasst.[8].

Wieder andere Auffassungen argumentieren ebenfalls historisch und verweisen darauf, dass im Parlamentarischen Rat sich  keine Mehrheit für eine Vorschrift gefunden hätte, welche die Sozialisierung wesentlicher Teile der deutschen Wirtschaft ausgeschlossen hätte[9]. Der SPD beispielsweise ging es mit Art. 15 GG um die Möglichkeit, bei entsprechenden Mehrheiten im Parlament eine grundlegende Umgestaltung der Wirtschaftsordnung vornehmen zu können. Dies sei der entscheidende Grund für die Zustimmung zum Grundgesetz gewesen[10]. Unter Verweise auf eine Reihe anderer Juristen*innen kommt Bryde zu dem Ergebnis:

Von der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des Art. 15 her, der die gemeinwirtschaftliche Alternative offenhalten will, ist es nicht begründbar, gerade die >Kommandohöhen< der Wirtschaft von der Sozialisierung auszuschließen. Der Produktionsmittelbegriff ist daher weit zu verstehen und schließt grundsätzlich alle Wirtschaftsunternehmen ein.[11]

Unter Berücksichtigung der Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsweise und der Entstehungsgeschichte, hier vor allem der Motivation für Art. 15 GG, halte ich einen weiten Produktionsmittelbegriff für angebracht. Die  Verfassungsnorm des Art. 15 GG würde weitgehend leerlaufen, wenn der Produktionsmittel-Begriff eng gefasst wird (und zusätzlich noch eine Sperrwirkung im Hinblick auf Grund und Boden hergeleitet wird).

Der zweite juristische Streit in der Debatte um Art. 15 ist, ob sich aus einem engen Produktionsmittelbegriff eine Sperrwirkung bei nichtsozialisierungsfähigen Unternehmen ergibt.

In der Literatur wird teilweise von einer Sperrwirkung der Sozialisierung von Grund und Boden bei sozialisierungsunfähigen Unternehmen (enger Produktionsmittelbegriff) ausgegangen. Teilweise wird ohne nähere Begründung darauf verwiesen, dass eine Vergesellschaftung ausscheidet, soweit die Nutzung des Grundstücks nicht sozialisierbar ist, wie bei einem nicht sozialisierbaren Unternehmen[15]. Dem wird entgegengehalten, dass keinerlei rechtliche oder tatsächliche Hindernisse für eine Vergesellschaftung allein des Grundstücks eines Wirtschaftsunternehmens ersichtlich sind. Weder Wortlaut noch Systematik noch Entstehungsgeschichte bieten Anhaltspunkte für eine restriktive Interpretation[16].

Eine solche Sperrwirkung ist nicht überzeugend und wird in der juristischen Literatur auch heftig kritisiert. Eine solche Sperrwirkung würde nämlich den Wertungen des Art. 15 GG widersprechen. Historisch zielte die Norm des Art. 15 GG auf die wichtigen Schlüsselindustrien, was aber keine normative Voraussetzung für die Anwendung sei. Bedingung sei lediglich die gemeinwirtschaftliche Relevanz[17]. Nach dieser Auffassung

bildet nicht ein in bestimmter Weise genutzter Grund und Boden, sondern ein in bestimmter Weise, nämlich gemeinwirtschaftlich, nutzbarer Grund und Boden das nach 15 S. 1 GG sozialisierungsfähige Gut. Ein Ausschluss (…) entzieht Art. 15 GG einem breiten Anwendungsraum und macht ihn hierdurch gestaltungsanfällig, was den im Parlamentarischen Rat gebildeten Vorstellungen kaum gerecht werden dürfte, wenn die Aufnahme einer Sozialisierungsbestimmung in den Verfassungstext eine wesentliche Bedingung für das Zustandekommen des Grundgesetzes bildete.“[18]

Bei einer Wortlautinterpretation des Art. 15 GG kommt es zu keinem anderen Ergebnis. In Art. 15 wird eine „und“-Aufzählung vorgenommen, also eine Aufzählung, nach der jedes einzeln genannte Rechtsgut für sich sozialisierungsfähig ist und nicht erst ein additives Zusammenkommen aller oder bestimmter genannten Rechtsgüter. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Sozialisierungsfähigkeit eines Rechtsgutes in Abhängigkeit von der Sozialisierungsfähigkeit eines anderen Rechtsgutes gedacht war. Im Übrigen würde die Sozialisierungsmöglichkeit von Grund und Boden leerlaufen, wenn diese davon abhängig gemacht wird, ob sich auf dem Grund und Boden Gebäude befinden, die als Produktionsmittel einer Vergesellschaftung zugänglich sind.

Aber eine Art. 15 GG vergleichbare Norm fehlt doch in der Verfassung von Berlin…

Das Fehlen einer Art. 15 GG entsprechenden Norm in der Verfassung von Berlin hat historische Gründe. Aus diesem Fehlen eine Unanwendbarkeit der Berufung auf Art. 15 GG zu konstruieren, scheint mir sehr gewagt.

Der konkrete Grund des Fehlens einer Art. 15 GG vergleichbaren Sozialisierungsnorm in der Berliner Verfassung heißt Sozialisierungsgesetz von 1947. Der wirtschaftspolitische Ausschuss der Stadtverordnetenversammlung debattierte im Jahr 1946 bereits einen Gesetzentwurf einer Vergesellschaftung von Konzernen, Großunternehmen und Monopolunternehmen gegen eine nach Recht und Billigkeit zu bemessende Entschädigung[19]. Der Entwurf wurde von den Sprechern der SPD und der CDU begrüßt[20]. Schließlich wurde das „Gesetz zur Überführung von Konzernen und sonstigen Unternehmen in Gemeineigentum“ am 13. Februar 1947 verabschiedet[21]. Es bestand also zum Zeitpunkt der Debatten um die Berliner Verfassung gar keine Notwendigkeit einen Vergesellschaftungsartikel in die Verfassung zu schreiben, da bereits der politische Wille eines Vergesellschaftungsgesetzes umgesetzt war.

Das ergibt sich auch bei einem Blick auf die damals geführten Debatten. Im Verfassungsausschuss am 19. Februar 1948 machten sowohl der Abgeordnete Peters von der CDU, als auch der Abgeordnete Wissell von der SPD mit Verweisen auf das Sozialisierungsgesetz Einwände gegen eine explizite Verankerung in der Verfassung geltend[22]. Im März 1948, bei der Debatte um den heutigen Art. 24 VvB[23] wiederholte  Wissell diesen Hinweis[24]. Suhr (SPD) sah die Sozialisierungsfrage in Art. 9 (heute Art. 23 VvB) verortet[25]. In der zweiten Lesung der Verfassung am 22. März 1948 erklärte Lucht für die SPD explizit:

„Ebenso wie wir es von vornherein abgelehnt haben, in die Verfassung von Berlin einen besonderen Abschnitt über die Ehe und Familie, über Religion und Weltanschauungsgemeinschaften und über Schule aufzunehmen, ist auch darauf verzichtet worden, einzelne Fragen der Wirtschaft und damit die Frage der Vergesellschaftung und der Sozialisierung zu regeln; umsomehr als ein Teil dieser Fragen bereits im Schulgesetz und im Sozialisierungsgesetz ihren Ausdruck gefunden haben.“[26]

Die Möglichkeit der Sozialisierung war zum Zeitpunkt der Entstehung der Berliner Verfassung nicht strittig. Der Abgeordnete Lucht formulierte für die SPD, den Grundrechteabschnitt knapp zu halten, da Teile bereits im Sozialisierungsgesetz geregelt worden seien[32]. In der von der Stadtverordnetenversammlung am 22. April 1948 beschlossenen Verfassung fand sich dann der Eigentumsartikel[27] und der Artikel[28] zum Missbrauch wirtschaftlicher Macht[29]. Dass insoweit das Sozialisierungsgesetz von der Alliierten Kommandantur an die Stadtverordnetenversammlung zurückgegeben wurde um eine Präzisierung vorzunehmen[30] und schließlich mangels gemeinsamer Position der Alliierten hinsichtlich des Sozialisierungsgesetzes aus der Debatte verschwand[31], ändert nichts am grundsätzlichen Befund.

Nach der Verabschiedung des Grundgesetzes war, das zeigt sich erneut beim Blick auf die historischen Debatten, eine Art. 15 GG vergleichbare Norm ebenfalls unumstritten, wurde aber bewusst nicht in die Verfassung geschrieben. Der Parlamentarische Rat beschloss in dritter Lesung des Grundgesetz-Entwurfes am 8./9. Februar 1949 die Einbeziehung des Landes Berlin in den Geltungsbereich des Grundgesetzes. Allerdings legten die Militärgouverneure Einspruch ein[34]. Schließlich bestanden die Militärgouverneure nicht mehr auf der Streichung der Erwähnung Berlins als eines der Gründungsländer des Bundes, es wurde aber eine Erklärung abgegeben, dass diese Passage kraft alliierter Mehrheit suspendiert ist.[35] Am 19. Mai 1949 bekannte sich die Stadtverordnetenversammlung einmütig zu Prinzipien und Zielen des Grundgesetzes.[36] Nach der Gründung der DDR wurde insbesondere vom britischen General Bourne darauf hingewiesen, dass der Verfassungstext nicht in Widerspruch zum Grundgesetz stehen dürfe.[37] In der Sitzung der Stadtverordnetenversammlung vom 13./22. Oktober 1949 beauftragte diese den Verfassungsausschuss, eine Abstimmung der neuen Berliner Verfassung mit dem Grundgesetz vorzunehmen.[38] Ausweislich eines Gutachtens der Magistrats-Abteilung Rechtswesen, welche Bestimmung der Verfassung von Berlin nicht mit den Bestimmungen des Grundgesetzes übereinstimmen, wurde auf die Notwendigkeit einer Ergänzungsregelung zur Bestimmung über die Entschädigung im Eigentumsartikel hingewiesen[39]. Der Gesetzentwurf der CDU für eine Verfassung enthielt in Artikel 1 Abs. 3 den Hinweis darauf, dass das Grundgesetz unmittelbar geltendes Recht sei und verzichtete auf Grundrechte.[40]  Diese seien nicht mehr nötig, wenn man eine Verfassung schaffe, könne auf das Bonner Grundgesetz verwiesen werden.[41] Die SPD wollte die Artikel des Bonner Grundgesetzes übernehmen.[42] Vielmehr gab es einen Streit, ob es den noch heute geltenden Art. 1 Abs. 3 der Verfassung von Berlin braucht. Dort heißt es in Art. 1 Abs. 3:

„Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend.“ 

Die Magistrats-Abteilung Rechtswesen teilte im Hinblick auf ein angedachtes Gesetz, in welchem das Abgeordnetenhaus und der Senat den Willen bekunden, alle Gesetze der Bundesrepublik zu beschließen (soweit sie nicht lediglich Bundesangelegenheiten betreffen) mit, dass wenn die Verfassung von Berlin feststellt, Berlin sei ein Land der Bundesrepublik Deutschland alle Gesetze der Bundesrepublik Deutschland schon geltendes Recht sind.[43] Der Verfassungsausschuss wollte insoweit ein Übergangsgesetz schaffen[44]. In der Sitzung des Verfassungsausschusses am 9. November 1949 wies Suhr darauf hin, dass Grundrechte an irgendeiner Stelle der Berliner Verfassung oder in Übergangsbestimmungen verankert werden müssen, „um für die Übergangszeit zu gewährleisten, daß die Berliner über Grundrechte verfügen[45]. Im Beschluss des Verfassungsausschusses für die Stadtverordnetenversammlung am 3. August 1950 tauchte wiederum die Formulierung in Art. 1 Abs. 3 auf, nach der Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland für Berlin bindend sind[48]. Die schließlich von der Stadtverordnetenversammlung beschlossene Verfassung von 1950 sah in Art. 1 Abs. 3 die Bildung Berlins an das Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik vor[50] und in Artikel 15 keine Entschädigungsklausel bei Enteignungen[51].

Bleibt eine letzte „Chance“ für eine dem Art. 15 GG vergleichbare Norm in der Berliner Verfassung, nämlich der Verfassungsprozess nach Herstellung der Wiedervereinigung. Doch auch hier  ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass Art. 15 GG in Berlin nicht gelten sollte. Im Gegenteil, im Kern war eine Art. 15 GG entsprechende Regelung nicht weiter Gegenstand der Enquete-Kommission. Die historischen Argumente sprechen dagegen, dass der Verfassungsgesetzgeber in Berlin das Grundrecht aus Art. 15 GG für Berlin nicht gelten lassen wollte. Aus Art. 3 des Einigungsvertrages ergibt sich zunächst, dass das Grundgesetz für Gesamt-Berlin gilt[52]. Die in Berlin eingesetzte Enquete-Kommission zur Verfassungsreform legte ihren Abschluss-Bericht am 9. Juni 1994 vor. Die Verfassung wurde am 8. Juni 1995 beschlossen und in einer Volksabstimmung am 22. Oktober 1995 angenommen. Aus dem ersten Zwischenbericht ergibt sich, dass das Thema Grundrechte noch nicht behandelt wurde[53]. Die Enquete-Kommission lehnte es ausweislich ihres Schlussberichtes mehrheitlich ab, „lediglich den Grundrechtskatalog des Grundgesetzes in die Verfassung von Berlin zu übernehmen[54]. Die Enquete-Kommission verwies in ihrem Schlussbericht aber darauf, dass „angesichts der für die öffentliche Gewalt in Bund und Ländern gleichermaßen geltenden Grundrechte des Grundgesetzes“ Landesverfassungen, die nach Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet wurden, völlig oder weitgehend auf eigene Grundrechtskataloge verzichtet haben.[55] Im Hinblick auf Zuständigkeitsfragen kam die Enquete-Kommission zu dem Ergebnis, dass soweit sich ein Grundrecht ausschließlich im Grundgesetz und nicht auch inhaltsgleich in der Landesverfassung findet, ausschließlich das Bundesverfassungsgericht zum Grundrechtsschutz berufen sei[56]. Kurz und gut: Die Enquete-Kommission ging davon aus, dass Grundrechte des Grundgesetzes auch in Berlin gelten, selbst wenn sie nicht in der Verfassung wiederholt werden. Lediglich der Weg zum Landesverfassungsgericht sei in diesem Fall nicht gegeben. Aus einem Sondervotum der CDU ergibt sich, dass eine Übernahme des Grundrechtekatalogs des Grundgesetzes als solchen nicht gewollt war.[57] Daraus herzuleiten, eine Vergesellschaftung sei nach Berliner Verfassung nicht zulässig wird dem Ergebnis und der Debatte in der Enquete-Kommission nicht gerecht. Lediglich die PDS hatte im Rahmen der Enquete-Kommission thematisiert, den Artikel 15 GG in die VvB aufzunehmen.[58] Der konkrete Vorschlag war aber weit von dem Inhalt der Regelung des Art. 15 GG entfernt und wäre eher eine Spezifizierung von Art. 14 GG gewesen.[59] In der Parlamentsdebatte zum Verfassungsentwurf am 8. Juni 1995 verwies die Abgeordnete Künast auf eine Auslegung des Art. 142 GG, wonach die Länder nicht in die Grundrechte des Bundes eingreifen dürfen[60].

Bei der Gelegenheit noch ein Wort zu Art. 142 GG. Auch dieser wird gelegentlich herangezogen um zu erklären, dass Art. 15 GG in Berlin nicht gelte. Der Art. 142 GG besagt:

„Ungeachtet der Vorschrift des Artikels 31 bleiben Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten.“

Art. 31 GG formuliert schlicht, Bundesrecht bricht Landesrecht. Aus dem Art. 142 GG kann kein Ausschluss der Berufung auf Art. 15 GG im Land Berlin hergeleitet werden, denn dieser entfaltet nur Wirkung, wenn die Landesgrundrechte in Geltungskonkurrenz zum Bundesrecht stehen[62]. Hummel weist darauf hin, dass sich auf Grund der konkurrierenden Gesetzgebung in Art. 74 Abs. 1 Nr. 15 GG der Artikel 15 GG an Bundes- und Landesgesetzgeber wendet und gemäß Artikel 31 GG und Artikel 142 GG abweichende Bestimmungen in den Landesverfassungen verdrängt[63]. Die von einigen Personen angenommene Wirkung des Art. 142 GG im Sinne einer Nichtanwendbarkeit des Art. 15 GG im Land Berlin setzt aber die Existenz von eine verschiedene Geltung beanspruchenden Grundrechten voraus. Es fehlt hier an miteinander unvereinbaren Normbefehlen. Deshalb kommt wegen Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar Bundesrecht zur Anwendung[64]. Die Übereinstimmung im Sinne des Art. 142 sei verlassen, wenn das Grundgesetz ein dem Landesgrundrecht entgegenstehendes Gebot enthält[65]. Hier gibt es aber kein entgegenstehendes Gebot, sondern gar kein Gebot. Hinzu kommt, dass nach Sinn und Zweck der Norm unter den Artikel 142 GG nur solche Landesgrundrechte fallen, die das Grundgesetz an anderer Stelle oder gar nicht gewährleistet[66]. Zusammengefasst:

„Denn dass die Landesgrundrechte gemäß Art. GG Artikel 142 auch insoweit, als sie über Bundesgrundrechte hinausgehen, >in Kraft bleiben< (…), gibt ihnen keinen Vorrang vor dem Bundesrecht. Vielmehr setzt sich gem. Art. GG Artikel 31 das Bundesrecht gegen das entgegenstehende Landesverfassungsrecht durch (…).“[67].

Was bleibt?

Weder aus Art. 15 GG, noch aus dem Fehlen einer Art. 15 GG vergleichbaren Norm in der Berliner Verfassung kann geschlussfolgert werden, eine Initiative wie „DW enteignen“ sei unzulässig. Der Versuch mit dieser Argumentation das Anliegen der Initiative zu diskreditieren kann nicht gelingen.

Notwendig wäre, den Art. 15 GG wieder mit Leben zu erfüllen. Nicht nur in Berlin. Insofern: Bitte fleißig unterschreiben.

________

[1] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 14

[2] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 3

[3] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 5)

[4] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 17)

[5] Maunz/Dürig, GG, Art. 14, Rdn. 10 u. 12

[6] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 11

[7] vgl. BT-Plenarprotokoll 16/224, S. 24587C

[8] vgl. Engels, „Lex Hypo Real Estate” – Das Finanzmarktstabilisierungsergänzungsgesetz auf verfassungsrechtlichem Prüfstand, BKR 2009, S. 365/367

[9] vgl.BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 21

[10] vgl. Bryde in von Münch/Kunig, GG, Art. 15, Rdn. 1

[11] Bryde, a.a.O., Rdn. 18

[12] so Helmut Siekmann, Die Finanzmarktaufsicht in der Krise, in: Arno Scherzberg/Ilyas Dogan/Osman Çan (Hrsg.), Staatliche Finanzmarktregulierung und Eigentumsschutz, 2010, S. 9 (41) oder Michael Kloepfer, Verfassungsrecht II – Grundrechte, 2010, § 72 Rn. 184.

[13] vgl. Peters, Art. 15 GG und die Notverstaatlichung von Banken, DöV 2012, S. 64/65

[14] vgl. Peters, a.a.O. S.66

[15] vgl. BeckOK, GG, Art. 15, Rdn. 15

[16] vgl. Dreier, GG, Art. 15, Rdn. 23

[17] vgl. Hummel, Grundfälle zu Art. 15 GG, JuS 2008, S. 1065/1068

[18] Hummel, a.a.O.

[19] vgl. Fijalkowski/Hauch/Holst, Hauptstadtanspruch und Westintegration, S. 184 f.

[20] vgl. Fijalkowski u.a., a.a.O., S. 184

[21] vgl. Fijalkowski u.a., a.a.O., S. 186

[22] vgl. Reichhardt, Die Entstehung der Verfassung von Berlin, Band I, S. 1218 f.

[23] „Jeder Missbrauch wirtschaftlicher Macht ist widerrechtlich. Insbesondere stellen alle auf Produktions- und Marktbeherrschung gerichteten privaten Monopolorganisationen einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht dar und sind verboten.“

[24] vgl. Reichhardt, Die Entstehung der Verfassung von Berlin, Band II, S. 1425 f.

[25] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 1426

[26] zitiert nach Reichhardt, a.a.O., S. 1530

[27] Art. 15

(1) Das Eigentum wird gewährleistet. Sein Inhalt und seine Schranken ergeben sich aus den Gesetzen.

(2) Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden.

[28] Art. 16

Jeder Mißbrauch wirtschaftlicher Macht ist widerrechtlich. Insbesondere stellen alle auf Produktions- und Marktbeherrschung gerichteten privaten Monopolorganisationen einen Missbrauch wirtschaftlicher Macht dar und sind verboten.

[29] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 1959

[30] vgl.Fijalkowski u.a., a.a.O., S. 186

[31] vgl. Fijalkowski u.a., a.a.O., S. 188

[32] vgl. Breunig, Verfassunggebung in Berlin, S. 314

[33] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2018

[34] zitiert nach Reichhardt, a.a.O., S. 2019

[35] vgl. Reichhardt, a.a.O., S.2020

[36] vgl. a.a.O.

[37] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2022

[38] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2054

[39] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2066

[40] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2078 ff.

[41] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2098

[42] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2094

[43] vgl. Reichhardt, a.a.O., S. 2122

[44] a.a.O., S. 2131

[45] a.a.O., S. 2144

[46] vgl. a.a.O., S. 2148

[47] vgl. a.a.O., S. 2178 u. 222o

[48] vgl. a.a.O., S. 2270 u. 2272

[49] vgl. a.a.O., S. 2275

[50] vgl. a.a.O., S. 2335

[51] vgl. a.a.O., S. 2338

[52] vgl. Einigungsvertrag, Art. 3, https://www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/EinigVtr.pdf, abgerufen am 25.03.2019

[53]vgl. AGH-Drucksache 12/2733, S. 5, https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?Id=EED12/2733|00000|00000, abgerufen am 25.03.2019

[54] AGH-Drucksache 12/4376, S. 7, https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/EED12-4376.pdf, abgerufen am 25.03.2019

[55] vgl. a.a.O., S. 26

[56] vgl. a.a.O., S. 27

[57] vgl. a.a.O., S. 31

[58] vgl. a.a.O., S. 36 (Die Begründung im Übrigen: „Die Tiefe und der Umfang der Eingriffe in die ostdeutschen Eigentums- und Besitzverhältnisse erreichen eine Dimension, die nur mit den Aneignungen und Enteignungen in der Zeit der Religionskriege des 17. Jahrhunderts vergleichbar sind.“)

[59] a.a.O.

[60] vgl. AGH-Plenarprotokoll 12/86, S. 7404

[61] vgl. BeckOK, Epping/Hillgruber, GG, Art. 142, Rdn. Vorbem.

[62] vgl. BeckOK, a.a.O., Rdn. 2

[63] Hummel, Grundfälle zu Art. 15 GG, JuS 2008, S. 1065/1066

[64] Dreier, GG, Art. 142, Rdn. 44

[65] vgl. BeckOK, a.a.O., Rdn. 11

[66] vgl. BeckOK, a.a.O., Rdn. 7

[67] BeckOK, a.a.O., Rdn. 19

[68] vgl. Dreier, GG, Art. 142, Rdn. 8

[69] vgl. Dreher, GG, Art. 142, Rdn. 10

[70] vgl. Pfennig/Neumann, VvB, Art. 1, Rdn. 5)

[71] vgl. Driehaus, VvB, Art. 1, Rdn. 8

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