Wer glaubt, derzeit sei Rot-Rot-Grün auf Bundesebene möglich, der/die ist bestenfalls ein Phantast/in. Wer andererseits daraus schließt, Rot-Rot-Grün auf Bundesebene sei überhaupt nicht möglich, der/die ist nicht besser dran.
Rot-Rot-Grün braucht Text und Sound. Mir scheint, der Text ist leichter hinzubekommen als der Sound. Rot-Rot-Grün kann nur funktionieren, wenn vier Bedingungen erfüllt sind. Es braucht gemeinsame Inhalte, es braucht eine gesellschaftliche Mehrheit, es braucht eine parlamentarische Mehrheit und es braucht eine andere politische Kultur. Wer eine Option Rot-Rot-Grün möchte, muss jetzt anfangen die Grundlagen für die Erfüllung dieser vier Bedingungen zu schaffen.
1. Gemeinsame Inhalte
Es ist nicht so, dass es nicht gemeinsame Inhalte geben würde. Wer sich mit den Wahlprogrammen der jeweiligen Parteien auseinandersetzt, der findet sie.
Als gemeinsame grundsätzliche Inhalte fallen beispielsweise ins Auge:
- Begrenzung der steuerlichen Absetzbarkeit von Vorstands- und sonstigen Managergehältern einschließlich Boni und Abfindungen
- Finanztransaktionssteuer
- Erhöhung des Spitzensteuersatzes
- Erhöhung der Vermögenssteuer/Vermögensabgabe
- flächendeckender gesetzliche Mindestlohn
- Vergabegesetz
- Erwerbstätigenversicherung bei der Rente
- Bürgerversicherung bei Pflege und Gesundheit
- Gleichstellung der Lebensweisen
- flächendeckende Versorgung mit schnellen Internetanschlüssen, Breitband als Universaaldienstverpflichtung
- der Ausbau erneuerbarer Energien
- die Abschaffung des Betreuungsgeldes
- gebührenfreies Studium
- Modernisierung des Staatsangehörigkeitsrechts
- Volksbegehren, Volksinitiativen und Volksentscheide auf Bundesebene
Nun kann –nicht zu Unrecht- eingewendet werden, dass das Wahlprogramme das eine und die praktische Politik das andere ist. Natürlich hat die SPD keinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn eingeführt und das Betreuungsgeld nicht abgeschafft. Es war aber auch naiv zu denken, das sei mit der CDU durchsetzbar. Der inhaltliche Vorteil von Rot-Rot-Grün würde ja darin bestehen, dass in den genannten Punkten schon vorher grundsätzliche Übereinstimmung existiert. Die Unterschiede würden erst im Detail auftreten. Es würde also unter Rot-Rot-Grün um das „Wie“ gehen, nicht um das „Ob“. Die Wählenden könnten durch Unterstützung jeweils einer Partei deutlich machen, welche Akzentuierung ihnen bei diesen Gemeinsamkeiten besonders wichtig ist. Der Parteienwettbewerb wäre nicht aufgehoben, sondern würde nur in einer anderen Art und Weise stattfinden.
Und natürlich bleiben auch inhaltliche Unterschiede bestehen. Diese Konflikte müssen dann aber mit einer anderen politischen Kultur (vgl. Punkt 4.) ausgetragen werden. Das wird nicht einfach sein, dann für die Abschaffung von Geheimdiensten, den Verzicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr und die Vorratsdatenspeicherung, die Aufhebung aller Sondergesetze für Geflüchtete, die Abschaffung der Sanktionen bei Hartz IV und Überwindung des Hartz IV-Systems oder die Abschaffung der Sicherungsverwahrung, um nur ein paar Beispiele zu nennen, dürfte es derzeit leider keine Mehrheit bei Rot-Rot-Grün geben.
2. Gesellschaftliche Mehrheit
Rot-Rot-Grün kann nur funktionieren, wenn es gesellschaftlich getragen wird. Und gesellschaftlich getragen heißt eben nicht, bei der einen Forderung gibt es breite Zustimmung in der Bevölkerung und bei der anderen nicht. Gesellschaftlich getragen meint, es gibt ein Bedürfnis innerhalb der Gesellschaft mit einem anderen Politikstil eine umfassende und notwendige Reformierung einzuleiten.
Zur gesellschaftlichen Mehrheit gehört auch zu akzeptieren, wenn für noch nicht mehrheitsfähige Positionen geworben wird.
Ich bezweifle, dass es heute eine gesellschaftliche Mehrheit für Rot-Rot-Grün gibt. Es gibt keine Aufbruchstimmung und keinen laut artikulierte Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen. Nichts erinnert an die große Friedensbewegung der 80iger gegen die Wiederaufrüstung, nichts an den Volkszählungsboykott und nichts an die –später enttäuschte- Aufbruchstimmung 1997/1998. Es gibt natürlich viele kleine unheimlich aktive außerparlamentarische Gruppen, aber weder Blockupy noch Mieterproteste, weder die Unterstützung von Flüchtlingsprotesten noch „Stop watching us“-Demonstrationen erreichen einen Umfang der tatsächlich breit getragen wird. Diese Proteste und Aktionen sind nicht zu verachten, aber sie erreichen die Breite der Gesellschaft nicht. Es kann nun nicht Aufgabe von Parteien sein, diesen Protest zu organisieren. Parteien können solche Proteste nur unterstützen.
3. Parlamentarische Mehrheit
Es gibt derzeit keine parlamentarische Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Und es wird sie in absehbarer Zeit wohl auch kaum geben.
Ein Blick auf die sog. Sonntagsumfrage zeigt das. Bei Emind zum Beispiel haben nach der Sonntagsfrage: „Wenn morgen Bundestagswahl wäre...“ vom 20.04.2014 die Konservativen von Union, FDP zusammen mit den Rechtspopulisten von der AfD 50%, während SPD, Linke und Grüne auf 44% kommen. Die Sonstigen sind mit 6% vermerkt, im Regelfall können diese 6% (abzüglich der Piraten) aber dem konservativen Lager zugeschlagen werden. Bei den anderen Umfrageinstituten ergibt sich ein ähnliches Bild.
4. Andere politische Kultur
Eines der zentralen Probleme für Rot-Rot-Grün ist das Denken und Handeln in den bisherigen Spielregeln des Parlamentarismus. Wird über Rot-Rot-Grün geredet, dann denken alle an einen zu unterschreibenden Koalitionsvertrag. Es dreht sich darum was da wie formuliert werden müsste.
Sorry, aber so wird Rot-Rot-Grün nicht gelingen. Roger Willemsen hat in seinem Buch „Das hohe Haus“ die Erstarrung des Parlamentarismus gut beschrieben, das Ritualisierte deutlich gemacht. Es wäre eine Aufgabe von Rot-Rot-Grün genau das zu durchbrechen. Aber wie könnte das geschehen?
Vielleicht fängt Rot-Rot-Grün damit an, dass sie –sollte es dazu kommen- eine andere Art von Koalitionsvertrag formulieren. Die genannten Gemeinsamkeiten (vgl. Punkt 1.) werden vereinbart und nur für diese wird verankert, dass sie gemeinsam im Parlament abgestimmt werden. Denn nur das ist es, worauf sich im Vorfeld alle einigen konnten. Nur das ist es, was Wählende gegebenenfalls mit ihrer Stimme bei Wahlen legitimieren. Alles andere soll den Debatten im Parlament, den Debatten in den Ausschüssen und dem Dialog mit den Nichtregierungsorganisationen vorbehalten bleiben. Keine Angst vor wechselnden Mehrheiten! Und nein, es wäre kein Problem wenn die sich Rot-Rot-Grün nennende Konstellation auch öffentlich über Positionen debattiert und wenn an der einen oder anderen Stelle eine andere Mehrheit als die Rot-Rot-Grüne Dinge beschließt.
Worin der Vorteil eines solchen Modells bestehen könnte? Ganz einfach. Heute wird im besten Sinne antiaufklärerischer Politik das „Vorführens“ praktiziert. Es ist einfach nur billig und auch populistisch durch die Lande zu ziehen und darauf hinzuweisen, wer was in Wahlkämpfen versprochen und dann dem Koalitionsvertrag geopfert hat. Jeder weiß, Koalitionsverträge –und alle im Bundestag vertretenen Parteien haben schon irgendwo welche beschlossen- sind Kompromisse zwischen verschiedenen Partner. Das was heute an anderen kritisiert wird, kann morgen auf einen selbst zurückfallen. Das ist ritualisiert und führt am Ende zu Politikverdrossenheit. Ein solches Verhalten setzt nicht an den Ursachen an, nämlich der Art wie heute Koalitionsverträge geschlossen werden.
Ein neuer Sound mit Rot-Rot-Grün kann da ansetzen. Er kann aufklären über die bisherigen Mechanismen und sich bereit erklären, auf diese Art von Koalitionsverträgen zu verzichten. Und der neue Sound kann heute vorbereitet werden, in dem auf solche Landesregierungsbullshitbingo-Spiele verzichtet wird.
Rot-Rot-Grün kann aber auch an anderer Stelle für einen neuen Sound sorgen. Wissend, das Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und andere eine andere Rolle haben als im Parlament vertretene Parteien wäre ein ständiger Dialog erstrebenswert. Offen und Transparent. Warum nicht, sich die Kritik von diesen Organisationen anhören, mit ihnen in Anerkenntnis der unterschiedlichen Rollen nach Gemeinsamkeiten suchen und dort, wo es sie gibt, diese umsetzen. Der andere Sound könnte aber auch darin bestehen, das parlamentarische Geschehen zu öffnen. Warum nicht über Online-Werkzeuge in einem ersten Schritt Menschen, die sich für ein Thema interessieren die Möglichkeit geben, sich zum Beispiel bei Anhörungen mit Fragen an die Experten/innen zu wenden. Wenn das funktioniert kann im weiteren über noch mehr Beteiligung, zum Beispiel in Form von Änderungsanträgen zu Gesetzen, nachgedacht werden.
5. Was daraus folgt
Wer Rot-Rot-Grün perspektivisch will, der muss jetzt anfangen daran zu arbeiten, wissend das es heute noch keine Option ist. Wer Rot-Rot-Grün will, der muss die gemeinsamen Inhalte präzisieren, nach gesellschaftlichen Mehrheiten suchen und Menschen ermutigen, diese in parlamentarische Mehrheiten umzusetzen. Wer Rot-Rot-Grün will, muss heute anfangen die politische Kultur zu verändern, statt in ihr mitzuschwimmen.
Wer denkt, dass künftig Rot-Rot-Grün möglich ist, hat Tomaten auf den Augen oder Paprikas oder Gurken. Je nach Lieblingsfarbe.
Punkt 2 besagt u.a.: „Es gibt keine Aufbruchstimmung und keinen laut artikulierte Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Zuständen.“ Ran an den Sarg und mitgeheult! Nehmen wir die nach wie vor bestehenden Ost-West-Unterschiede. Regen sich ehemalige DDR-Bürger auf, dass im Westen die Löhne höher sind, sollen sich die Ossis mal nicht so haben. Regen sich Wessis über die Rentenerhöhungen für ehemalige DDR-Bürger auf, sollen die Mal einen Gang runter schalten. Ergebnis: keiner regt sich mehr lautstark auf und ist in Aufbruchstimmung, weil es 1.) keine Früchte trägt und 2.) nur weiteren Unmut und Missverständnisse bringt.
Zu Punkt 3: Wenn sich die SPD während einer Legislaturperiode öfter an ihre eigenen Wahlversprechen erinnern würde, hätten schon längst Unmengen an gemeinsamen Gesetzesentwürfen von Rot-Rot, ggf. auch Rot-Rot-Grün, eingebracht werden können. Diese Chance hat man aber partout nicht genutzt.
Angst vor dem linken Flügel? Angst vor der rechten Gesellschaft?
Wichtige Frage out of the box: Woher kommt der Unmut gegen links – sowohl in der SPD als auch in der Gesellschaft?
Für die Realisierung von Punkt 4 braucht es in allen Reihen junges Blut. Es ist nahezu unmöglich mit den bisherigen Gesichtern. Dafür sind viele schon zu lang dabei und zu fest gefahren in ihrem Denken, Reden und Handeln.
Außerdem muss jemand die Bearbeitung der Änderungsanträge übernehmen und die Online-Werkzeuge bereitstellen, pflegen und moderieren. Heißt am Ende: Mehr Abgeordnete oder mehr Mitarbeiter oder beides?
Punkt 5 ist nett gesagt, mehr aber auch nicht. Gibt es schon im Ansatz Konzeptideen für die Umsetzung? Parteien dürfen sich nicht federführend einbringen (siehe Punkt 2), also kann wohl nur jeder Mensch sein eigenes Süppchen kochen?
@horschte: das mit den rot-rot-grünen gesetzentwürfen (dein punkt 3) funktioniert nicht, solange du diese art von koalitionsverträgen hast. von außerhalb der parlamente ist das zur recht zu kritisieren, wee das innerhalb der parlamente kritisiert ist mindestens bigott. denn seine/ihre jeweilige partei (mindestens diejenigen die im bundestag sitzen) hat es an anderer stelle genauso gemacht. deshalb lege ich soviel wert auf punkt 4.
und was punkt 5 angeht, ich aelbst mach ja bei r2g mit. aber es geht wohl eher um selbstorganisation. um uns selbst müssen wir uns selber kümmern…
Das mit den Rot-Rot-Grünen Gesetzesentwürfen geht vielleicht zu Zeiten einer Schwarz-Roten Koalition aufgrund des Koalitionsvertrages nicht. Unter Schwarz-Gelb hätte man eine starke Opposition sein können, wenn man zusammen gearbeitet hätte. Soweit ich weiß gibt es keine Oppositionsverträge, die besagen dass es keine Zusammenarbeit geben darf. Da spielt dann nur das rote oder grüne Ego und die Selbst-Wahrnehmung der Parteien/Fraktionen eine Rolle?! Weil man sich dann zu fein ist mit anderen gemeinsame Sache zu machen. Gern wird da von „anbiedern“ gesprochen, dabei wird überall sonst, außerhalb des Parlaments, Zusammenarbeit gefordert und gefördert. Leider ist die Politik da retro.
@horschte: ah, jetzt versteh ich. und du hast recht. nur mit einem nicht, wir (r2g) hatten in der letzten wp auch keine parlamentarische mehrheit. unabhängig davon hätten wir dennoch mehr gemeinsame initiativen starten sollen. die kritik ist völlig berechtigt.
Statt mit altbackenen Systemparteien zu kungeln sollte Die Linke besser junge Antimilitaristen unterstützen. MdB Inge Höger macht es vor: http://www.inge-hoeger.de/nc/presse/aktuell/detail_presse/archiv/2009/oktober/zurueck/archiv-be6096f984/artikel/freispruch-statt-verurteilung-von-dringend-noetigem-antimilitarismus/
@linksman: ich habe ja nichts von kungeln geschrieben. ich empfehle die punkt 1) und 4) noch mal gründlich zu lesen.
und die unterstützung meiner kollegin höger ist von 2009, also wenig aktuell.
Liebe Halina, ich finde deinen Beitrag gut und würde ihn gerne auf meinen R2G Facebook-Blog teilen. Mein Ziel ist es das Denken hier in Deutschland zu ändern. Als Linker sollte man nicht darüber nachdenken, was mit anderen Parteien nicht geht, sondern was geht und das ist eine ganze Menge. Auch sollten wir uns von Schlagworten wie Anti-Militarismus befreien, weil das Symbolpolitik ist. Ich denke, da an die deutsche Fregatte. Es gibt gute Gründe ,daß ein Militärschiff die Chemiewaffenvernichtung bewacht. So ein Boot muß ruhig liegen. Wer so ein Problem zu einer Frage von Militarismus macht, kommt bei R2g nicht weiter. Da gibt es viele andere Beispiele. Ich möchte gerne mehr mit Menschen aus der Linken in die Diskussion kommen. Schreibt doch mal auf meiner R2g Facebookseite.
bedenkenswerter Beitrag, Ich finde zudem, dass das „Hohe Haus“ von Roger Willemsen Pflichtliteratur für alle Beteiligten sein müsste, übrigens auch für jene, die r2g prinzipiell ablehnen.
Hallo Jan Stephan,
in wiefern ist Antimilitarismus abzulehnende Symbolpolitik?
Konsequenterweise müsstest Du dann zum Boykott der Januar-Demo für die Antimilitaristen Luxemburg & Liebknecht aufrufen.
Und warum ist dieses Konstrukt „R2G“ eigentlich so erstrebenswert?
Die Grünen bilden gern mal – wie Wolfgang Gehrcke treffend formulierte – in der Causa Ukraine (wie schon 2011 Libyen) den rechten Rand der Bundestagsparteien. Die Linke sollte sich hüten, mit Rechtspopulisten ein Bündnis einzugehen.
Aber vielleicht ist ja auch Antifaschismus für Dich abzulehnende Symbolpolitik…
@linksman: auch wenn ich im hinblick auf die fregatte mit „nein“ gestimmt habe und antimilitarismus nicht als symbolpolitik verstehe, finde ich es falsch die grünen als rechten rand zu bezeichnen. aber das du das sagst, überrascht mich nicht. es würde mich aber freuen, wenn wir jetzt wieder über den eigentlichen text reden könnten.
Pingback: Rot-Rot-Grün – Chimäre oder politische Option? | bo valentin
Wenn der Wähler eine realistische Perspektive rot/rot/ grün hätte, würden die Umfragen anders aussehen! Ich freue mich über die Initiative!
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Ich unterstütze Punkt 4 ausdrücklich. Danke für diesen Beitrag.
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