Der Koalitionsvertrag

… zwischen CDU/CSU und SPD liegt nunmehr vor und wurde schon mehrfach verlinkt. Auch erste Einschätzungen liegen vor. Ich habe mich bisher mit einer Bewertung zurückgehalten, weil ich erst die 185 Seiten durcharbeiten wollte.

Am Anfang will ich eine Bemerkung machen, die vielleicht Streit auslöst. Ich weiß, dass Koalitionsverträge Kompromisse sind. Und im Interesse einer fairen Auseinandersetzung sollte berücksichtigt werden, dass niemand in einer Koalition 100% seiner Forderungen aus dem Wahlkampf umsetzen kann. Reflexhaftes reagieren oder beschimpfen hilft deshalb nicht weiter.

Ich fange deshalb auch mal mit einem Lob an. Das Thema Digitalisierung der Gesellschaft zieht sich durch den gesamten Koalitionsvertrag. Das begrüße ich erst einmal ausdrücklich, denn es zeigt das das Thema Netzpolitik ein Querschnittsthema ist. Später werde ich noch detailliert auf das Thema eingehen.

Bei der Durchsicht der Koalitionsvereinbarung will ich mal mit einer Kleinigkeit anfangen. Ich unterstelle mal, dass es keine Absicht ist, wenn in folgender Passage Flüchtlinge und Migranten/innen fehlen.Wir wollen, dass alle Menschen in Deutschland – Kinder, Frauen und Männer, Junge und Alte, in Ost und West – ein gutes Leben führen können … .“ Vermutlich ist hier die vermutliche Große Koalition Opfer der beliebten wie allerdings auch überflüssigen Aufzählungen geworden. „Alle Menschen“ sind halt „alle Menschen“ und wenn angefangen wird aufzuzählen, dann fällt immer irgendwas runter. 

Ausgesprochen bedauerlich ist, dass mehr direkte Demokratie auch mit diesem Koalitionsvertrag nicht kommen wird.

Vermutlich werde ich in dieser Legislaturperiode (wegen der noch nicht konstituierten Ausschüsse gibt es noch keine Entscheidungen in der Fraktion) wieder Netz- und Rechtspolitik machen. Nachdem ich nun hier einiges Klein-Klein bewertet habe, will ich mich also gezielt mit diesen Bereichen auseinandersetzen.

1) Netzpolitik

Auf Seite 10 heißt es: „Das Internet und die digitalen Technologien sind heute unverzichtbar und Wachstumstreiber für unser Land. Damit jeder in unserem Land die Vorteile des schnellen Internets nutzen kann, wollen wir es bis 2018 flächendeckend in allen Teilen unseres Landes verfügbar machen. Netzneutralität sichern wir. In den Städten wollen wir außerdem die Voraussetzungen für kostenlose WLAN-Angebote schaffen. Wir wollen die Chancen auf Innovation, Fortschritt und neue Beschäftigung nutzen und Deutschland zum führenden digitalen Standort in Europa ausbauen.“ Das liest sich gut. Spannend ist, wie es im Detail aussieht.

Die Koalition will (Seite 20) im „Bund im Software-Bereich gerade auch die Entwicklung von offenen Plattformen und Open-Source-Lösungen“ unterstützen und fördern. Das ist schon mal sehr schön. Schöner wäre es wenn auch noch erklärt werden würde, wie das geschehen soll. Auf Seite 28 geht es auch um die Digitalisierung der Wissenschaft, ohne das ich irgendein konkretes erwähnenswertes Vorhaben gefunden habe. Im Kapitel Digitale Bildung (Seite 30) ist die Forderung gut die „digitale Lehrmittelfreiheit“ zu gewährleisten.  Allerdings befürchte ich, dass „gemeinsam mit den Ländern“ der Knackpunkt sein wird. Kommt sie nicht gibt es das Zuständigkeitsbullshitbingo. Der Bund verweist auf die Länder, die Länder verweisen auf den Bund und die digitale Lehrmittelfreiheit bleibt auf der Strecke. Was sich dann augesprochen gut liest, muss genauer betrachtet werden. Es heißt: „Grundlage hierfür ist ein bildungs- und forschungsfreundliches Urheberrecht und eine umfassende Open-Access-Politik. Schulbücher und Lehrmaterial auch an Hochschulen sollen, soweit möglich, frei zugänglich sein, die Verwendung freier Lizenzen und Formate ausgebaut werden.“ Was stellt sich die vermutliche Große Koalition unter einem „bildungs- und forschungsfreundlichem Urheberrecht“ vor? Die Formulierung „soweit möglich“ im Hinblick auf die freie Zugänglichkeit von Schulbüchern und Lehrmaterialien liest sich wie eine vorweggenomme Entschuldigung, falls es irgendwie doch nicht klappt.

Recht umfänglich ist das Kapitel zur Digitalen Infrastruktur (Seite 47). Der Breitbandausbau ist richtig und zu unterstützen. Bis 2018 flächendeckend 50 Mbit/s ist ein schönes Ziel, aber wie das finanziert werden soll, das bleibt komplett im Dunkeln. Interessant ist, dass wohl ursprünglich Mittel eingestellt worden sind, diese dann aber weggefallen sind. Bei den Prioritäten von Haushaltsmaßnahmen (Seite 88) findet sich jedenfalls nichts mehr zu digitaler Infrastruktur.   FTTH findet im Übrigen überhaupt keine Erwähnung. Es ist gut, wenn formuliert wird: „Wir wollen, dass in deutschen Städten mobiles Internet über WLAN für jeden verfügbar ist. Wir werden die gesetzlichen Grundlagen für die Nutzung dieser offenen Netze und deren Anbieter schaffen.“ Konsequenterweise hätte dann aber formuliert werden können und müssen, dass die sog. Störerhaftung abgeschafft wird. Die Ablehnung des „Routerzwangs“  ist auf der Positiv-Seite zu verbuchen. Leider bleibt dafür der Passus zur „Netzneutralität“ hinter den Erwartungen zurück. Der Satz: Zudem müssen Mobilfunkanbieter Internettelefonie gegebenenfalls gegen separates Entgelt ermöglichen.“ hebt nämlich die Netzneutralität für den Mobilfunkbereich auf. Und das war noch nicht alles: Das so genannte Best-Effort-Internet, das für die Gleichberechtigung der Datenpakete steht, wird in seiner Qualität weiterentwickelt und darf nicht von einer Vielzahl von „Managed Services“ verdrängt werden.“ Manchmal steckt die Überraschung nämlich im Detail. Der Satz kann nämlich auch so interpretiert werden, dass „Best-Effort-Internet“ von einigen wenigen „Managed Services“ durchaus eingeschränkt werden darf. Zu Frage der Netzneutralität hat Markus Beckdahl bereits eine umfassende Kritik formuliert.

Die Reform des Urheberrechts findet sich Seite 133/134. Da Leonhard Dobusch dazu alles wichtige aufgeschrieben hat, verweise ich an dieser Stelle einfach auf seine Bewertung.  Nicht mehr ganz Netzpolitik, dennoch aber erwähnenswert ist die Absicht, die elektronische Gesundheitskarte ausbauen zu wollen (Seite 142). Offensichtlich wurden hier die datenschutzrechtlichen Bedenken einfach Beiseite gelegt. Die ebenfalls vorgesehene verschärfte Provider-Haftung hat Thomas Stadler hier sehr schön bewertet.

2) Rechtspolitik

Auf Seite 11 heißt es: „Wir wollen einen Staat, der Freiheit und Sicherheit für die Menschen überall gewährleistet. Zur Lebensqualität gehört, dass die Menschen sicher und vor Kriminalität geschützt leben können. Wir wollen Kinder und Frauen vor Menschenhandel und Zwangsprostitution besser beschützen. An Kriminalitätsschwerpunkten, wie etwa auf Bahnhöfen, soll der Einsatz von Videokameras verstärkt werden. Der Schutz vor Wohnungseinbrüchen soll verbessert werden. Polizisten und andere Einsatzkräfte brauchen einen stärkeren Schutz bei gewalttätigen Übergriffen. Extremistischen, rassistischen und demokratiefeindlichen Handlungen treten wir entschieden entgegen.“  Da war es wieder, mein Kopfschütteln über die sozialdemokratische Rechtspolitik (Kopfschütteln über diese, weil ich von der Union nichts anderes erwarte). An Kriminalitätsschwerpunkten Videokameras installieren. Eine Videokamera kann -wenn überhaupt- zur Identifizierung von Täter/innen beitragen, aber sie verhindert keine Straftaten. Wie der Schutz vor Wohnungseinbrüchen verbessert werden soll ist eine spannende Frage, die aber -es sei denn ich habe es überlesen- auch nicht auf Seite 145 irgendwie nachvollziehbar beantwortet wird. Das mit dem Wort „Extremismus“ gearbeitet wird, dazu fällt mir nichts mehr ein.

Vermutlich eher am Rande (was die Zuständigkeiten angeht) wird mich die Frage beschäftigen, was mit der Erbschafts- und Schenkungssteuer (Seite 25) geschehen soll. Ein wenig nebulös ist die Formulierung jedenfalls.

Die geplanten Änderungen im SGB II haben ja auch irgendwie etwas mit Rechtspolitik zu tun. Auf Seite 66 wird formuliert: „Hierzu sollen insbesondere die Ergebnisse der 2013 gegründeten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Rechtsvereinfachung im Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) intensiv geprüft und ggf. gesetzgeberisch umgesetzt  werden.“ Natürlich klingt „ggf. gesetzgeberisch umgesetzt werden“ defensiv. Aber damit eben nicht ausgeschlossen, dass zum Beispiel die Sanktionen verschärft und der Datenabgleich ausgeweitet wird.

Die Verjährungsfristen bei Sexualstraftaten sollen ausgeweitet werden (Seite 100). Warum ich damit ein Problem habe, habe ich bereits in der 17. Wahlperiode dargelegt. Im Hinblick auf das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare soll nur das Urteil des Bundesverfassungsgericht zur Sukzessivadoption umgesetzt werden (Seite 105). Zwar wird nicht am Optionszwang für in Deutschland geborene und aufgewachsene Kinder festgehalten, aber am Staatsbürgerschaftsrecht soll nichts weiter geändert werden (Seite 105). In diesem Kapitel scheint sich auch ansonsten die restriktive Unionshaltung durchgesetzt zu haben. Anders ist mir folgende Passage auf Seite 108 nicht erklärbar: „Wir werden deshalb der ungerechtfertigten Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch EU-Bürger entgegenwirken. (…) Wir wollen im nationalen Recht und im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben durch Änderungen erreichen, dass  Anreize für Migration in die sozialen Sicherungssysteme verringert werden.“ Auf Seite 109 werden dann Bosnien und Herzogowina, Mazedonien und Serbien zu sicheren Drittstaaten erklärt um aussichtslose Asylanträge von Angehörigen dieser Staaten schneller bearbeiten und ihren Aufenthalt in Deutschland schneller beenden zu können“. Vielleicht ist das alles ja nur der Kompromiss um -wie auf Seite 110 dargestellt- das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Asylbwerberleistungsgesetz umzusetzen und Asylsuchenden nach 3 Monaten die Möglichkeit des Zugangs zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. In meinen Augen, wäre dies aber ein schlechter Kompromiss.

Die Trennung von Staat und Kirche wird -wenig verwunderlich- nicht stattfinden. Auf Seite 113 findet sich lediglich der Hinweis, dass am System der Kirchensteuern festgehalten wird. Im Koalitionsvertrag findet sich nichts zum kirchlichen Arbeitsrecht und nichts zum Thema Staatsleistungen.

Zum Thema Mieten hatte ich ja bereits zur medialen verbreiteten Einigung etwas aufgeschrieben. Nach der Regelung auf Seite 116 soll nun aber die in meinen Augen unzureichende Regelung auch nur auf 5 Jahre befristet werden. Die Modernisierungsumlage wird auf 10% bis zur Armotisation begrenzt.

Die schon angesprochene Übernahme der Extremismustheorie findet sich auch auf Seite 144 wieder, wenn von Extremismusprävention die Rede ist.

Ab Seite 145 wird dann bedauerlicherweise eine repressive und konservative Rechts- und Innenpolitik formuliert, bei der mensch schon fast bedauert, dass die FDP nicht mehr im Bundestag ist. So wird auf Seite 145 formuliert: „Zur Aufklärung von Sexual- und Gewaltverbrechen sollen bei Massen-Gentests auch sogenannte Beinahetreffer verwertet werden können, wenn die Teilnehmer vorab über die Verwertbarkeit zulasten von Verwandten belehrt worden sind. Der BGH hatte genau das Ende Dezember 2012 untersagt. Aber das interessiert wohl nicht und so steht eine Gesetzesänderung ins Haus, die erneut als Verschärfung des Straf- und Strafverfahrensrechts anzusehen ist. Eine gute Kritik zu diesem Vorschlag findet sich hier.  Und gleich geht es weiter: „… schaffen wir die Möglichkeit der nachträglichen Therapieunterbringung.“ Das ist eigentlich nicht verwunderlich, denn bereits zu Oppositionszeiten wurde dies von der SPD gefordert. Dennoch ist es großer Mist. Zur Therapierunterbringung habe ich in der vergangenen Legislaturperiode an verschiedenen Stellen geredet und kann deshalb auch hier darauf verweisen. Es bleibt dabei: hier soll das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und die nachträgliche Sicherungsverwahrung durch die Hintertür wieder eingeführt werden.

Noch unklar ist, in welche Richtung folgende Aussage auf Seite 146 gehen wird. „Wir wollen das allgemeine Strafverfahren und das Jugendstrafverfahren unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze effektiver und praxistauglicher ausgestalten.“ Ich lass mich gern vom Gegenteil überzeugen, aber effektiver und praxistauglicher liest sich für mich wie Einschränkung von Rechten. Und der nächste fatale Vorschlag folgt: “ … das Fahrverbot als eigenständige Sanktion im Erwachsenen- und Jugendstrafrecht einführen.“ Mit meinem Kollegen Thomas Lutze habe ich zu diesem Unsinn bereits am 22.11.2013 alles wichtige gesagt.

Die Vorratsdatenspeicherung wird umgesetzt. Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungsdaten umsetzen. Dadurch vermeiden wir die Verhängung von Zwangsgeldern durch den EuGH. … Auf EU-Ebene werden wir auf eine Verkürzung der Speicherfrist auf drei Monate hinwirken.“ Die Begründung ist eigentlich lächerlich. Um der Verhängung von Zwangsgeldern zu entgehen. Dabei wird in Kürze entschieden, ob die EU-Richtlinie überhaupt Bestand haben wird.

Als letztes will ich noch kurz auf den Passus zur SED-Opferrente eingehen. Es ist gut, dass diese erhöht werden soll. Es ist schlecht, dass sie nach wie vor als „soziale Ausgleichsleistung“ gewährt werden soll. Bereits in der letzten Legislaturperiode hat DIE LINKE genau das kritisiert.

3) Zusammenfassung

Müsste ich den Koalitionsvertrag aus meiner fachpolitischen Sicht bewerten würde ich bei der Netzpolitik zu einem Einerseits- und Andererseits kommen. In der Rechtspolitik  finde ich das Ergebnis inakzeptabel.

Doch bevor jetzt -insbesondere aus meiner eigenen Partei- heftig Beifall geklatscht wird, will ich mal ein Gedankenspiel aufmachen. Angenommen es gäbe r2g und es gäbe einen Koalitionsvertrag mit (wirklichem) Mindestlohn, Bürgerversicherung, positiven Aspekten zu Rente, Verzicht auf Auslandseinsätze der Bundeswehr und gleiche Rechte für gleichgeschlechtliche Paare. Würde die Mehrheit einen Koalitionsvertrag ablehnen, wenn die SPD-Rechtspolitiker/innen auf ihrer Herzensangelegenheit nachträgliche Therapieunterbringung bestehen würden? Ich glaube, die Frage kann sich jede/r selbst beantworten. Und es wäre dann auch egal, dass ich tobend und für ein „Nein“ werbend durch die Gremien laufen würde.

Jenseits der Fachpolitik sollten sich die Seiten 184/185 angesehen werden. Nicht um hier irgendjemanden vorzuführen, sondern weil ähnliche Formulierungen sich vermutlich in allen Koalitionsverträgen befinden und damit ein Grundpropblem der parlamentarischen Demokratie zeigen. „Im Bundestag und in allen von ihm beschickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Das gilt auch für Fragen, die nicht Gegenstand der vereinbarten Politik sind. Wechselnde Mehrheiten sind ausgeschlossen.“ Angesichts dieser Gegebenheiten und der Möglichkeit das jeder jeden vorführen kann, sollten die beliebten Spielchen unterlassen werden, alte Anträge der jeweiligen Fraktionen erneut einzubringen. In meinen Augen führt das zu Politikverdrossenheit.

Bemerkenswert finde ich abschließend folgende Passage: „CDU, CSU und SPD werden die Minderheitenrechte im Bundestag schützen. Auf Initiative der Koalitionspartner wird der Bundestag einen Beschluss fassen, der den Oppositionsfraktionen die Wahrnehmung von Minderheitenrechten ermöglicht sowie die Abgeordneten der Opposition bei der Redezeitverteilung angemessen berücksichtigt.“ Auf die Umsetzung bin ich gespannt, ich hoffe die sieht anders aus als die gestrige Einführung eines Hauptausschuss.

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